BT-Drucksache 17/430

Zur Praxis und zum Rechtssystem gruppenbezogener Aufenthalts- bzw. Abschiebungsregelungen

Vom 13. Januar 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/430
17. Wahlperiode 13. 01. 2010

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Sevim Dag˘delen, Wolfgang Neskovic,
Jens Petermann, Raju Sharma und der Fraktion DIE LINKE.

Zur Praxis und zum Rechtssystem gruppenbezogener Aufenthalts- bzw.
Abschiebungsregelungen

Das deutsche Aufenthaltsrecht sieht für humanitäre oder politische Sonderrege-
lungen, z. B. bei Krieg und Bürgerkrieg, die Möglichkeit der allgemeinen Aus-
setzung von Abschiebungen in konkrete Herkunftsländer und/oder von be-
stimmten Personengruppen vor (Abschiebestopp nach § 60a Absatz 1 des Auf-
enthaltsgesetzes (AufenthG); dem entsprach § 54 des vormaligen Ausländerge-
setzes (AuslG)). Die obersten Landesbehörden können einen solchen
Abschiebestopp seit 1991 nur für längstens sechs Monate beschließen. Darüber
hinaus bedarf eine Aufenthaltsgewährung „zur Wahrung der Bundeseinheitlich-
keit […] des Einvernehmens mit dem Bundesministerium des Innern“ (§ 23
Absatz 1 AufenthG; dem entsprach § 32 AuslG). Diese Regelung zur „Bundes-
einheitlichkeit“ wird in der Praxis als „Einstimmigkeitserfordernis“ interpre-
tiert, solche Vereinbarungen im Konsens des Bundes und der Länder kommen
höchst selten zustande. Die Bundesländer machen zudem von ihrer Kompetenz
zu Abschiebestoppregelungen nach § 60a Absatz 1 AufenthG nur im Ausnah-
mefall Gebrauch.

Eine spezielle Regelung zur Aufnahme von Kriegs- und Bürgerkriegsflücht-
lingen gibt es seit Inkrafttreten des Aufenthaltsgesetzes am 1. Januar 2005
nicht mehr. Die Bürgerkriegsregelung nach § 32a des alten Ausländergesetzes
wurde in den zwölf Jahren ihres Bestehens nur ein einziges Mal angewandt
(1999 bei der Aufnahme von Flüchtlingen aus dem Kosovo), obwohl die SPD
ihre Zustimmung zur erheblichen Einschränkung des Grundrechts auf Asyl im
Jahr 1993 von der Einführung einer solchen Regelung abhängig gemacht
hatte.

Schließlich wurde mit § 24 des Aufenthaltsgesetzes die Richtlinie der Euro-
päischen Union zum vorübergehenden Schutz im Falle eines Massenzustroms
aus dem Jahr 2001 in deutsches Recht umgesetzt. Angewandt wurde diese Vor-
schrift bis heute allerdings nicht.

Der gruppenbezogene Abschiebungsschutz ist damit in Deutschland nur noch
von geringer Bedeutung. Die Betroffenen werden im Regelfall auf individuelle

(Asyl-)Prüfungsverfahren verwiesen, obwohl der Vorteil allgemeiner politischer
Regelungen in der Entlastung der Behörden und in einer unkomplizierten und
schnellen Gewährung vorläufigen Schutzes für die Betroffenen liegt.

Im individuellen Prüfverfahren der Asyl- oder Ausländerbehörden wird ein
Schutz bei allgemeinen Gefährdungen, z. B. infolge von Krieg und Bürger-
krieg, nur unter engen Bedingungen gewährt – auch wenn die diesbezüglichen

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Anforderungen nicht mehr so streng sind seitdem die Bestimmungen der so
genannten Qualifikations-Richtlinie der Europäischen Union und die Recht-
sprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) die bis dahin geltende rigide
Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts verdrängt haben. Letztere Ein-
schätzung wird von der Bundesregierung zwar bestritten (vgl. Bundestags-
drucksache 17/53, Frage 4 Buchstabe f), die Anerkennungsquote beim subsidi-
ären Schutz ist seit der maßgeblichen EuGH-Entscheidung (d. h. ab März 2009)
jedoch auffällig erhöht und beträgt durchschnittlich 5,5 Prozent, während sie im
Vergleichszeitraum des Vorjahres mit 2,8 Prozent nur etwa halb so hoch war
und auch im langjährigen Vergleich durchgehend unter 3 Prozent lag (vgl.
ebenda).

