BT-Drucksache 17/3412

zu der Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin zum Europäischen Rat am 28./29. Oktober 2010 in Brüssel und zum G20-Gipfel am 11./12. November 2010 in Seoul

Vom 26. Oktober 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/3412
17. Wahlperiode 26. 10. 2010

Entschließungsantrag
der Abgeordneten Dr. Diether Dehm, Alexander Ulrich, Jan van Aken, Christine
Buchholz, Sevim Dag˘delen, Wolfgang Gehrcke, Annette Groth, Heike Hänsel, Inge
Höger, Andrej Hunko, Harald Koch, Stefan Liebich, Niema Movassat, Thomas
Nord, Paul Schäfer (Köln), Katrin Werner und der Fraktion DIE LINKE.

zu der Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin

zum Europäischen Rat am 28./29. Oktober 2010 in Brüssel und zum G20-Gipfel
am 11./12. November 2010 in Seoul

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Dem Aufruf des Europäischen Gewerkschaftsbundes zu Demonstrationen
gegen die Kürzungsprogramme der EU-Kommission und der Regierungen
der EU-Mitgliedstaaten folgten am 29. September 2010 hunderttausende
Menschen. Unter dem Motto „Nein zu Sparmaßnahmen – Vorrang für Be-
schäftigung und Wachstum“ fanden in Brüssel und in vielen anderen Städten
Demonstrationen statt. Zeitgleich wurden in mehreren EU-Mitgliedstaaten
Generalstreiks durchgeführt.

2. Nichtsdestotrotz verabschiedete die EU-Kommission am selben Tag ein
Paket aus fünf Verordnungsentwürfen und einem Richtlinienentwurf zur
Verschärfung des Stabilitäts- und Wachstumspakts und zur „Korrektur über-
mäßiger makroökonomischer Ungleichgewichte im Euroraum“. Sollte dieses
Paket in Kraft treten, „dürfte dies das Gesicht europäischer Wirtschaftspolitik
nachhaltiger verändern als alle anderen Reformen seit dem Bestehen der
Eurozone“, ist auf der Internetseite von „Deutsche Bank Research“ nachzu-
lesen. Dies ist wahr: In der Folge sind EU-weit tiefe Einschnitte in die sozia-
len Netze zu befürchten, wobei die wirtschaftlich schwächeren Länder be-
sonders stark betroffen sein werden.

3. Mit den Eurorettungspaketen im Frühjahr 2010 wurden nicht die Ursachen
der Krise bekämpft, vielmehr wurde bei Symptomen angesetzt: Die „Ret-
tungspakete“ wurden im Konzert mit dem Internationalen Währungsfonds
(IWF) an radikale Sparmaßnahmen in den betroffenen Mitgliedstaaten ge-

knüpft. Dies vertiefte jedoch die Krise und macht Staatsbankrotte wahr-
scheinlicher. Die Kosten der Wirtschafts- und Finanzkrise werden auf die
Bevölkerungsmehrheit in der Europäischen Union abgewälzt. Damit sind
weder die Staatsverschuldung noch die Verwerfungen in der Währungsunion
in den Griff zu bekommen. Die zentrale Ursache der Haushaltsrisiken in den
Mitgliedstaaten ist die weiterhin ungebremste Umverteilung der Einkom-
men und Vermögen von unten nach oben.

Drucksache 17/3412 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

4. Die deutsch-französische Einigung von Deauville vom 18. Oktober 2010
nimmt viele der EU-Kommissionsvorschläge in modifizierter Form auf. Sie
will darüber hinaus durch einen dauerhaften „Eurorettungsschirm“ die Ban-
kenverluste auch über das Jahr 2013 hinaus auf die Bevölkerung abwälzen
und weist zugleich auf die Notwendigkeit einer Vertragsänderung zur Ver-
schärfung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes hin. Nicht einmal ein Jahr
nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon folgt somit das Eingeständnis,
dass dieser gescheitert ist.

