BT-Drucksache 17/3615

Sachgerechte Ermittlung des menschenwürdigen Existenzminimums durch Vermeidung von Zirkelschlüssen

Vom 3. November 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/3615
17. Wahlperiode 03. 11. 2010

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Katja Kipping, Diana Golze, Matthias W. Birkwald, Heidrun
Dittrich, Jutta Krellmann, Kornelia Möller, Ingrid Remmers, Jörn Wunderlich,
Sabine Zimmermann und der Fraktion DIE LINKE.

Sachgerechte Ermittlung des menschenwürdigen Existenzminimums
durch Vermeidung von Zirkelschlüssen

Die Ermittlung des menschenwürdigen Existenz- und Teilhabeminimums
erfolgt nach den Grundsätzen des sog. Statistikmodells. Nach diesem Modell
werden in der Theorie die Bedarfe nicht (mehr) direkt über einen Warenkorb
ermittelt, sondern aus den empirisch festgestellten Ausgaben einer statistisch de-
finierten Referenzgruppe. Die genaue Bestimmung, wer zu der Referenzgruppe
zählt und wer nicht, ist zentral. Je ärmer die Referenzengruppe ist, desto geringer
sind deren Ausgaben und folglich das daraus abgeleitete Existenzminimum. Seit
der Einführung des Statistikmodells wird regelmäßig darauf hingewiesen, dass
eine sachgerechte Ableitung des Existenzminimums den Ausschluss bestimmter
Gruppen erfordert. Der Ausschluss ist zwingend, weil sonst die Verbrauchsaus-
gaben von Menschen, die auf oder unter dem Grundsicherungsniveau leben zum
Maßstab für die Ermittlung des Existenzminimums gemacht werden – ein
Zirkelschluss. Es dürfen also systematisch bestimmte Haushalte nicht in die
Referenzgruppe aufgenommen werden. Dazu zählen Haushalte, die selber allein
von Leistungen der Grundsicherung leben oder mit einem Einkommen auf dem
Grundsicherungsniveau, z. B. Haushalte mit Bezug von Arbeitslosengeld I und
Arbeitslosengeld II oder mit Bezug von Arbeitslosengeld II und Kindergeld
(Personengruppe 2, ohne Aufstocker mit Erwerbstätigkeit).

Zudem müssen aber systematisch auch Haushalte ausgeschlossen werden, die
entweder als sogenannte verdeckt Arme einen Leistungsanspruch haben, diesen
aber nicht realisieren, und die aus anderen Gründen – etwa Studierende – unter
dem Grundsicherungsniveau leben, aber keinen Anspruch auf Grundsicherungs-
leistungen haben (Personengruppe 1).

Denn das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil dem Gesetzgeber dazu
einen klaren Auftrag erteilt: „Der Gesetzgeber bleibt […] verpflichtet, bei der
Auswertung künftiger Einkommens- und Verbrauchsstichproben darauf zu ach-
ten, dass Haushalte, deren Nettoeinkommen unter dem Niveau der Leistungen
nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch und Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch
inklusive der Leistungen für Unterkunft und Heizung liegt, aus der Referenz-

gruppe ausgeschieden werden.“ (BVerfG 1 BvL/1/09, Rn. 169).

Am 6. Juli 2010 hat der Parlamentarische Staatssekretär bei der Bundesministe-
rin für Arbeit und Soziales, Dr. Ralf Brauksiepe, in der Antwort auf die Schrift-
liche Frage 61 der Abgeordneten Katja Kipping diesen Satz aus dem Urteil
zitiert und angefügt, dass die Bundesregierung „ihre Gesetzesvorlage an diesem
Maßstab ausrichten“ wird (Bundestagsdrucksache 17/2537, S. 35).

Drucksache 17/3615 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Darüber hinaus wurde schon bei der Einführung des Statistikmodells grund-
sätzlich bestätigt, dass eine Referenzgruppe festzulegen ist, „deren Untergrenze
mit ausreichendem Abstand über der jeweiligen Sozialhilfeschwelle liegt“
(63. Arbeits- und Sozialministerkonferenz – ASMK 1987) (Personengruppe 3,
z. B. Personen mit Aufstockung bei Erwerbstätigkeit). Die erläuternden An-
hänge des Beschlusses sprechen ausdrücklich auch von einer genau definierten
Sozialhilfeschwelle, um verdeckt Arme aus der Referenzgruppe auszugliedern.

