BT-Drucksache 17/3942

Einsatz von Reizstoffen durch Polizeibehörden von Bund und Ländern

Vom 25. November 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/3942
17. Wahlperiode 25. 11. 2010

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Karin Binder, Dr. Dagmar Enkelmann, Jan Korte,
Halina Wawzyniak und der Fraktion DIE LINKE.

Einsatz von Reizstoffen durch Polizeibehörden von Bund und Ländern

Bei Protesten gegen das Bahnhofsprojekt „Stuttgart 21“ am 30. September 2010
sowie den Castortransport ins Zwischenlager Gorleben Anfang November 2010
wurde bei Pfeffersprayeinsätzen der Polizei eine Vielzahl von Demonstran-
tinnen und Demonstranten verletzt. Betroffen waren nach Medienberichten und
Zeugenaussagen ganz überwiegend friedliche Demonstrantinnen und Demonst-
ranten. Auch Fußballfans sind immer wieder Opfer von Reizgaseinsätzen durch
die Polizei.

Typische Symptome bei Reizgaseinsätzen sind Augenreizungen, vorüber-
gehende Blindheit, Atembeschwerden und Schockzustände. Nach einem im
Auftrag der Abgeordneten Karin Binder mit Unterstützung der Wissenschaft-
lichen Dienste des Deutschen Bundestages erstellten Gutachten sind Menschen
mit Atemwegserkrankungen sowie Personen, die Beruhigungsmittel oder
Drogen genommen haben, besonders gefährdet. Bei diesen Personen kann Pfef-
ferspray tödlich wirken. So kam am 23. Juni 2010 ein 32-jährige türkischstäm-
miger Deutscher in Dortmund nach einem Polizeieinsatz, bei dem die Beamten
Pfefferspray einsetzten, zu Tode (vgl. WESTFÄLISCHE RUNDSCHAU Dort-
mund vom 24. Juni 2010, www.derwesten.de/staedte/dortmund/Pfefferspray-
kommt-in- Verruf-id3152508.html). Nach Informationen des Nachrichtenmaga-
zins „DER SPIEGEL“ sollen in der zweiten Jahreshälfte 2009 mindestens
drei Menschen in Deutschland an den Folgen der Einsätze verstorben sein
(vgl. DER SPIEGEL vom 26. Dezember 2009, www.spiegel.de/panorama/justiz/
0,1518,668996,00.html).

Immer wieder warnen auch Wissenschaftler vor tödlichen Nebenwirkungen.
Rechtsmediziner zögen häufig gar nicht erst in Betracht, dass der im Pfeffer-
spray enthaltene Chili-Wirkstoff zum Tod führen könne, heißt es in der Mel-
dung des Magazins „DER SPIEGEL“. Wissenschaftlich kann die Versicherung,
Pfefferspray sei ungefährlich, jedenfalls kaum untermauert werden: Die Ergeb-
nisse der wenigen Studien, die den Einsatz des Sprays als relativ ungefährlich
einstufen, sind auf die Realität nicht übertragbar; praxisnahe Untersuchungen
fehlen. So wurden zwar Probanden gezielt dem Stoff ausgesetzt, die Augen je-
doch unmittelbar nach dem Kontakt oftmals fachgerecht ausgewaschen. Damit

konnte die längere Einwirkzeit nicht untersucht werden, wie sie bei Betroffenen
eines Pfeffersprayeinsatzes beispielsweise auf Demonstrationen die Regel ist.
Außerdem wurden Probanden zu ihrer eigenen Sicherheit angehalten, das Pfef-
ferspray nicht einzuatmen, was sich in der Realität hingegen kaum vermeiden
lässt. Hinzu kommt, dass die Studien unter strenger Beobachtung und zum Teil
stetiger Ermahnung, sich nicht die Augen zu reiben, durchgeführt wurden, was
mit der Anwendung des Sprays im Alltag keinesfalls vergleichbar ist. Ebenso

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können die Daten der Studien auch nur für die erprobte Pfeffersprayzusammen-
setzung gelten, da es erhebliche Unterschiede zwischen den einzelnen Produk-
ten gibt, die, individuell durch Zusatzstoffe angereichert, zusätzlich schädliche
Wirkung entfalten können. So kann beispielsweise der Gebrauch von Alkohol
als Lösungsmittel zu weiteren Hornhautschäden führen.