5. Ohne einer endgültigen Einigung auf EU-Ebene bezüglich der einzelnen
Vorschläge vorgreifen zu können, steht schon jetzt fest:

a) Die Vorschläge der EU-Kommission zur Überwachung der nationalen
Haushaltsverfahren sind aus der Perspektive des Grundgesetzes außeror-
dentlich bedenklich, da sie in das Haushaltsrecht der nationalen Parla-
mente eingreifen. Nach dem Grundgesetz obliegt die Kontrolle des Bun-
deshaushalts ausschließlich dem demokratisch gewählten Parlament. Die
Vorschläge bedrohen die Grundlagen der Demokratie und die Souveräni-
tät sämtlicher Mitgliedstaaten.

b) Die Vorschläge der EU-Kommission zur jährlichen Reduzierung der Ge-
samtverschuldung der Mitgliedstaaten sind schon wegen ihrer Höhe be-
denklich. Sie sind geeignet, den sozialen Frieden in Europa zu bedrohen.
Für die am stärksten verschuldeten Länder besteht die Gefahr, dass staat-
liche Funktionen insgesamt nicht mehr aufrecht erhalten werden können.
Insolvenzen einzelner EU-Mitgliedstaaten hätten gravierende Konsequen-
zen für alle Mitglieder der Eurozone und alle 27 Mitglieder der Europäi-
schen Union. Insgesamt bedeutet die Einführung der vorgesehenen Sank-
tionsmechanismen bei Verstößen gegen die Defizit- und Schuldengrenzen
vor allem eine weitere Abwärtsspirale bei öffentlichen Ausgaben sowie
den Löhnen und Gehältern und ist für eine mögliche wirtschaftliche Er-
holung der betroffenen Mitgliedstaaten kontraproduktiv.

c) Der insbesondere von der Bundesregierung eingeforderte Stimmrechts-
entzug würde Verstöße gegen das Defizitkriterium auf die gleiche Stufe
stellen wie Verstöße gegen die Achtung der Menschenwürde, die Freiheit,
Demokratie oder die anderen in Artikel 2 des Vertrags über die Europäi-
schen Union festgelegten Grundwerte der Europäischen Union. Fest-
zuhalten ist überdies: Im Jahr 2010 verstoßen bereits 24 von 27 Mitglied-
staaten gegen das erste Maastricht-Kriterium. In einer rigiden Auslegung
würde eine Ausschlussregel dazu führen, dass nur noch drei Mitglieds-
länder Entscheidungsbefugnisse hätten, weil sie allein die Maastricht-Kri-
terien erfüllen. Dabei hat Deutschland bis zum Beginn der Wirtschafts-
und Finanzkrise bereits viermal gegen den Stabilitäts- und Wachstums-
pakt verstoßen, während Spanien und Irland nicht gegen den Stabilitäts-
und Wachstumspakt verstoßen haben.

d) Soweit Verordnungsentwürfe gegen makroökonomische Ungleichge-
wichte in der EU im Allgemeinen und in der Eurozone im Besonderen
vorgeschlagen sind, bleiben diese außerordentlich vage. Sie stellen im
Wesentlichen eine Ermächtigungsgrundlage für die EU-Kommission dar,
ohne dass die inhaltliche Zielrichtung konkret beschrieben würde. Aus
den anderen Vorschlägen des Pakets kann aber entnommen werden, dass
auch hier neoliberale Politik zu Lasten der Menschen durchgesetzt wer-
den soll. Die EU-Kommission soll ermächtigt werden, Lohn- und Sozial-
kürzungen sanktionsbewehrt in einzelnen EU-Mitgliedstaaten auf den
Weg zu bringen.

e) Ein permanenter „Rettungsschirm“ würde dazu führen, dass die Bevölke-

rungsmehrheit in der EU für die Bankenverluste zahlt und die Export-
industrie dauerhaft subventioniert wird.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/3412