Ungeachtet dieser Aussagen und des klaren Auftrags durch das Bundesverfas-
sungsgericht findet sich kein Ausschluss dieser drei genannten Personengruppen
aus der Referenzgruppe in dem Gesetzentwurf zur Ermittlung von Regelbedar-
fen und zur Änderung des Zweiten und des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch
(SGB II und SGB XII). Ausgeschlossen aus der Berücksichtigung als Referenz-
haushalte seien lediglich Haushalte, die Grundsicherungsleistungen nach dem
SGB II und dem SGB XII beziehen (Artikel 1 § 3 des Entwurfs eines Gesetzes
zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften
Buches Sozialgesetzbuch). Präziser wurde diese Gruppe aber in der Antwort der
Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE. definiert:
„Bei der Neubemessung der Regelsätze auf Basis der EVS 2008 werden alle Be-
zieher, die alleine über Leistungen der Mindestsicherung nach dem Zweiten und
Zwölften Buch Sozialgesetzbuch verfügen, aus der Referenzgruppe herausge-
rechnet.“ (Bundestagsdrucksache 17/2862, Antwort zu Frage 21). Offensicht-
lich wurde also ein entsprechender Auftrag an das Statistische Bundesamt, der
den Ausschluss der o. g. drei Personengruppen vorsieht, vom Bundesministe-
rium für Arbeit und Soziales nicht erteilt, nicht einmal bezüglich der Personen-
gruppe 2. Denn in dieser befinden sich ebenfalls Beziehende von Leistungen
nach dem Zweiten und dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch, die nicht nur aus-
schließlich (also „alleine“) diese Leistungen beziehen, sondern neben der
Grundsicherung z. B. auch Arbeitslosengeld I oder Kindergeld.

Ein Antrag der Fraktion DIE LINKE. im Ausschuss für Arbeit und Soziales,
einen Auftrag an das Statistische Bundesamt für eine Sonderauswertung der EVS
2008 auszusprechen (Ausschussdrucksache 17(11)289), wurde am 26. Oktober
2010 von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP abgelehnt. Eine Sonderaus-
wertung der EVS 2008 sollte dem Gesetzgeber die Informationen zur Verfügung
stellen, welche konkreten Auswirkungen die Bereinigung der Referenzgruppe
um die o. g. drei Personengruppen hätte. Dem Gesetzgeber wird damit die Infor-
mation verweigert, die notwendig ist, um den Vorgaben des Bundesverfassungs-
gerichts und der ASMK gerecht zu werden.

Verschiedene ältere Studien zeigen, dass das Ausmaß von Personen, die unter
dem Niveau der Sozialhilfe lebten, vor der Einführung des SGB II erheblich war.
Jüngere Analysen zeigen, dass sich dieses hohe Ausmaß gegenüber den heutigen
real Beziehenden von Grundsicherung (bis zu 100 Prozent Personen, die unter-
halb des Niveaus der Grundsicherungsleistung leben, bezogen auf die Anzahl der
Grundsicherungsbeziehenden) kaum verändert hat (vgl. etwa Becker, Irene
(2010): Möglichkeiten der Bedarfsbemessung zur Ableitung von Regelleistun-
gen nach dem SGB II bzw. SBG XII auf der Basis des „Hartz-IV-Urteils“ des
Bundesverfassungsgerichts, Berlin, FES Diskussionspapier; Becker, Irene/
Hauser, Richard (2010): Kindergrundsicherung, Kindergeld und Kinder-
zuschlag: Eine vergleichende Analyse, Abschlussbericht zum Projekt der Hans-
Böckler-Stiftung).

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie bewertet die Bundesregierung die zitierte Aussage des Bundesverfas-
sungsverfassungsgerichts, wonach die Bundesregierung bei der Auswertung

künftiger Einkommens- und Verbrauchsstichproben (EVS) „verpflichtet“ sei,
darauf zu achten, dass Haushalte aus der Referenzgruppe ausgeschieden wer-

b) bei einem Paar mit einem Kind
im Jahr 2008?

12. Wie viele Haushalte innerhalb der Referenzgruppe nach dem Gesetz-
entwurf liegen unterhalb der nach Frage 10 ermittelten Einkommensgrenze
und unterhalb des durchschnittlichen Bedarfs nach Frage 11 (jeweils für
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/3615

den, deren Nettoeinkommen unter dem Niveau der Leistungen nach dem
Zweiten und dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch inklusive der Leistun-
gen für Unterkunft und Heizung liegen?

2. Welche methodischen Vorgehen sind der Bundesregierung bekannt, um die
Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts bezüglich dieser genannten Per-
sonengruppe 1 umsetzen, und wie bewertet sie diese?

3. Welche methodischen Vorgehen sind der Bundesregierung bekannt, um die
Eliminierung der Zirkelschlüsse bezüglich der genannten Personengruppe 2
(Einkommen auf dem Grundsicherungsniveau) umsetzen, und wie bewertet
sie diese?

4. Wie bewertet die Bundesregierung den bereits 1987 von der Konferenz der
Obersten Landessozialbehörden formulierten Vorschlag der Festlegung
einer Mindesteinkommensgrenze für die Referenzgruppe, die mit aus-
reichendem Abstand über der Grundsicherungsschwelle liegen sollte (Per-
sonengruppe 3)?

5. Welche methodischen Vorgehen sind der Bundesregierung bekannt, um die
Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts bezüglich der genannten Personen-
gruppe 3 (Einkommen über dem Grundsicherungsniveau) umzusetzen, und
wie bewertet sie diese?

6. Wie bewertet die Bundesregierung den Vorschlag, alle Haushalte aus der
Referenzgruppe auszuklammern, deren Einkommen unterhalb einer pau-
schalen Einkommensuntergrenze liegen, die sich durch das Niveau der
Grundsicherung plus durchschnittliche Leistung für Unterkunft und Hei-
zung ergibt (vgl. Becker, Irene, 2010) (spezifisch jeweils für Einpersonen-
haushalte und Paare mit einem Kind zu ermitteln)?

