BT-Drucksache 17/4085

zu der zweiten Beratung des Gesetzentwurfs der Fraktionen der CDU/CSU und FDP - Drucksachen 17/3404, 17/4032 - Entwurf eines Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch

Vom 1. Dezember 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/4085
17. Wahlperiode 01. 12. 2010

Änderungsantrag
der Abgeordneten Katja Kipping, Diana Golze, Matthias W. Birkwald,
Heidrun Dittrich, Klaus Ernst, Jutta Krellmann, Cornelia Möhring, Yvonne Ploetz,
Jörn Wunderlich, Sabine Zimmermann und der Fraktion DIE LINKE.

zu der zweiten Beratung des Gesetzentwurfs der Fraktionen der CDU/CSU
und FDP
– Drucksachen 17/3404, 17/4032 –

Entwurf eines Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen
und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch

Der Bundestag wolle beschließen:

Artikel 2 – Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch – wird wie folgt ge-
ändert:

1. Nummer 1 wird wie folgt geändert:

a) In Buchstabe d wird der „Unterabschnitt 5“ wie folgt gefasst:

„Sanktionen
§§ 31 und 32 (weggefallen)“.

b) Buchstabe e wird wie folgt gefasst:

„e) Die Angabe zu § 39 wird wie folgt gefasst:

§ 39 (weggefallen)“.

c) Die bisherigen Buchstaben e bis i werden die Buchstaben f bis j.

d) Buchstabe g wird wie folgt gefasst:

„g) Die Angabe zu § 43 wird wie folgt gefasst:

§ 43 (weggefallen)“.

e) Die bisherigen Buchstaben g bis j werden die Buchstaben h bis k.

2. In Nummer 31 werden die §§ 31 und 32 aufgehoben.

3. Nummer 32 wird wie folgt geändert:
a) § 39 wird aufgehoben.

b) § 43 wird aufgehoben.

Berlin, den 30. November 2010

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Drucksache 17/4085 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Begründung

A. Allgemeines

1. Sanktionen bedeuten eine verfassungswidrige Unterschreitung des men-
schenwürdigen Existenzminimums

Mit Urteil vom 9. Februar 2010 – 1 BvL 1/09 – (NZS 2010, S. 270 ff.) begründet
das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) den Anspruch auf die Gewährleistung
eines menschenwürdigen Existenzminimums mit expliziter Bezugnahme auf die
Menschenwürde. Unscheinbar und schnell überlesen schließt sich an die be-
kannte Formel der neue Satz an: „Art. 1 Abs. 1 GG begründet diesen Anspruch“
(BVerfG, a. a. O., S. 274). Im folgenden Absatz leitet es allein aus Artikel 1 Ab-
satz 1 GG einen Leistungsanspruch aus der Schutzpflicht des Staates her, da „sie
[… die Würde jedes individuellen Menschen …] in Notlagen nur durch materi-
elle Unterstützung gesichert werden kann“. Zudem muss der Leistungsanspruch
so ausgestaltet sein, dass er stets den gesamten existenznotwendigen Bedarf je-
des individuellen Grundrechtsträgers deckt (vgl. BVerfG, a. a. O.). Nach der
Rechtsprechung lässt sich daher festhalten, dass Artikel 1 Absatz 1 Satz 2 des
Grundgesetzes (GG) auch Schutz vor materieller Not begründet. Für die Sank-
tionen fehlt es damit aber an einer Legitimierung durch das Grundgesetz. Für
bisherige Versuche Sanktionen zu begründen, verbleibt kein Raum mehr. Wenn
die Gewährleistung eines Existenzminimums Teil der Menschenwürdegarantie
und der daraus folgenden Schutzpflicht des Staates ist, dann gilt dies in der ent-
wickelten Würdedogmatik absolut. Die Menschenwürde ist nicht abwägungs-
fähig mit anderen Grundrechten und sonstigem Verfassungsrecht (vgl. nur
BVerfG, Urteil vom 15. Februar 2006 – 1 BvR 357/05 –, NJW 2006, S. 751 ff.;
BVerfG, Beschluss vom 14. Dezember 2004 – 2 BvR 1249/04 –, NJW 2005,
S. 656 ff.).