6. Vor allem werden die notwendigen, grundlegenden Veränderungen des
schnell und gründlich gescheiterten, neoliberal ausgerichteten Vertrags von
Lissabon nicht in Angriff genommen. Angesichts der realen Situation ist
das ein Eingeständnis der Unfähigkeit zwischen allen 27 Mitgliedsländern
eine Einvernehmlichkeit über die offensichtlich notwendigen EU-Vertrags-
änderungen herzustellen. Die Krise der europäischen Integration ist längst
nicht überwunden.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. den Forderungen der in Deutschland und auch europaweit stattfindenden
Proteste gegen unsoziale Kürzungsprogramme endlich Rechnung zu tragen;

2. sich auf dem bevorstehenden Europäischen Rat und in einem etwaigen an-
schließenden Rechtsetzungs- oder Vertragsveränderungsverfahren gegen
die unsozialen, rechtlich bedenklichen und ökonomisch unvernünftigen Vor-
schläge der EU-Kommission zur Verschärfung des Stabilitäts- und Wachs-
tumspakts einzusetzen und ihre eigenen Forderungen zurückzunehmen;

3. sich insbesondere dem Grundgesetz entsprechend für die Bewahrung demo-
kratischer Souveränität einzusetzen und sich gegen die vorgeschlagenen
Verfahren zur Überwachung der nationalen Haushalte zu verwenden;

4. von der angestrebten Vertragsänderung zur Entziehung des Stimmrechts
Abstand zu nehmen; stattdessen dafür einzutreten, dass auf einer Regie-
rungskonferenz eine Revision der Vertragsartikel des EU-Vertrags und des
Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union in Angriff genom-
men wird, die sich in der Wirtschafts- und Finanzkrise als besonders untaug-
lich erwiesen haben, dazu gehören insbesondere das Verbot von Kapitalver-
kehrskontrollen und die Verpflichtung auf eine „offene Marktwirtschaft mit
freiem Wettbewerb“ ohne Regulierung. Überdies sollte eine soziale Fort-
schrittsklausel eingeführt werden;

5. gegen eine europäische Schuldenbremse und stattdessen dafür einzutreten,
dass die Europäische Zentralbank Staaten in gewissem Umfang direkt zu
Niedrigzinsen Kredite gewährt, ohne den Umweg über private Banken zu
gehen;

6. auf nationalstaatlicher und europäischer Ebene dafür einzutreten, dass Maß-
nahmen zur Stärkung der europäischen Binnenkonjunktur getroffen werden;

7. sich innerhalb der EU dafür einzusetzen, endlich an den Ursachen der
Krise anzusetzen und einen außenwirtschaftlichen Stabilitätspakt einzufüh-
ren, insbesondere um die Ungleichgewichte durch zu niedrige deutsche
Löhne und Gehälter und die zu geringe Nachfrage Deutschlands auf dem
europäischen Binnenmarkt zu überwinden;

8. sich auf nationalstaatlicher und EU-Ebene für ein Verbot von Credit Default
Swaps (CDS), Leerverkäufen, Bankkrediten an Hedgefonds und außerbörs-
lichem Derivatehandel einzusetzen;

9. die Verursacher endlich angemessen an den Kosten der Krise zu beteiligen:
durch die Einführung einer Banken- und Versicherungsabgabe nach US-
Vorbild unter Ausnahme der Sparkassen und Genossenschaftsbanken
sowie die Einführung einer Finanztransaktionssteuer auf alle Wertpapier-
umsätze, Derivate- und Devisenumsätze in Höhe von zunächst 0,01 Pro-
zent auf nationaler sowie 0,05 Prozent auf EU-Ebene;

10. eine Initiative zur Einbeziehung zumindest einer Teilentschuldung der
Euro-Staaten zu ergreifen.

Berlin, den 26. Oktober 2010
Dr. Gregor Gysi und Fraktion

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.