BT-Drucksache 17/3658

60 Jahre Europäische Menschenrechtskonvention - Menschenrechte stärken, schützen und durchsetzen

Vom 10. November 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/3658
17. Wahlperiode 10. 11. 2010

Antrag
der Abgeordneten Andrej Hunko, Dr. Diether Dehm, Annette Groth, Wolfgang
Gehrcke, Inge Höger, Harald Koch, Stefan Liebich, Niema Movassat, Thomas Nord,
Paul Schäfer (Köln), Alexander Ulrich, Katrin Werner und der Fraktion DIE LINKE.

60 Jahre Europäische Menschenrechtskonvention – Menschenrechte stärken,
schützen und durchsetzen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die Vereinten Nationen verkündeten 1948 die Allgemeine Erklärung der Men-
schenrechte, „da die Nichtanerkennung und Verachtung der Menschenrechte zu
Akten der Barbarei geführt haben“. Damit reagierten die Vereinten Nationen
auf die Verbrechen gegen den Frieden, die Verbrechen gegen die Menschheit
und die Kriegsverbrechen durch die Nazidiktatur. Das Ziel der Erklärung ist es,
„die Menschenrechte durch die Herrschaft des Rechtes zu schützen, damit der
Mensch nicht gezwungen wird, als letztes Mittel zum Aufstand gegen Tyrannei
und Unterdrückung zu greifen“. Die Allgemeine Erklärung war Anregung und
Vorbild für eine europäische Grundrechtecharta.

Im November 1950 unterzeichneten die 14 Mitgliedstaaten des Europarates die
Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Europäi-
sche Menschenrechtskonvention). Sie wurde von der Europäischen Einigungs-
bewegung maßgeblich initiiert und vor allem im Europarat erarbeitet.

In der Präambel der am 3. September 1953 in Kraft getretenen Konvention
bekennen sich die Mitgliedstaaten dazu „die ersten Schritte auf dem Wege zu
einer kollektiven Garantie gewisser in der Allgemeinen Erklärung verkündeter
Rechte zu unternehmen“ und verankerten erstmals im Völkerrecht individuelle
Grund- und Freiheitsrechte als einklagbare Rechte.

Die Europäische Menschenrechtskonvention garantiert negative Abwehrrechte,
wie das Verbot der Folter und menschenunwürdiger Behandlung (Artikel 3),
politische Rechte, wie die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit (Artikel 11)
und auch justizielle Grundrechte, wie das Recht auf ein faires Verfahren (Arti-
kel 6).

Die Europäische Menschenrechtskonvention wurde durch 14 Zusatzprotokolle
sowohl verfahrensrechtlich als auch materiell-rechtlich weiterentwickelt, oft
auf Initiative der Parlamentarischen Versammlung des Europarates. Verfahrens-

rechtliche Reformen sollten vor allem sicherstellen, dass die Organe trotz
wachsender Arbeitsbelastung ihre Kontrollfunktion effektiv ausüben können.
Aber auch der schon auf dem Europakongress 1948 geforderte individuelle
Zugang zum Gerichtshof wurde weiter verfolgt. Ein großer Fortschritt war das
11. Zusatzprotokoll, das am 1. November 1998 allgemein in Kraft trat. Es
führte einen gerichtsförmig ausgestalteten Kontrollmechanismus und das indi-
viduelle Beschwerderecht ein. Die Anrufung des Europäischen Gerichtshofes

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für Menschenrechte in Straßburg ist damit nicht nur den Mitgliedstaaten mög-
lich, sondern auch den Bürgerinnen und Bürgern sowie allen natürlichen Perso-
nen, sofern sie sich durch einen hoheitlichen Akt eines Mitgliedstaats in ihren
Rechten beeinträchtigt fühlen. Auf die wachsende Zahl von Beschwerden
wurde zuletzt mit den Reformen des 14. Zusatzprotokolls reagiert. Neben wei-
teren Reformschritten ist jetzt die ausreichende finanzielle und personelle Aus-
stattung notwendig, um einen effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten.

Auch materiell wurden die in der Europäischen Menschenrechtskonvention
enthaltenen Rechte durch Zusatzprotokolle weiter bestimmt und ergänzt. Bei-
spielsweise wurde die Todesstrafe zu Beginn lediglich eingeschränkt und erst
später im 6. Zusatzprotokoll in Friedenszeiten abgeschafft. Alle Vertragsstaaten
außer Russland haben dieses Protokoll ratifiziert.

