BT-Drucksache 17/3747

Menschenhandel bekämpfen - Opferschutz erweitern

Vom 11. November 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/3747
17. Wahlperiode 11. 11. 2010

Antrag
der Abgeordneten Annette Groth, Katrin Werner, Jan van Aken, Christine
Buchholz, Sevim Dag˘delen, Dr. Diether Dehm, Wolfgang Gehrcke, Heike Hänsel,
Inge Höger, Andrej Hunko, Harald Koch, Stefan Liebich, Cornelia Möhring, Niema
Movassat, Thomas Nord, Paul Schäfer (Köln), Alexander Ulrich und der Fraktion
DIE LINKE.

Menschenhandel bekämpfen – Opferschutz erweitern

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung ist in erster Linie inter-
nationaler Frauenhandel. Nach Schätzungen des Europarats werden jährlich
mehrere hunderttausend Menschen in andere Länder verkauft. In den meisten
Fällen handelt es sich um den Verkauf von Frauen in die Zwangsprostitution.
Immer mehr werden Menschen aber auch zum Zweck der Ausbeutung ihrer
Arbeitskraft gehandelt, wobei vor allem die Bereiche Baugewerbe, Hotel- und
Gaststättengewerbe, Haushaltshilfen oder Pflegekräfte betroffen sind. Unab-
hängig davon, zu welchem Zweck Menschen verkauft und ausgebeutet werden:
Menschenhandel ist eine besonders schwerwiegende Verletzung der Menschen-
rechte. Das Betätigungsfeld der Menschenhändler ließe sich um ein Vielfaches
einschränken, würde die Festung Europa nicht permanent ausgebaut.

Entscheidend für den erfolgreichen Kampf gegen Menschenhandel ist die Stär-
kung der Position der Opfer. Solange die Opfer über keine sicheren Aufent-
haltstitel in Deutschland verfügen, sind die Täter dadurch geschützt, dass die
Betroffenen Angst haben, gegen diese auszusagen. Ein gesichertes Aufenthalts-
recht würde den Opfern ermöglichen, gegen die Täter auszusagen, so dass diese
strafrechtlich verfolgt werden können. Wie ineffektiv die Regelung nach § 25
Absatz 4a des Aufenthaltsgesetzes in ihrer jetzigen Form für die Betroffenen
ist, zeigt, dass laut Ausländerzentralregister bis Ende 2008 lediglich 22 und bis
Ende 2009 gerade einmal 45 derartige Aufenthaltserlaubnisse erteilt wurden. In
der öffentlichen Diskussion wird die Trennung von Menschenhandel und
Fluchthilfe („Menschenschmuggel“, „Schleusung“) bzw. irreguläre Migration
oft gezielt verwischt. Das kommt insbesondere in der Richtlinie 2004/81/EG
des Rates vom 29. April 2004 über die Erteilung von Aufenthaltstiteln für
Drittstaatsangehörige zum Ausdruck. Der Kampf gegen „Schleuser“ wird mit
dem Engagement gegen Zwangsverhältnisse, wie erzwungene Prostitution und

sklavenähnliche Ausbeutungsverhältnisse, verknüpft. Galt Fluchthilfe zur Zeit
der Blockkonfrontation als ein probates Mittel zur Förderung von Bewegungs-
freiheit und Menschenrechten, wird dieselbe Praxis jetzt als Menschenhandel
kriminalisiert.

Laut Lagebericht des Bundeskriminalamtes gab es 2009 710 Opfer des Men-
schenhandels zum Zweck der sexuellen Ausbeutung, 87 Prozent der Opfer

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waren weiblich. Die meisten Opfer waren deutsche Staatsangehörige (176),
rumänische Staatsangehörige (141) und bulgarische Staatsangehörige (137). Für
den Straftatbestand Menschenhandel zum Zweck der Ausbeutung der Arbeits-
kraft zählt der Lagebericht 96 Opfer, darunter 55 männliche und 41 weibliche.
Die relativ niedrige Zahl ist zum Teil auch damit zu erklären, dass Menschen-
handel zum Zweck der Ausbeutung der Arbeitskraft erst 2005 in § 233 StGB als
neuer Straftatbestand eingeführt wurde und dementsprechend noch wenig be-
kannt ist. Hinzu kommt, dass durch die verbreitete Praxis auf andere Straftat-
bestände auszuweichen, die Ermittlungsverfahren nicht dem Tatbestand des
Menschenhandels zugeordnet werden. Es fehlen einheitliche definierte Erhe-
bungsinstrumente, mit denen die Daten überregional erhoben werden können.

