BT-Drucksache 17/4184

zu der Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin zum Europäischen Rat am 16./17. Dezember 2010 in Brüssel

Vom 15. Dezember 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/4184
17. Wahlperiode 15. 12. 2010

Entschließungsantrag
der Abgeordneten Ulrich Maurer, Dr. Barbara Höll, Dr. Axel Troost, Dr. Diether
Dehm, Alexander Ulrich, Andrej Hunko, Michael Schlecht und der Fraktion
DIE LINKE.

zu der Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin

zum Europäischen Rat am 16./17. Dezember 2010 in Brüssel

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Die Krise der EU ist entscheidend durch die verfehlte Wirtschafts- und
Finanzpolitik der Regierungen Kohl/Kinkel, Schröder/Fischer, Merkel/
Steinmeier und Merkel/Westerwelle verursacht. Diese Regierungen haben
durch Sozialabbau, Lohnsenkungen, Steuersenkungen für Reiche und Unter-
nehmen, Rentenkürzungen und die Schaffung eines Niedriglohnsektors der
deutschen Exportindustrie enorme Wettbewerbsvorteile verschafft. Dadurch
wurde die Kaufkraft und damit die Binnennachfrage geschwächt sowie mas-
siv von unten nach oben umverteilt. Die Krise des Euro ist die direkte Folge
der Konstruktionsfehler der Europäischen Währungsunion. Ohne eine auf
Angleichung angelegte Koordination der Wirtschafts- und Sozialpolitik
kann eine Währungsunion keinen Bestand haben. Die von den deutschen
Bundesregierungen verfolgte Politik der Exportorientierung hat stattdessen
die wirtschaftlichen Ungleichgewichte in Europa erheblich vertieft und da-
mit die Krise der Eurozone provoziert. Erheblich verschlimmert wurde das
Ausmaß der Krise

– erstens durch die auch von deutschen Bundesregierungen vorangetrie-
bene Deregulierung der Finanzmärkte, die den Finanzanlegern besonders
mächtige Spekulationsinstrumente wie z. B. ungedeckte Kreditausfall-
versicherungen (CDS) in die Hände gab, und

– zweitens durch das mit Hilfe der massiven Umverteilung von unten nach
oben aufgeblähte und auf die Finanzmärkte gelenkte, Rendite suchende
Kapital.

2. Die aktuelle Politik der Bundesregierung ist antieuropäisch, nationalistisch
und mittelfristig gegen die eigene Bevölkerung gerichtet. Die Regierung

Merkel/Westerwelle verweigert die notwendigen Lösungen und knüpft
Kreditzusagen an Bedingungen, die zwingend zur Verarmung der Bevölke-
rung in den betroffenen Ländern und damit zu einem wirtschaftlichen Nieder-
gang und einer weiteren Verschärfung der Schuldenkrise führen. Der damit
bewirkte Ruin anderer Volkswirtschaften wird in den nächsten Jahren nicht
zuletzt auf Deutschland zurückschlagen, da diese Volkswirtschaften unsere
Handelspartner sind. Durch die massive wirtschaftliche Drangsalierung der

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betroffenen Länder schürt die Bundesregierung in vielen europäischen
Ländern Stimmung gegen die Bundesrepublik Deutschland und spielt anti-
europäischen Populisten – im Ausland und in Deutschland – in die Hände.

3. Der auch von der Bundesregierung getragene Entwurf der Schlussfolgerun-
gen für den Europäischen Rat am 16./17. Dezember 2010 sieht eine Ergän-
zung des Artikels 136 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen
Union (AEUV) um folgende Sätze vor: „Die Mitgliedstaaten, deren Wäh-
rung der Euro ist, können einen Stabilitätsmechanismus einführen, der die
Stabilität der Euro-Zone als Ganzes sichert. Die Bewilligung finanzieller
Hilfen wird dabei unter strikte Bedingungen gestellt.“ Das wäre eine Rege-
lung, die außerhalb des Vertragsrechts zu Vertragsänderungen und Vertrags-
ergänzungen ermächtigen würde. Das verstieße nicht nur gegen die EU-Ver-
träge. Eine Mitwirkung deutscher Staatorgane daran wäre auch nicht mit
dem Grundgesetz vereinbar.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. die Binnennachfrage in Deutschland durch massive Lohnerhöhungen, höhere
Sozialleistungen und Renten, erhöhte öffentliche Investitionen sowie die Ein-
führung eines gesetzlichen Mindestlohns nachhaltig zu stärken. Dies wird zu
einer ausgeglicheneren Leistungsbilanz und damit zum Abbau der bestehen-
den Ungleichgewichte im Euroraum führen;