7. Wie bewertet die Bundesregierung die Aussage, dass dieses Vorgehen – trotz
einzelner Unschärfen – angemessener sei als die völlige Vernachlässigung
des Problems verdeckter Armut und anderer Personen mit Einkommen
unterhalb des Grundsicherungsniveaus (vgl. Becker, Irene, 2010)?

8. Wurden bei der Festlegung der Referenzgruppe (Einpersonenhaushalte und
Paare mit einem Kind), wie sie im Gesetzentwurf definiert ist, nur Bezie-
hende mit ausschließlichem oder auch mit überwiegendem oder auch mit
geringem Bezug von Grundsicherungsleistungen (alles Personengruppe 2,
ohne Aufstocker wegen Erwerbstätigkeit) zuvor herausgerechnet?

9. Wie hoch liegt das durchschnittliche Einkommen der Referenzgruppe der
untersten 15 Prozent der Haushalte, wie sie dem Gesetzentwurf zugrunde
liegt (Einpersonenhaushalte)?

10. Wie hoch liegt das durchschnittliche Einkommen der Referenzgruppe, wie
sie dem Gesetzentwurf zugrunde liegt, wenn die untersten 20 Prozent der
Haushalte als Referenzgruppe genommen werden (Einpersonenhaushalte
und Paare mit einem Kind)?

11. Wie hoch lag der durchschnittliche Bedarf der Referenzgruppe nach Frage 10
– definiert als Regelleistung plus durchschnittliche Kosten der Unterkunft
und Heizung –
a) bei einem Einpersonenhaushalt und
Einpersonenhaushalte und für Paare mit einem Kind)?

Drucksache 17/3615 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
13. Wie viele Haushalte innerhalb der Referenzgruppe nach dem Gesetzentwurf
liegen unterhalb der Armutsrisikoschwelle, nach EU-Konventionen definiert
als Einkommen unterhalb von 60 Prozent des mittleren Einkommens (Me-
dian) (jeweils für Einpersonenhaushalte und für Paare mit einem Kind)?

14. Wie viele Haushalte innerhalb der Referenzgruppe nach dem Gesetzentwurf
haben höhere private Konsumausgaben als Einkommen, und wie finanzie-
ren diese Haushalte ihren Bedarf (jeweils für Einpersonenhaushalte und für
Paare mit einem Kind)?

15. Wie viele Haushalte innerhalb der Referenzgruppe nach dem Gesetzent-
wurf erhalten Leistungen nach den Grundsicherungssystemen des SGB II
und des SGB XII und verfügen zusätzlich über ein geringfügiges zusätz-
liches Einkommen in Höhe von

a) maximal 100 Euro,

b) 100 bis 200 Euro und

c) 200 bis 400 Euro

(jeweils Einpersonenhaushalte und Paare mit einem Kind)?

16. Wie viele Haushalte innerhalb der Referenzgruppe nach dem Gesetzentwurf
verfügen über

a) Vermögen und

b) Zinseinkommen

(durchschnittliche Höhe, jeweils Einpersonenhaushalte und Paare mit einem
Kind)?

17. Wie viele Haushalte innerhalb der Referenzgruppe nach dem Gesetzentwurf
sind verschuldet (durchschnittliche Höhe, jeweils für Einpersonenhaushalte
und für Paare mit einem Kind)?

18. Wie bewertet die Bundesregierung die technische Umsetzbarkeit einer
neuen Auswertung der EVS 2008 durch das Statistische Bundesamt, die
Haushalte unterhalb bestimmter Mindesteinkommensgrenzen aus der Refe-
renzgruppe ausschließt (Mindesteinkommensgrenzen jeweils unter Aus-
schluss der Personengruppe 1, dann zuzüglich des Ausschlusses der Perso-
nengruppe 2, dann zuzüglich des Ausschlusses der Personengruppe 3)?

19. Wie bewertet die Bundesregierung die Aussage, dass eine derartige Sonder-
auswertung eine sinnvolle und für eine eigenständige Willensbildung des
Gesetzgebers dringend notwendige Information darstellt?

20. Mit welcher Begründung hat die Bundesregierung bislang auf eine solche
Sonderauswertung verzichtet, die Haushalte unterhalb der genannten Min-
desteinkommensgrenzen aus der Referenzgruppe ausschließt?

21. Ist die Bundesregierung gewillt, eine Sonderauswertung der EVS beim
Statistischen Bundesamt in Auftrag zu geben, die die Personengruppen 1, 2
und 3 aus der Referenzgruppe ausklammert, und wann wird sie gegebenen-
falls die Ergebnisse einer derartigen Sonderauswertung vorlegen?

22. Ist es zutreffend, dass die notwendigen Daten für eine Auswertung der EVS
derzeit ausschließlich beim Statistischen Bundesamt liegen und für Dritte
(etwa Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler) nicht verfügbar sind?

Berlin, den 3. November 2010

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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