BT-Drucksache 17/4193

60 Jahre Charta der deutschen Heimatvertriebenen - Aussöhnung vollenden

Vom 15. Dezember 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/4193
17. Wahlperiode 15. 12. 2010

Antrag
der Abgeordneten Klaus Brähmig, Stephan Mayer (Altötting), Wolfgang Börnsen
(Bönstrup), Erika Steinbach, Thomas Strobl (Heilbronn), Peter Altmaier, Dorothee
Bär, Dr. Reinhard Brandl, Gitta Connemann, Ingrid Fischbach, Michael Frieser,
Reinhard Grindel, Hermann Gröhe, Monika Grütters, Ansgar Heveling, Michael
Kretschmer, Dr. Günter Krings, Maria Michalk, Stefan Müller (Erlangen), Beatrix
Philipp, Christoph Poland, Anita Schäfer (Saalstadt), Johannes Selle, Marco
Wanderwitz, Dagmar Wöhrl, Volker Kauder, Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) und der
Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Patrick Kurth (Kyffhäuser), Lars Lindemann, Reiner
Deutschmann, Michael Link (Heilbronn), Dr. Rainer Stinner, Serkan Tören, Birgit
Homburger und der Fraktion der FDP

60 Jahre Charta der deutschen Heimatvertriebenen – Aussöhnung vollenden

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Flucht und Vertreibung bestimmten ebenso wie Krieg und Gewaltherrschaft das
20. Jahrhundert. Obwohl Vertreibungen durch internationales Recht geächtet
sind, finden sie selbst in jüngster Zeit statt, wie die Kriege und Konflikte bei-
spielsweise im ehemaligen Jugoslawien Ende der 90er-Jahre oder in der suda-
nesischen Region Darfur seit 2003 zeigen. Vertreibungen geschahen und ge-
schehen weltweit an zahlreichen Orten, von denen jede einzelne zu verurteilen
ist. Die Deutschen nehmen Vertreibungen auch deshalb mit besonderer Sensibi-
lität wahr, weil sie selbst in ihrer jüngeren Geschichte massiv davon betroffen
waren. Daher hat für die Bundesrepublik Deutschland die Erinnerung an die
Vertreibung nicht nur gedenkenden Charakter, sondern ist auch Mahnung für
Schuld und Leid, für Verantwortung und Versöhnung gegenüber allen Genera-
tionen und Menschen, insbesondere über Grenzen hinweg.

Deutschland erlebt nicht zuletzt unter dem Eindruck der vertriebenen Kosovo-
Albaner seit Anfang 2000 eine veränderte Sensibilität sowie ein neues gesell-
schaftliches Interesse an dem Thema Vertreibung und den Ereignissen am Ende
des Zweiten Weltkrieges sowie unmittelbar danach. Für Millionen Mitbürgerin-
nen und Mitbürger ist dies eine Schicksalserfahrung, die bis in die Gegenwart
nachwirkt. Dahinter steht die Erkenntnis, dass die Generation der Kriegskinder

noch heute weit stärker als bislang angenommen unter den damaligen Erlebnis-
sen leidet und diese erst mit Ablauf des Berufslebens aufarbeitet. Unverarbei-
tete Traumata werden sogar, das belegen wissenschaftliche Untersuchungen, an
die nächste Generation weitergegeben. Um die Geschichte der eigenen Familie
besser verstehen zu können, begeben sich auch die Enkel von Vertriebenen ver-
stärkt auf Spurensuche.

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Alle Bundesregierungen haben das Schicksal der Vertriebenen und ihre positive
Funktion bei der Normalisierung des Verhältnisses zu den östlichen Nachbar-
ländern anerkannt. Seit der deutschen Wiedervereinigung ist zudem die Aus-
grenzungspolitik der SED gegenüber den Vertriebenen, die in der DDR 40 Jahre
lang als „Umsiedler“ tabuisiert wurden, vollständig überwunden. Der Deutsche
Bundestag bekräftigt vor diesem Hintergrund den Entschließungsantrag zum
fünfzigsten Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges (Bundestagsdruck-
sache 13/1566), in dem der Beitrag der deutschen Heimatvertriebenen zum Wie-
deraufbau in Deutschland und zum Frieden in Europa ausdrücklich gewürdigt
wird.