Gruppenbezogene Abschiebestopp- oder Aufenthaltsregelungen in relevantem
Ausmaß hat es in der Vergangenheit z. B. für Flüchtlinge aus Bosnien und
Herzegowina, dem Kosovo, Afghanistan und dem Irak gegeben. Maßgeblicher
Entscheidungsgrund für die Innenministerkonferenz (IMK) war dabei nicht
selten das „Fehlen von Flugverbindungen“. Diesen Beschlüssen folgten je-
weils so genannte Rückführungsregelungen, mit denen die zeitliche Reihen-
folge der Abschiebung einzelner Gruppen (Straftäter, Einzelpersonen, Fami-
lien usw.) oder Ausnahmen von Abschiebungen geregelt werden sollten. Die
ursprünglichen zeitlichen Vorgaben dieser Regelungen konnten in der Praxis
jedoch nicht eingehalten werden: So hätte nach den ersten Planungen der In-
nenminister die Abschiebung der bosnischen Flüchtlinge im Grundsatz bis
Ende des Jahres 1997 vollzogen sein müssen – tatsächlich gab es aber noch im
Jahr 2000 gesonderte Bleiberechtsregelungen für diese Flüchtlingsgruppe. Die
Abschiebung von Minderheitenangehörigen aus dem Kosovo wurde von der
IMK bereits im Jahr 2002 eingefordert – erst 2009 wurde damit begonnen. Die
Abschiebung afghanischer Kriegsflüchtlinge wurde von einer Mehrheit der
Bundesländer im Mai 2003 beschlossen, sie begann dann im Jahr 2005 und
wurde angesichts einer sich verschlechternden Sicherheitslage in Afghanistan
nicht wie geplant vollzogen. Der Beginn von Abschiebungen in den Irak wie-
derum wurde im November 2006 verkündet, bis heute finden Abschiebungen
jedoch nur in geringer Zahl statt. Unklar ist vor diesem Hintergrund, wie die
einzelnen Bundesländer derzeit mit ausreisepflichtigen Flüchtlingen aus diesen
Ländern, zu denen es einmal Aufenthalts-, Abschiebestopp- und Rückfüh-
rungsregelungen gab, konkret verfahren.

Sollte der Bundesregierung wegen möglicher Nachfragen an die Bundeslän-
der oder eigener Recherchetätigkeit eine Beantwortung innerhalb von zwei
Wochen nicht möglich sein, erklären die Fragestellerinnen und Fragesteller
hiermit vorsorglich ihr Einverständnis für eine Verlängerung der Beantwor-
tungsfrist nach § 104 Absatz 2 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundes-
tages.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Zu welchen Anordnungen nach § 23 Absatz 1 AufenthG (bzw. § 32 AuslG)
hat das Bundesministerium des Innern seit dem Jahr 2000 sein Einvernehmen
bzw. seine Zustimmung erklärt, welche entsprechenden Ersuchen hat das
Bundesministerium des Innern in dieser Zeit zurückgewiesen, welche Ersu-
chen erledigten sich auf andere Weise oder wurden zurückgezogen (bitte je-
weils einzeln aufführen und insbesondere angeben:

a) Datum des entsprechenden IMK-Beschlusses bzw. der Einverständnis-
erklärung oder eines entsprechenden Ersuchens;

b) betroffene Personengruppe/betroffenes Land;
c) Inhalt des Beschlusses (wesentliche Kernelemente);

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d) Zahl der vom Beschluss Betroffenen, notfalls geschätzt;

e) Initiatoren der Regelung/des Ersuchens, soweit einzelne Bundesländer als
solche benennbar sind:

f) Angaben/Einschätzungen dazu, inwieweit getroffene Vereinbarungen um-
gesetzt wurden)?