Die Bundesrepublik Deutschland hat bislang das 7. und 12. Zusatzprotokoll
nicht ratifiziert. Das 7. Zusatzprotokoll enthält verschiedene verfahrensrecht-
liche Garantien, etwa bei der Ausweisung von Ausländerinnen und Ausländern,
das Recht auf Berufung, das Recht auf Entschädigung nach Fehlurteil sowie die
Gleichberechtigung von Ehegattinnen und Ehegatten. Das 12. Zusatzprotokoll
enthält ein grundsätzliches Diskriminierungsverbot.

Mit dem angestrebten Beitritt der Europäischen Union (EU) zur Europäischen
Menschenrechtskonvention stellt sich die Frage nach ihrem Verhältnis zur EU-
Grundrechtecharta und auch nach dem Verhältnis zwischen der Grundrecht-
sprechung des Europäischen Gerichtshofs und des Menschenrechtsgerichts-
hofs. Wesentliche Grundrechte, wie das Recht auf Arbeit, wurden nicht in die
Grundrechtecharta aufgenommen. Die fehlende Sozialbindung des Eigentums
wie auch die Hervorhebung der unternehmerischen Freiheit in der EU-Grund-
rechtecharta lassen nicht auf einen umfassenden Grundrechtsschutz schließen.
Des Weiteren werden die aufgenommenen Erläuterungen, die vom Präsidium
des Grundrechtkonvents verfasst wurden, als autoritative Interpretation vor-
gegeben. Dies birgt die Gefahr, dass Grundrechte mit dem Verweis auf die bis-
herige Rechtsprechung stark eingeschränkt werden können. Auch die fehlende
Aufnahme des Textes der Grundrechtecharta in die europäischen Verträge und
die fehlende Individualbeschwerde schmälern die Bedeutung der Grund-
rechtecharta.

Unklar bleibt nach einem Beitritt der EU zur Europäischen Menschenrechts-
konvention auch, ob grundrechtsverletzende Urteile, wie die Urteile des Euro-
päischen Gerichtshofs in den Fällen Viking Line, Laval, Rüffert und Luxem-
burg, die den Vorrang von Marktfreiheiten vor sozialen Grundrechten fest-
schreiben, in Zukunft vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof über-
prüfbar sein werden.

Das hohe Niveau der menschenrechtlichen Standards in der Europäischen
Menschenrechtskonvention stellt weiterhin eine Herausforderung für alte und
neue Vertragsstaaten dar. Die Europäische Menschenrechtskonvention bleibt
für viele Menschen ein Bezugspunkt um Rechte einzufordern und Kritik zu for-
mulieren. Allerdings werden die Verpflichtungen aus der Konvention in kon-
kreten politischen Auseinandersetzungen von Regierungen oft nicht beachtet.

Die Bundesrepublik Deutschland wird der Intention der Europäischen Menschen-
rechtskonvention oft nicht gerecht: So widersprechen die deutsche Asyl- und
Abschiebepolitik, insbesondere gegenüber hier geborenen oder aufgewachsenen
Kindern und Jugendlichen, sowie der Sprachnachweis beim Ehegattennachzug
u. a. dem in Artikel 8 enthaltenen „Recht auf Achtung des Privat- und Familien-
lebens“. Die zwangsweise Verabreichung eines Brechmittels bei Verdacht auf
Drogendelikte kann eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung i. S. d.
Artikels 3, des Antifolterartikels, darstellen. Im Rahmen der Religionsfreiheit

verstoßen religiöse Symbole in Klassenzimmern gegen die Europäische

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/3658

Menschenrechtskonvention, so entschied es der Europäische Gerichtshof für
Menschenrechte.

Aktuell hat sich die französische Regierung in einer Frage besonders deutlich
gegen die Europäischen Menschenrechte positioniert: Sie rechtfertigt nach wie
vor ihre antiziganistische und willkürliche Ausweisungspolitik, die trotz massi-
ver internationaler Kritik, auch aus dem Europarat, durchgesetzt wurde.

Der Deutsche Bundestag teilt die Besorgnis der Parlamentarischen Versamm-
lung des Europarates über einen dualen Trend in Europa: Während einerseits
rechtsradikale Parteien zunehmend Wahlerfolge haben, übernehmen anderer-
seits etablierte Parteien Teile der radikalen, fremdenfeindlichen und diskrimi-
nierenden Forderungen und Sprache.