Wesentlicher Meilenstein auf dem Weg zur Integration und Aussöhnung ist die
Charta der deutschen Heimatvertriebenen vom 5. August 1950, welche die Ver-
treter der deutschen Vertriebenen in Stuttgart zu ihrem „Grundgesetz“ erklär-
ten. Obgleich die Kategorien Rache und Vergeltung bei aktuellen Konflikten
noch immer eine verhängnisvolle Rolle spielen, schlossen die Vertriebenen
diese in der Charta bereits fünf Jahre nach Kriegsende explizit aus. Sie ver-
pflichteten sich darin zur Schaffung eines geeinten Europas – in einer Zeit, als
die „Vision Europa“ bei den Parteien noch nicht einmal als Ziel ausgegeben
wurde – sowie zum Wiederaufbau Deutschlands. Das Bestreben der Vertriebe-
nen auf das Recht auf die Heimat hielt später Einzug in internationalen Rege-
lungen der Friedenssicherung wie die Entschließung der Menschenrechtskom-
mission der Vereinten Nationen vom 17. April 1998. Hinter dem Postulat der
gerechten Verteilung der Kriegslasten stand das Ziel, diese innerhalb der deut-
schen Bevölkerung gleichmäßiger zu verteilen, da die Menschen von den Fol-
gen des Krieges unterschiedlich betroffen waren. Urheber des Dokuments wa-
ren die Vorläuferorganisationen des Bundes der Vertriebenen, der Zentralver-
band vertriebener Deutscher (ZvD) und die Vereinigten Ostdeutschen Lands-
mannschaften (VOL), welche sich bereits 1949 auf die Ausarbeitung einer
„Magna Charta“ der Vertriebenen verständigt hatten.

Anlässlich des 60. Jahrestages der Charta macht sich der Deutsche Bundestag
die Worte des Bundestagspräsidenten Prof. Dr. Norbert Lammert zu eigen: „Die
Charta der Heimatvertriebenen aus dem Jahr 1950 gehört zu den Gründungs-
dokumenten der Bundesrepublik Deutschland, sie ist eine wesentliche Voraus-
setzung ihrer vielgerühmten Erfolgsgeschichte. Die Charta ist deshalb von his-
torischer Bedeutung, weil sie innenpolitisch radikalen Versuchungen den
Boden entzog, außenpolitisch einen Kurs der europäischen Einigung und Ver-
söhnung unter Einbeziehung der mittel- und osteuropäischen Nachbarn vorbe-
reitete und wirtschafts- und gesellschaftspolitisch nicht nur die Integration von
Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen, sondern über sie hinaus einen bei-
spiellosen Wirtschaftsaufbau ermöglichte, der weltweit als ,deutsches Wirt-
schaftswunder‘ Anerkennung gefunden hat.“

Prof. Dr. Norbert Lammert erklärte darüber hinaus, dass sich die wirkliche
Bedeutung, die Größe dieser Charta, erst und nur aus der Kenntnis der Um-
stände ihrer Entstehung ergebe.

Auch 65 Jahre nach Kriegsende zeigt sich bei der Bewertung der Charta – wie
bei der Debatte um das angemessene Gedenken an Flucht und Vertreibung ins-
gesamt – noch immer ein grundlegendes Dilemma, das der Historiker Karl
Schlögel in dem Eröffnungsvortrag der Konferenz „Im Jahrhundert der Flücht-
linge“ an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt 1999 charakterisierte:
„Bis heute liegt im Verhältnis zwischen Flüchtlingen und deutscher Normal-
Gesellschaft eine Spannung. Wie sollte es anders sein! Bis heute bestehen un-
aufgeklärte Ressentiments, eine Kultur des Verdachts auf beiden Seiten und
nach beiden Seiten. Der Kern dieses Ressentiments ist das Unvermögen, dem