2. Welche Aufnahme-, Abschiebestopp- oder Rückführungsregelungen in Be-
zug auf bestimmte Länder oder Personengruppen gelten aktuell und/oder sind
für die Praxis der Ausländerbehörden bedeutsam (bitte jeweils einzeln auffüh-
ren und insbesondere angeben:

a) Datum des ursprünglichen IMK-Beschlusses;

b) Stand des Verfahrens bzw. der Umsetzung ursprünglicher Beschlüsse –
welche konkreten Regeln oder Vorgaben gelten aktuell;

c) Bewertung und Einschätzung des weiteren Verfahrens in der Zukunft mit
Zeitplanung)?

3. Welche konkreten ermessensleitenden Regelungen und Vorgaben zur Durch-
führung von Abschiebungen gibt es derzeit zu den Ländern

a) Irak,

b) Afghanistan,

c) Kosovo,

d) Guinea,

e) Iran

und, soweit der Bundesregierung bekannt, auch zu anderen Ländern (bitte
auch nach Bundesländern differenzieren, soweit es Unterschiede im Verfah-
ren bzw. in der Praxis gibt)?

4. Wie viele Personen aus den in der vorherigen Frage benannten Ländern leben
jeweils in der Bundesrepublik Deutschland (bitte an die Buchstabendifferen-
zierung der Frage 3 halten und jeweils differenzieren nach:

a) Bundesländern;

b) Niederlassungserlaubnis, Aufenthaltserlaubnis, Duldung, vollziehbare
Ausreisepflicht (ohne Duldung);

c) Aufenthalt seit mehr bzw. weniger als sechs Jahren)?

5. Wie viele Personen aus den in den vorherigen Fragen benannten Ländern
wurden in den Jahren seit 2000 abgeschoben bzw. sind „freiwillig“ ausge-
reist (bitte an die Buchstabendifferenzierung der Frage 3 halten und jeweils
differenzieren nach Bundesländern, Jahren, Ausreise/Abschiebung, Ausreise
oder Abschiebung ins Herkunftsland oder in ein anderes Land)?

6. Welche Abschiebestoppregelungen einzelner oder mehrerer Bundesländer
seit dem Jahr 2000 sind der Bundesregierung bekannt, und zu welchen dieser
Regelungen und mit welchem Ergebnis wurde der Versuch unternommen,
hieraus eine bundesweite Abschiebestopp- bzw. eine bundesweite Aufnahme-
regelung zu machen (bitte einzeln aufführen und jeweils benennen: Datum
des Beschlusses, Zeitraum der Regelung, beteiligtes Bundesland/Bundeslän-
der, betroffene Personengruppe/Herkunftsland, ungefähre Zahl der Betroffe-
nen)?

7. Welche konkretisierende Rechtsprechung zum Verhältnis und zur Anwen-
dung von § 60a Absatz 1 und § 23 Absatz 1 AufenthG (bzw. zu den entspre-

chenden Regelungen nach dem alten Ausländergesetz) gibt es?

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a) Was konkret ist unter „Bundeseinheitlichkeit“ und „Einvernehmen“ in
§ 23 Absatz 1 Satz 3 des Aufenthaltsgesetzes zu verstehen?

b) Wieso wird „Bundeseinheitlichkeit“ als Einstimmigkeitserfordernis aus-
gelegt, obwohl dies zur Folge hat, dass es einem einzelnen Bundesland
möglich ist, eine ansonsten bundeseinheitliche Regelung durch sein Veto
zu verhindern?

c) Welchen Sinn macht das Streben nach „Bundeseinheitlichkeit“ bei huma-
nitären Entscheidungen in einem ansonsten föderalen System angesichts
des Umstands, dass hierdurch von einzelnen Bundesländern politisch ge-
wollte humanitäre Regelungen aufgrund des Einstimmigkeitserfordernis-
ses oftmals verhindert oder gar nicht erst angestrebt werden, und wie be-
wertet die Bundesregierung dies (bitte ausführen)?