Die Dunkelziffer des Menschenhandels liegt weit über den im Lagebericht
genannten Zahlen. Laut einer Studie der Internationalen Arbeitsorganisation
(ILO) befinden sich in den Industriestaaten 270 000 Menschen in Zwangsarbeit
durch Menschenhandel. Ökonomisch betrachtet ist der Handel mit Menschen
äußerst profitabel und stellt neben dem Waffen- und Drogenhandel die dritt-
größte Einnahmequelle der organisierten Kriminalität dar. Nach Schätzung der
ILO beträgt der Gewinn aus dem internationalen Menschenhandel ca. 32 Mrd.
US-Dollar pro Jahr.

In den letzten Jahren gab es auf der internationalen und insbesondere auf der
europäischen Ebene eine Reihe von wichtigen Beschlüssen zum Opferschutz
der von Menschenhandel betroffenen Personen, die von der Bundesregierung
bislang nicht vollständig umgesetzt worden sind.

Bereits 1985 hat die Bundesrepublik Deutschland die UN-Konvention zur Be-
seitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) ratifiziert, die
in Artikel 6 die Abschaffung von Frauenhandel und Zwangsprostitution durch
geeignete gesetzgeberische Maßnahmen fordert. Das Zusatzprotokoll vom
15. November 2000 zur Verhütung, Bekämpfung und Bestrafung des Men-
schenhandels, insbesondere des Frauen- und Kinderhandels, zum Übereinkom-
men der Vereinten Nationen gegen die grenzüberschreitende organisierte Krimi-
nalität (Palermo-Protokoll) ist das erste ausschließlich auf die Bekämpfung des
Menschenhandels gerichtete völkerrechtliche Abkommen. Es ist das wichtigste
völkerrechtliche Übereinkommen in diesem Bereich und wird durch die Euro-
paratskonvention zur Bekämpfung des Menschenhandels vom 16. Mai 2005
(ETS Nr. 197) ergänzt und hinsichtlich des Opferschutzes fortentwickelt.

Der Deutsche Bundestag bedauert, dass die Bundesregierung noch kein ent-
sprechendes Gesetz zur Ratifizierung der Europaratskonvention zur Bekämp-
fung des Menschenhandels vorgelegt hat. Die Ratifizierung ist dringend gebo-
ten, um die Opfer von Menschenhandel besser zu stellen. Besonders wichtig ist
die Entkopplung des Zusammenhangs zwischen Aussagebereitschaft der Opfer
gegen die Täter und der Erteilung von sichereren Aufenthaltstiteln, wie es ge-
genwärtig der Fall ist. Opfern von Menschenhandel und Zwangsprostitution
muss aufgrund der erlittenen Menschenrechtsverletzung ein eigenständiger und
unbefristeter Aufenthaltstitel unabhängig von ihrem Zeuginnenstatus erteilt
werden. Dies ergibt sich aus Artikel 14 der Konvention des Europarats vom
16. Mai 2005 (ETS Nr. 197).

Bezugnehmend auf die Europaratskonvention von 2005 fordert das Euro-
päische Parlament in einer Entschließung vom 10. Februar 2010 einen men-
schenrechtszentrierten Ansatz zur Bekämpfung des Menschenhandels, in dem
es die Europäische Union auffordert, die „Opfer als Schwerpunkt der Maßnah-
men in diesem Bereich zu behandeln.“ Ebenso wiederholt das Europäische Par-
lament in seiner Entschließung die Forderung „des Zugangs mindestens zu
einer befristeten Aufenthaltserlaubnis unabhängig von ihrer Bereitschaft, in

Strafverfahren zu kooperieren und vereinfachten Zugangs zum Arbeitsmarkt
einschließlich der Bereitstellung von Schulungen und anderen Formen der Ver-

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besserung ihrer Fähigkeiten als Minimum auf der Grundlage der Richtlinie
2004/81/EG.“

Innerhalb der Europäischen Union verfolgen bereits zahlreiche Länder einen in-
tegrativen, menschenrechtszentrierten Ansatz, der die Besserstellung der Opfer
in den Mittelpunkt stellt. Beispielsweise können in Italien die Betroffenen,
unabhängig von ihrer Bereitschaft gegen die Täter auszusagen, eine Aufent-
haltsgenehmigung für zunächst sechs Monate erhalten, die um ein weiteres Jahr
verlängert werden kann. Mit diesem Aufenthaltstitel haben die Betroffenen Zu-
gang zu sozialen Leistungen, Bildungseinrichtungen und einer Arbeitserlaubnis.
Die Erfahrungen in Italien zeigen, dass viele Frauen, die an diesem Programm
teilnehmen, sich später freiwillig für eine Kooperation mit den Strafverfol-
gungsorganen entscheiden.