Vertreibungsvorgang gerecht zu werden, oder anders ausgedrückt: Wie spricht
man über ein Großverbrechen im Schatten eines anderen, noch größeren Groß-

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verbrechens?“. Karl Schlögel plädierte bereits damals für eine neue Sicht auf
die „kulturelle Katastrophe“ der Vertreibung Deutscher und meinte, es müsse
möglich sein, über beides – Vertreibung und Holocaust – sprechen zu können,
ohne dass der Revisionismus-Vorwurf ertöne und ohne die Dimension des an-
deren Verbrechens verharmlosen zu wollen.

Daneben ist es längst überfällig, die Stigmatisierung der Opfer von Flucht und
Vertreibung sowie deren Nachkommen zu beenden. So hat der Bundesminister
des Innern Otto Schily ebenfalls 1999 auf dem Tag der Heimat eingeräumt, dass
die politische Linke zeitweise über die Vertreibungsverbrechen und das Leid der
Vertriebenen hinweggesehen habe: „Sei es aus Desinteresse, sei es aus Ängst-
lichkeit vor dem Vorwurf, als Revanchist gescholten zu werden, oder sei es in
dem Irrglauben, durch Verschweigen und Verdrängen eher den Weg zu einem
Ausgleich mit unseren Nachbarn im Osten zu erreichen. Inzwischen wissen wir,
dass wir nur dann, wenn wir den Mut zu einer klaren Sprache aufbringen und der
Wahrheit ins Gesicht sehen, die Grundlage für ein gutes und friedliches Zusam-
menleben finden können.“

Die Erinnerung an die damaligen Ereignisse verstellt nicht den Blick auf die
historischen Fakten. Die Vertreibung der Deutschen steht in einem unauflösba-
ren Zusammenhang mit der außer Frage stehenden deutschen Kriegsschuld.
Aufbauend auf dieser Tatsache muss gelten: Jede Vertreibung ist Unrecht. Sie
darf weder moralisch noch rechtlich gegen eine vorangegangene Schuld ande-
rer aufgerechnet werden.

Der Deutsche Bundestag unterstreicht daher erneut den mit großer Mehrheit
gefassten Beschluss des 16. Deutschen Bundestages 2008 zur Errichtung der
„Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ in Berlin, um im Geiste der Versöh-
nung die Erinnerung und das Gedenken an Flucht und Vertreibung im 20. Jahr-
hundert im historischen Kontext des Zweiten Weltkrieges und seiner Folgen
wachzuhalten. Dabei werden Flucht und Vertreibung der Deutschen einen
Hauptakzent der Dauerausstellung bilden: Der Heimatverlust von circa 14 Mil-
lionen Deutschen ist auch Mahnmal für alle Vertreibungen der Gegenwart. Ge-
rade für die jüngere Generation, die bisher mit dem Thema nicht in Berührung
kam, ist dies von Bedeutung, um urteilsfähig bleiben oder werden zu können.

Ferner muss das Gedenkvorhaben des Bundes die Aufgabe haben, den Aus-
tausch der jungen Menschen über die Grenzen hinweg zu fördern. Wird die
Jugend nicht an dieses Erbe herangeführt, geht das lebendige Gedächtnis ver-
loren. So gilt es ebenfalls, an die Vertreibung von über einer Million Polen aus
den damaligen polnischen Ostgebieten und hunderttausender Ukrainer im Zuge
der von der Sowjetunion erzwungenen „Westverschiebung“ Polens zu erinnern.
Auch der Vertreibung anderer Völker wie der Balten, Italiener, Finnen oder
Krimtataren am Ende des Zweiten Weltkrieges muss in diesem Zusammenhang
Rechnung getragen werden. Für den Transfer der Erinnerung über die Erlebnis-
generation hinaus, bildet außerdem die wissenschaftliche und archivalische
Verankerung der Thematik eine wichtige Grundlage und ist ebenso für eine
grenzüberschreitende Verständigung über die Vergangenheit elementar. Zudem
verstehen sich die deutschen Heimatvertriebenen als Mittler und Brückenbauer
zwischen Deutschen, Polen, Tschechen und allen anderen östlichen Nachbarn,
was sich in zahlreichen Versöhnungsprojekten niederschlägt. Die Vertreibung
der Deutschen und die Stuttgarter Charta sind insbesondere ein Beitrag dazu,
das Bewusstsein und die Urteilsfähigkeit der Menschen gegenüber den Vertrei-
bungen in der gesamten Welt zu schärfen.