2. die Spekulation gegen immer mehr Staaten des Euroraums erfordert Sofort-
maßnahmen, um dieser den Nährboden zu entziehen. Erforderlich ist ein
Mix aus kurzfristigen Maßnahmen:

a) Ausweitung des Ankaufs von Staatsanleihen durch die Europäische Zen-
tralbank (EZB),

b) Auflage von Anleihen, die durch alle Staaten des Euroraums garantiert
werden,

c) direkte Vergabe von Krediten der EZB an die betroffenen Staaten zu den
Konditionen, die die EZB bei Ausleihungen an den Bankensektor ge-
währt;

3. von dem Vorhaben in dem Entwurf der Schlussfolgerungen für den Euro-
päischen Rat Abstand zu nehmen und stattdessen in den Organen der Euro-
päischen Union die Einleitung eines ordentlichen Vertragsänderungsverfah-
rens unter Einberufung eines Konvents zu fordern und durchzusetzen, damit
die EU und ihre Mitgliedstaaten die Möglichkeit erhalten, die gegenwärti-
gen und zukünftigen wirtschaftlichen, finanziellen und sozialen Probleme zu
meistern:

a) Um die erforderliche Regulierung des Kapital- und Zahlungsverkehrs zu
ermöglichen, bedarf es einer grundlegenden Reform des Artikels 63
AEUV.

b) Artikel 125 AEUV ist in der Weise zu verändern, dass solidarische Hilfe
für einzelne Mitgliedstaaten möglich wird.

c) Der in Artikel 126 AEUV geregelte Stabilitäts- und Wachstumspakt
(SWP) wird durch einen Pakt für nachhaltige Entwicklung, Vollbeschäfti-
gung, soziale Sicherheit und Umweltschutz ersetzt. Dieser Pakt schließt
insbesondere die Gewährleistung eines außenwirtschaftlichen Gleich-
gewichts ein.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/4184

d) Innerhalb der EU wird eine Koordinierung der Wirtschafts-, Geld-, Lohn-
und Finanzpolitik der Mitgliedstaaten verankert. Diese neue europäische
Wirtschaftsregierung soll den wirtschaftlichen Nationalismus über-
winden. Die Artikel 127, 130 und 282 AEUV werden so geändert, dass
die EZB in die Politik der Wirtschaftsregierung eingebunden werden
kann.

e) Artikel 123 AEUV wird so reformiert, dass die Europäische Zentralbank
direkt Kredite an Organe der EU und an Regierung und Gebietskörper-
schaften der Mitgliedstaaten geben kann.

f) Die Festlegung von Mindeststeuersätzen und gemeinsamen Bemessungs-
grundlagen für Unternehmensteuern wird durch eine Ergänzung von
Artikel 113 AEUV ermöglicht.

g) In Artikel 2 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) ist der
Grundsatz der Sozialstaatlichkeit gleichberechtigt neben die Prinzipen
von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu stellen. Dem Vertrag ist ein
rechtswirksames Protokoll über eine „Soziale Fortschrittsklausel“ bei-
zufügen.

h) Die geänderten vertraglichen Grundlagen sind durch Volksabstimmungen
in den Mitgliedstaaten demokratisch zu legitimieren, auch um ein hohes
Maß an Identifikation der Bevölkerung in den Mitgliedstaaten mit der
erneuerten Europäischen Union zu ermöglichen und in Deutschland dafür
die verfassungsrechtlichen Grundlagen zu schaffen.

Berlin, den 15. Dezember 2010

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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