Freilich lässt sich aus der Gewährleistung des Existenzminimums als Teil der
Menschenwürdegarantie keine konkrete Höhe des tatsächlich durch den Sozial-
staat zu leistenden Betrags ableiten (vgl. Wallerath, S. 162). Das BVerfG trennt
daher folgerichtig Anspruchsgrund und Anspruchshöhe und weist Letztere dem
Gestaltungsauftrag nach Artikel 20 Absatz 1 GG zu. Zwangslos ergibt sich dar-
aus, dass jeder Versuch, das so gefundene und auf nachprüfbarer sachlicher
Grundlage ermittelte Existenzminimum, das nach Ausführungen des BVerfG
auch die Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben
umfassen muss, in irgendeiner Form zu unterschreiten unmittelbar in eine Ver-
letzung des Anspruchgrundes umschlägt: ein „bisschen Menschenwürde“ gibt
es nicht.

Mit dem Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum ist daher
eine gesetzliche Regelung unvereinbar, die zu einer Unterschreitung des Exis-
tenzminimums führt. Diese Konsequenz wird aber durch die Sanktionsregelun-
gen im SGB II billigend in Kauf genommen.

2. Das Sanktionsregime ist Ausdruck einer verfehlten Aktivierungsideologie

Die Sanktionsregelungen stellen das Herzstück einer grundrechtswidrigen und
sachlich kontraproduktiven Aktivierungsideologie dar. Mit dieser Ideologie
werden soziale Missstände zu einem Ergebnis individuellen Fehlverhaltens und
fehlender Motivation umgedeutet. Massenerwerbslosigkeit erscheint hier nicht
mehr als das strukturelle Ergebnis des kapitalistischen Wirtschaftssystems, son-
dern als Folge individuellen Verhaltens. Das Sanktionsregime verstärkt die Exis-
tenznot bei den Leistungsberechtigten. Es untergräbt ihre Würde, macht sie zu
Objekten der staatlichen Bürokratien und macht diese gegenüber den Zumutun-

gen ausbeuterischer Arbeitsverhältnisse wehrlos. Die Politik fördert auf diese

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/4085

Weise menschenunwürdige Arbeitsbedingungen und trägt erheblich zu einer
Ausweitung des Niedriglohnsektors bei.

3. Das Sanktionsregime nimmt soziale Verelendung in Kauf und grenzt aus

In der Sanktionspraxis geht es um die Bestrafung von Menschen, die anerkannt
leistungsberechtigt sind und denen die zuständige Behörde ein Fehlverhalten
– Verstoß gegen Meldeauflagen, Vorgaben der Eingliederungsvereinbarung oder
Ablehnung einer zumutbarer Arbeit oder Maßnahme – vorwirft. Nur in wenigen
Fällen ist die Ablehnung einer als zumutbar geltenden Arbeit der Grund der
Sanktion (Bundestagsdrucksache 17/1837, S. 3). Die Sanktionsquote unter den
arbeitslosen SGB-II-Berechtigten lag im Januar 2009 bei 3,7 Prozent, bei
arbeitslosen Leistungsberechtigten unter 25 Jahren bei fast 10 Prozent. Gerade
bei diesen jüngeren Hilfeberechtigen wird nicht nur häufiger, sondern auch deut-
lich drastischer sanktioniert: Bei über einem Drittel der 250 000 in einem Jahr
sanktionierten jungen Leistungsbeziehenden wurden 100 Prozent und mehr des
Regelleistungsbedarfes gekürzt (Zeitraum: April 2008 bis März 2009, vgl. Bun-
destagsdrucksache 16/13991, S. 17 f.).