Der Deutsche Bundestag würdigt gleichermaßen die wichtigen Zeichen der
Versöhnung aus den Ländern, in denen die Vertreibung damals stattgefunden
hat und welche die ersten Opfer der deutschen Aggression waren. Dazu gehört

der Brief der polnischen Bischöfe an die deutschen katholischen Bischöfe von
1965 mit den mutigen und wegweisenden Worten: „Wir vergeben und bitten

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um Vergebung“. Diese Geste hat sowohl die Vertriebenen als auch die deutsche
Politik bestärkt, Erinnerung und Versöhnung nicht im Gegensatz zu sehen, son-
dern das Gedenken an die tragische Vergangenheit als einzig gangbare Brücke
für eine gemeinsame Zukunft zu begreifen.

Der Deutsche Bundestag erkennt eingedenk der Tatsache, dass die Vertriebenen
die Last der Kriegsschuld in besonderer Weise zu tragen hatten und angesichts
des 60. Jubiläums der Stuttgarter Charta die Verpflichtung an, dass Flucht und
Vertreibung von der gesamten Gesellschaft als Teil der deutschen Geschichte
begriffen wird. Ein Zeichen der Verbundenheit mit den Vertriebenen ist not-
wendig, um die Versöhnung zu vollenden und die Völkerverständigung zu stär-
ken.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

– die Aussöhnung der Deutschen mit sich selbst beim Kapitel Vertreibung zu
unterstützen, die Versöhnung mit den östlichen Nachbarn voranzubringen
und sich im Geiste der Charta weiter für ein geeintes Europa einzusetzen;

– im Hinblick auf die immer weniger zur Verfügung stehenden Zeitzeugen
nicht nur deren Berichte systematisch zu erfassen, wie es gegenwärtig in
einem Projekt am Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen
im östlichen Europa geschieht, sondern auch vorhandene Forschungslücken
durch Interviews zeitnah zu schließen;

– die akademische Förderung der Kultur und Geschichte der Deutschen im
östlichen Europa auf eine Basis zu stellen und ein Konzept für die Nach-
wuchsförderung vorzulegen, wie etwa mit den in Deutschland ausgelaufe-
nen Stiftungsprofessuren zu verfahren ist;

– darüber zu berichten, ob und in welchem Maße sich die Geschichte der ehe-
maligen deutschen Ostgebiete aus bundesdeutschen Archiven erschließen
lässt und zu prüfen, ob entsprechende Archivalia in das dem Kulturgut-
schutz dienenden Programm des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und
Katastrophenhilfe zur Sicherungsverfilmung einbezogen werden bzw. wer-
den können;

– die „Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ zügig voranzubringen, um in
einem überschaubaren Zeitraum die vorgesehene Dauerausstellung präsen-
tieren zu können und darüber hinaus einen Beitrag zur Vermittlung von For-
schungsergebnissen und wissenschaftlichen Erkenntnissen zu leisten;

– zu prüfen, inwiefern für die Besucher der Dokumentationsstätte des Bundes
eine Gedenkmöglichkeit eingerichtet werden kann, deren Angehörige bei
Flucht und Vertreibung an namenlosem Ort verstarben;

– zu prüfen, wie dem Anliegen der Initiative des Bundesrates (Bundesrats-
drucksache 460/03) Rechnung getragen werden kann, den 5. August zum
bundesweiten Gedenktag für die Opfer von Vertreibung zu erheben.

Berlin, den 15. Dezember 2010

Volker Kauder, Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) und Fraktion
Birgit Homburger und Fraktion

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