Nicht zuletzt angesichts dieser Entwicklung muss die Europäische Menschen-
rechtskonvention geschützt und weiter durchgesetzt werden. Sie darf niemals zu
einer Hülse verkommen. Man muss daran erinnern, dass die griechische Militär-
diktatur die Europäische Menschenrechtskonvention innerstaatlich außer Kraft
setzen konnte und aus dem Europarat ausgetreten war, um einem Ausschluss zu-
vorzukommen.

Der 60. Jahrestag der Unterzeichnung ist Anlass, die Bedeutung der Europäi-
schen Menschenrechtskonvention für ein demokratisches und rechtsstaatliches
Europa zu würdigen und weiter zu fördern. Der Deutsche Bundestag erneuert
und bekräftigt sein Bekenntnis zur Europäischen Menschenrechtskonvention
und würdigt die Arbeit des Europarates.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. alle Zusatzprotokolle der Europäischen Menschenrechtskonvention zur voll-
ständigen Ratifizierung beim Bundestag einzureichen;

2. den Prozess des Beitritts der Europäischen Union zur Europäischen Men-
schenrechtskonvention kritisch zu begleiten und sicherzustellen, dass die
hohen Standards der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht unter-
laufen werden;

3. bei diesem Beitrittsprozess dafür Sorge zu tragen, dass die Rechte der Parla-
mentarischen Versammlung des Europarates in vollem Umfang beachtet
werden, und diesen Prozess für menschenrechtliche Bildungsarbeit zu nut-
zen, insbesondere durch Informationsmaßnahmen in Zusammenarbeit mit
Universitäten und der Zivilgesellschaft;

4. den auf der Konferenz der Ministerinnen und Minister von Interlaken be-
gonnenen Reformprozess mit dem Ziel voranzubringen, dass der Gerichts-
hof effektiv für die Einhaltung der Garantien der Europäischen Menschen-
rechtskonvention sorgen kann;

5. alles in ihren Kräften Stehende zu tun, um durch Maßnahmen der zivilen
Konfliktprävention und -bearbeitung die Gefahr von Menschenrechtsver-
letzungen frühzeitig zu bannen;

6. sich dafür einzusetzen, dass das Recht auf Kriegsdienstverweigerung in die
Europäische Menschenrechtskonvention aufgenommen wird;

7. sich für die Übersetzung der Gerichtsurteile des Europäischen Gerichtshofs
für Menschenrechte in alle Konventionssprachen gemäß der Empfehlung des
Ministerkomitees des Europarates Rec(2002)13 vom 18. Dezember 2002
einzusetzen;

8. den Versuchen, die universelle Geltung der Menschenrechte in Frage zu
stellen, mit größter Entschiedenheit entgegenzutreten;
9. die universellen Menschenrechte in Deutschland mit größter Entschieden-
heit zu schützen;

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10. den wiederholten Aufforderungen des Europarates zur Verbesserung der
demokratischen Teilhabe der Migrationsbevölkerung in den Mitgliedstaaten
nachzukommen und zu diesem Zweck u. a. die Einbürgerung von Migran-
tinnen und Migranten unter Hinnahme mehrfacher Staatsangehörigkeiten zu
erleichtern;

11. sich nachdrücklich dafür einzusetzen, dass neue Mitgliedstaaten des Europa-
rates zügig die Europäische Menschenrechtskonvention und ihre sämtlichen
Zusatzprotokolle ratifizieren;

12. alle Anstrengungen zu unternehmen, um Mitgliedstaaten des Europarates
und noch nicht dem Europarat angehörende Staaten darin zu unterstützen,
die Menschenrechtssituation in ihrem Land zu verbessern und auf diese
Weise einen einheitlich hohen Menschenrechtsstandard in Europa zu
sichern;

13. durch geeignete Maßnahmen, wie die Anregung von Ausbildungsangebo-
ten, darauf hinzuwirken, dass sich deutsche Behörden und Gerichte noch
stärker an den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte
orientieren;

14. sich dafür einzusetzen, dass die Unterzeichnerstaaten die Urteile des Euro-
päischen Gerichtshofs für Menschenrechte befolgen, sowie auf eine Ver-
besserung des Mechanismus zur Durchsetzung der Urteile hinzuwirken;

15. die Arbeit des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu fördern,
in dem sie sich für eine bessere personelle und finanzielle Ausstattung so-
wie für eine größere Unabhängigkeit des Gerichtshofs bei der Verwaltung
seines Budgets einsetzt.

Berlin, den 10. November 2010

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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