d) Wie wird ein Festhalten am Prinzip der „Bundeseinheitlichkeit“ bzw. der
Einstimmigkeit begründet, insbesondere vor dem Hintergrund, dass spä-
testens nach Einfügung der Verteilungsregelung des § 15a im Aufenthalts-
gesetz keinerlei „Sogwirkung“ durch Abschiebestopp- oder Aufenthalts-
regelungen einzelner Bundesländer entstehen kann, weil alle Asylsuchen-
den oder unerlaubt eingereisten Personen auf die einzelnen Bundesländer
verteilt werden, ohne dass sie auf diese Verteilungsentscheidung z. B. in
Hinblick auf etwaige politische Sonderregelungen Einfluss nehmen könn-
ten?

e) Wieso wird in den Verwaltungsvorschriften zum Aufenthaltsgesetz gere-
gelt, dass selbst bei einem bis zu sechsmonatigen Abschiebestopp nach
§ 60a Absatz 1 AufenthG einzelne Bundesländer vorab den Bund und die
anderen Länder „konsultieren“ sollen, und wieso soll das Bundesministe-
rium des Innern über ein Ersuchen nach seinem Einvernehmen nach § 23
Absatz 1 AufenthG erst dann inhaltlich entscheiden, wenn mindestens elf
Bundesländer dies beantragen, obwohl der Inhalt und Wortlaut der Para-
grafen für eine solche Einschränkung nichts hergeben?

f) Falls eine entsprechende Vereinbarung der Innenminister vom 29. März
1996 der Grund hierfür sein sollte, wie ließe sich eine solche einschrän-
kende Anwendung des Aufenthaltsgesetzes infolge eines Beschlusses der
Exekutive rechtfertigen?

g) Ist es zutreffend, dass die besagte Vereinbarung der Innenminister vom
29. März 1996 als eine „Gegenleistung“ der SPD-regierten Länder für ein
„Entgegenkommen“ der unionsregierten Länder bei der damaligen Alt-
fallregelung interpretiert werden kann (bitte ausführen), und wenn ja,
warum wird an einer eingeschränkten Anwendung der Regelungen zum
gruppenbezogenen Abschiebungsschutz festgehalten, obwohl es seitdem
mehrere weitere Altfallregelungen im Konsens der Innenminister gege-
ben hat?

8. Wie bewertet die Bundesregierung insgesamt die Wirksamkeit, die praktische
Anwendung und Rechtssystematik des gruppenbezogenen Abschiebungs-
schutzes in Deutschland, und welchen Änderungsbedarf sieht sie gegebenen-
falls?

9. Für welche Länder oder Regionen innerhalb bestimmter Länder sieht die
Bundesregierung aktuell die Voraussetzungen nach Artikel 15c der EU-Qua-
lifikationsrichtlinie als erfüllt an, und zwar in dem Sinne, dass ungeachtet der
persönlichen Situation von einer erheblichen individuellen Gefahr infolge
willkürlicher Gewalt bei einer Rückkehr in das Herkunftsgebiet ausgegangen
wird?
a) Wie hoch ist die Quote des gewährten subsidiären Schutzes für die Län-
der Irak, Afghanistan, Somalia, Russische Teilrepublik Tschetschenien,

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Kongo, Sudan, Pakistan, Sri Lanka und Kolumbien seit März 2009, und
wie hoch war sie im Jahr 2008 (bitte jeweils nach den einzelnen Ländern
getrennt angeben)?

b) Welchen ungefähren Anteil bei der Gewährung subsidiären Schutzes
haben die Gründe drohende Folter/unmenschliche oder erniedrigende
Behandlung, Gefahr der Todesstrafe, erhebliche Gefahren für Leib und
Leben infolge von Krieg oder Bürgerkrieg oder sonstige?

Berlin, den 13. Januar 2010

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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