Von grundsätzlicher Bedeutung zur Stärkung und Anerkennung der Betroffe-
nen als Opfer einer schweren Menschenrechtsverletzung ist darüber hinaus
eine angemessene finanzielle Entschädigung. Das Deutsche Institut für Men-
schenrechte hat hierzu 2009 eine Machbarkeitsstudie für einen Rechtshilfe-
fonds durchgeführt und empfiehlt, die Entschädigungs- und Entlohnungsan-
sprüche der Opfer von Menschenhandel entsprechend der Europaratskonven-
tion (ETS Nr. 197) in der Rechtspraxis zu entwickeln und zu verankern.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. Opfern von Menschenhandel unabhängig von ihrer Aussagebereitschaft in
Strafprozessen einen verlängerbaren Aufenthaltstitel von mindestens sechs
Monaten zu gewähren;

2. einen befristeten Aufenthaltstitel der Betroffenen in einen unbefristeten
Aufenthaltstitel umzuwandeln, sofern diese dauerhaft in der Bundes-
republik Deutschland bleiben möchten;

3. den Betroffenen während ihres Aufenthalts in Deutschland eine Arbeits-
erlaubnis zu erteilen, die Finanzierung von Sprachkursen und Aus- bzw.
Weiterbildungen zu sichern;

4. im Umgang mit von Menschenhandel betroffenen Kindern und Jugend-
lichen deren besondere Verwundbarkeit zu berücksichtigen und dement-
sprechend kinderspezifische Betreuungs- und Schutzprogramme anzuwen-
den und fortzuentwickeln;

5. den in Deutschland lebenden Kindern von Betroffenen sofortigen und
ungehinderten Zugang zum Bildungssystem, einschließlich zu Sprachkur-
sen, zu ermöglichen;

6. den Betroffenen zum Schutz der Angehörigen vor möglichen Repressalien
der Menschenhändler das Recht auf Familienzusammenführung zu gewäh-
ren;

7. eine mehrsprachige (den Herkunftsländern entsprechende), kostenlose
Hotline einzurichten, an die sich die Betroffenen wenden können;

8. den Opfern von Menschenhandel kostenlosen Zugang zu medizinischer
Behandlung und oft dringend benötigter psychologischer Betreuung zu ge-
währen;

9. den Opfern von Menschenhandel grundsätzlich Übersetzungen in ihre
jeweilige Muttersprache für alle Beratungsschritte zur Verfügung zu stellen;

10. bei erforderlichen außergerichtlichen und gerichtlichen Aussagen grund-
sätzlich einen Rechtsbeistand zu gewährleisten;

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11. durch spezifische Fortbildungsprogramme die Mitarbeiterinnen und Mit-
arbeiter der Polizei, der Justizbehörden, der Ausländerbehörde etc. für den
Umgang mit von Menschenhandel Betroffenen zu sensibilisieren;

12. den von Menschenhandel Betroffenen staatliche Rechtshilfe zu gewähren,
um gezielt für die Durchsetzung von Entschädigungs- und Entlohnungs-
ansprüchen in gerichtlichen Verfahren sowie außergerichtlichen Verhand-
lungen mit Profiteuren bzw. Tätern zu sorgen;

13. einen staatlichen Entschädigungsfonds für die Opfer von Menschenhandel
einzurichten, aus dem in Härtefällen die Opfer direkt finanziell entschädigt
werden können;

14. vom Staat abgeschöpfte Gewinne aus dem Menschenhandel grundsätzlich
zur finanziellen Entschädigung der Opfer einzusetzen;

15. eine nationale Berichterstatterstelle einzurichten, die zuständig ist für
Datenerhebung, Fallsammlung und die Erstellung von Gutachten. Die
Stelle muss politisch unabhängig sein und über sichere finanzielle Ressour-
cen verfügen. Sie soll interdisziplinär besetzt sein und alle Formen von
Menschenhandel erfassen.

Berlin, den 11. November 2010

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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