Mehrere Faktoren beeinflussen die Gefährlichkeit von Pfefferspray zusätzlich:
Die Konzentration des Pfeffersprays, das Lösungsmittel und der Abstand zum
potentiellen Opfer sind einige der Faktoren, die berücksichtigt werden müssen.
So sind bei zu geringem Sicherheitsabstand allein durch den Druck des Sprays
Verletzungen am Auge möglich. Während Pfefferspray bei seiner Einführung
noch zum Einsatz gegen Drogenkonsumenten und psychisch Erkrankte emp-
fohlen worden war, zeichnet sich nunmehr dessen tödliche Gefahr für die be-
sagten Personengruppen ab. Trotz dieser Erkenntnisse stellen weder führende
Polizeivertreter noch die zuständigen Innenpolitiker den Einsatz der lebens-
bedrohlichen Sprühwaffe infrage und nehmen damit möglicherweise weiter den
Tod von Menschen in Kauf.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Welche Reizstoffe sind bei den Polizeibehörden des Bundes und der Län-
der im Einsatz, und auf welcher Grundlage erfolgt jeweils die Beschaffung
(bitte aufgliedern nach Typen/Fabrikaten/Herstellern der Reizgase und bei
Pfefferspray auch nach synthetischer und natürlicher Ware)?

2. Welche Reizstoffsprühgeräte und Abschussvorrichtungen für Reizstoff-
granaten sind bei den Polizeibehörden des Bundes und der Länder im Ein-
satz (bitte aufgliedern nach Einsatzreichweite, Sprühbilddurchmesser, Min-
destzahl von 1-Sekunden-Strahlstößen)?

3. Welche medizinischen bzw. toxischen Gutachten liegen der Verwendung
von Reizstoffen zugrunde, und inwieweit ist der Einsatz bestimmter Reiz-
gase aufgrund gesundheitlicher Risiken den Polizeibehörden des Bundes
und der Länder ausdrücklich untersagt?

4. Welche Behördenmitarbeiter, Beamte und Angestellte des Bundes und der
Länder sind befugt, Pfefferspray einzusetzen (bitte einzeln nach Berufs-
gruppen und Behörden auflisten)?

5. Welche Erkenntnisse liegen der Bundesregierung bezüglich der Anzahl
von Verletzten und Todesopfern im Zusammenhang mit Pfeffersprayeinsät-
zen durch die Polizeien des Bundes und der Länder in den letzten fünf Jah-
ren vor (bitte einzeln nach Zeitpunkt, Ort, Anlass und Schwere der Verlet-
zung auflisten)?

6. Wie beurteilt die Bundesregierung den Einsatz von Pfefferspray durch die
Polizei vor dem Hintergrund bekannter Todesfälle in Deutschland und in
anderen Staaten sowie möglicher gesundheitlicher Schäden?

7. Welche wissenschaftlichen Studien liegen der Einschätzung der Bundes-
regierung zugrunde (bitte einzeln auflisten)?

8. Inwieweit bemüht sich die Bundesregierung, die gesundheitlichen Risiken
von Pfefferspray und anderen Reizstoffen weiterhin grundlegend zu erfor-
schen?

9. Inwieweit sind nach Kenntnis der Bundesregierung die Folgen von Reiz-
stoffen Bestandteil forensischer Untersuchungen?

10. Inwieweit hält die Bundesregierung trotz besagter Todesfälle und der Ge-
fahr schwerer und dauerhafter Gesundheitsschäden daran fest, dass Pfeffer-
spray durch die Polizeibehörden des Bundes und der Länder sowie andere

Ordnungskräfte innerhalb der Bundesrepublik Deutschland zum Einsatz
kommt?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/3942

11. Inwieweit werden Polizeibeamte des Bundes und der Länder in ihrer Aus-
bildung auf mögliche Risiken und Gesundheitsgefährdungen durch den
Einsatz von Reizstoffen hingewiesen?

12. Inwieweit hält die Bundesregierung angesichts der Vielzahl von friedlichen
Demonstrantinnen und Demonstranten oder sogar gänzlich unbeteiligten
Personen, die bei Pfeffersprayeinsätzen der Polizei verletzt wurden, den
Einsatz dieses Reizstoffes für gerechtfertigt?

13. Inwieweit sieht die Bundesregierung in der Unkontrollierbarkeit des Reiz-
stoffes das Risiko einer Eskalation von Demonstrationen und ähnlichen
Menschenaufläufen durch Panik-, Angst- und Gegenwehrreaktionen der
besprühten Personen?

14. Inwieweit sieht die Bundesregierung angesichts der Tatsache, dass es den
Polizeibeamten nicht möglich ist, gesundheitliche Vorbelastungen sowie
den Einfluss von Medikamenten oder Drogen bei den besprühten Personen
einzuschätzen und damit lebensbedrohliche Verletzung oder einen Todes-
fall zu riskieren, den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bei einer Platz-
räumung mittels Pfefferspray durch die Polizei gewahrt?

15. Inwieweit teilt die Bundesregierung die Auffassung der Fragestellenden,
dass der Einsatz von Pfefferspray durch Polizeikräfte als Hilfsmittel der
körperlichen Gewalt und zur Ausübung unmittelbaren Zwangs aufgrund
der damit verbundenen schweren gesundheitlichen Risiken zu verbieten
ist?

Berlin, den 25. November 2010

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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