Über die Auswirkungen der Sanktionen auf die Lebenslagen und die Verhaltens-
weisen der betroffenen Personen gibt es nur wenige Informationen. Nach den
verfügbaren Berichten haben Sanktionierte nur in einem geringen Umfang die
Möglichkeit, die Einbußen durch alternative Einkommensquellen zu über-
brücken. Soziale Verelendung ist daher die Folge: diese zeigt sich beispielsweise
in einer massiven Verschlechterung des Gesundheitszustandes der betroffenen
Personen – insbesondere aufgrund psychischer Belastungen – und einem spür-
baren Anstieg der Wohnungslosigkeit. Insbesondere bei den unter 25-Jährigen
wird die Zunahme der Wohnungslosigkeit in einen ursächlichen Zusammenhang
mit den Hartz-IV-Regelungen gebracht (BAG Wohnungslosenhilfe, Pressemit-
teilung vom 28. Januar 2008). Übereinstimmend dokumentieren Berichte, dass
Sanktionen die Betroffenen in einer äußerst unproduktiven Art und Weise „akti-
vieren“: die Sanktion ziehe einen „Überlebenskampf“ nach sich, der Zeit und
Energie vollständig binde. Viele, insbesondere junge Erwerbslose, brechen ihren
Kontakt zu den zuständigen Behörden ab, wenn sie keine Leistungen mehr be-
kommen. Damit verschwinden diese Personen sowohl aus der Statistik als auch
den öffentlichen Unterstützungssystemen. Teilweise wird auch auf Ausweich-
reaktionen verwiesen wie die Beschaffung des Lebensnotwendigen durch Klein-
kriminalität (Anne Ames: Ursachen und Auswirkungen von Sanktionen nach
§ 31 SGB II, NDV 3/2100, S. 11 ff.; Susanne Götz u. a.: Sanktionen im SGB II.
Unter dem Existenzminimum, IAB Kurzbericht 10/2010; Berliner Kampagne
gegen Hartz IV: Wer nicht spurt, kriegt kein Geld, Sanktionen gegen Hartz- IV- Be-
ziehende. Erfahrungen, Analysen, Schlussfolgerungen. Berlin 2008).

Für eine grundrechtlich geschützte, verlässliche und menschenwürdige Exis-
tenzsicherung sind Sanktionen damit ebenso ungeeignet wie für eine nachhal-
tige soziale Eingliederung.

B. Einzelbegründung

Zu Nummer 2

Da sich der vorliegende Gesetzentwurf bemüht, die Anspruchshöhe exakt am
Existenzminimum auszurichten, sind die in den §§ 31 und 32 SGB II vorgese-
henen Sanktionsnormen nach der vorgenannten Begründung aufzuheben.

Zu Nummer 3

Durch eine in § 43 vorgesehene Aufrechnungsmöglichkeit der Leistungen in

Höhe von bis zu 30 Prozent wird nach der Konzeption des Gesetzentwurfes die

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Grenze des Existenzminimums unterschritten, so dass die Norm aus den einlei-
tenden Erwägungen verfassungswidrig ist.

Nach § 39 haben Widerspruch und Anfechtungsklage – abweichend von der
Grundkonzeption des § 86a Absatz 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) – ins-
besondere gegen Verwaltungsakte, die Leistungen aufheben, zurücknehmen,
widerrufen oder herabsetzen, keine aufschiebende Wirkung. Das heißt, dass die
Entscheidungen ihre Wirkung sofort entfalten und keiner Vollzugshemmung
unterliegen. Vor dem Hintergrund der in der Menschenwürdegarantie veranker-
ten Gewährleistung des Existenzminimums wirft diese Regelung schon im
Lichte des Artikels 19 Absatz 4 GG erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken
auf. Zwar gewährleistet Artikel 19 Absatz 4 GG nicht schlechthin die aufschie-
bende Wirkung, so dass der Gesetzgeber berechtigt ist, Ausnahmen vorzuhalten.
Dem Anspruch auf Gewähr effektiven Rechtsschutzes kann zwar dadurch Rech-
nung getragen, werden, dass – wie in § 86b SGG vorgesehen – Möglichkeiten
zur Anordnung der aufschiebenden Wirkung bestehen. Werden jedoch Leistun-
gen, die das Existenzminimum gewährleisten, (rechtswidrig) entzogen, was im
Hinblick auf die bisherigen praktischen Erfahrungen mehr als wahrscheinlich
ist, steht eine irreparable Verletzung von Artikel 1 Absatz 1 GG im Raum, die so
schwerwiegend ist, dass nachgelagerter Rechtsschutz diese nicht mehr besei-
tigen kann.

Im Übrigen muss das Vollzugsinteresse eines Verwaltungsaktes – dies gilt auch
für den regelnden Gesetzgeber – durch ein besonderes öffentliches Interesse
gerechtfertigt sein, das über das Interesse hinausgeht, das den Verwaltungsakt
selbst rechtfertigt. Ein solches besonderes Interesse ist nicht zu erkennen. Zweck
des § 39 ist rein fiskalischer Natur – er soll die sofortige Einstellung der Zahlun-
gen ermöglichen und somit Überzahlungen vermeiden, deren Rückgewähr
durch den Leistungsempfänger unsicher ist (Wagner, in: jurisPK-SGB II, § 39
Rn. 6).

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