BT-Drucksache 17/3214

Sozialen Fortschritt und regionale Integration in Lateinamerika unterstützen

Vom 6. Oktober 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/3214
17. Wahlperiode 06. 10. 2010

Antrag
der Abgeordneten Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, Christine Buchholz,
Sevim Dag˘delen, Dr. Diether Dehm, Annette Groth, Heike Hänsel, Inge Höger,
Andrej Hunko, Harald Koch, Stefan Liebich, Niema Movassat, Thomas Nord,
Paul Schäfer (Köln), Alexander Ulrich, Katrin Werner und der Fraktion DIE LINKE.

Sozialen Fortschritt und regionale Integration in Lateinamerika unterstützen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Im Konzept der Bundesregierung zu Lateinamerika und der Karibik stehen
die Interessen der deutschen Unternehmen und die Vernetzung der politi-
schen und wirtschaftlichen Eliten Deutschlands und Lateinamerikas im Vor-
dergrund. Das Lateinamerikakonzept der Bundesregierung bündelt Entwick-
lungs- und Außenpolitik, weg von den Schwerpunkten Armutsbekämpfung,
Ressourcenschutz und Demokratieförderung hin zu einer einseitig auf freien
Welthandel gerichteten neoliberalen Wirtschaftsförderung. Es zielt deutlich
auf die Erschließung neuer Rohstoffe, Absatzmärkte und Investitionsfelder
für die deutsche Wirtschaft. Die sozialen Herausforderungen und Auseinan-
dersetzungen in Lateinamerika spielen im Lateinamerikakonzept der Bun-
desregierung hingegen keine Rolle; das Konzept geht damit an den Interes-
sen der Mehrheit der Menschen in Lateinamerika völlig vorbei.

2. Das Lateinamerikakonzept ordnet sich ein in die Außenwirtschafts- und
Rohstoffpolitik der Bundesregierung, die Entwicklungs- und wirtschaftliche
Zusammenarbeit künftig noch direkter mit dem Zugang zu Rohstoffen ver-
knüpfen will und sich dabei im Rahmen des sogenannten Rohstoffdialogs
eng mit der deutschen Industrie abstimmt. Das Konzept atmet damit den
Geist Jahrhunderte langer kolonialer und neokolonialer Beziehungen.

3. Der soziale Aufbruch in Lateinamerika, die Befreiung in eine zweite, näm-
lich ökonomische, ökologische, kulturelle und soziale Unabhängigkeit, zu
der sich in Lateinamerika Millionen Menschen aufgemacht haben, und die
demokratischen Verfassungsprozesse in Bolivien, Ecuador und Venezuela
werden im Lateinamerikakonzept der Bundesregierung nicht oder negativ
als populistische Tendenz reflektiert. Damit wird die Bundesregierung der
Tragweite der politischen Prozesse in Lateinamerika und den politischen
Grundprinzipien von Demokratie und Sozialstaatlichkeit in keiner Weise ge-
recht.

4. Die Bundesregierung verzichtet darauf, aus den Reformen, die in Latein-
amerika derzeit erfolgreich durchgeführt werden und die auf die Demokra-
tisierung der lateinamerikanischen Gesellschaften und auf soziale und
wirtschaftliche Teilhabe abzielen, Rückschlüsse für eine auf eine breitere

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Demokratisierung und einen sozialen Ausgleich auch in Europa gerichtete
Politik zu ziehen. Die Erfahrungen aus der Weltwirtschaftskrise hätten aber
gerade eine solche interkontinentale Suche nach neuen Politikansätzen jen-
seits der neoliberalen Wirtschafts- und Handelslogik sehr dringend nahege-
legt.

5. Die Bundesregierung verschließt sich der Einsicht, dass in Lateinamerika
längst weltweit notwendige Alternativen zum herrschenden Weltwirtschafts-
system und zur neoliberalen Wirtschafts- und Handelspolitik formuliert und
erprobt werden:

a) Unterstützt von einer breiten sozialen Mobilisierung an der Basis haben
sich in fast allen Ländern Südamerikas und in einigen Ländern Mittel-
amerikas und der Karibik linke oder Mitte-Links-Regierungen etabliert
und – in unterschiedlicher Deutlichkeit und unterschiedlichem Tempo –
eine Abkehr vom Neoliberalismus vorgenommen. Sozialprogramme und
die Orientierung auf die Stärkung der Binnenmärkte haben dazu geführt,
dass sich soziale Unterschiede tendenziell verringern und damit die Basis
für ein nachhaltiges Wachstum geschaffen wird.

b) In der zunehmenden Süd-Süd-Kooperation, die sich in Lateinamerika
vollzieht und die in Projekten wie ALBA, CELC und UNASUR, mit der
Gründung eigenständiger regionaler Entwicklungsbanken sowie im star-
ken entwicklungspolitischen Engagement von Kuba, Venezuela und an-
deren Ländern ihren Ausdruck findet, liegt ein großes Potenzial für eine
eigenständige soziale Entwicklung auf dem Kontinent. Die Bundesregie-
rung hat diese Entwicklungen bislang nicht unterstützt und teilweise so-
gar gezielt unterlaufen.

c) Der Kampf um mehr soziale, wirtschaftliche und politische Teilhabe der
bislang davon ausgeschlossenen Bevölkerungsteile muss gegen erhebliche
Widerstände seitens derer geführt werden, die ihre hergebrachten Privi-
legien im äußersten Fall auch mit Gewalt verteidigen, wie das Beispiel des
Putsches in Honduras (2009), des versuchten Putsches in Venezuela (2002)
und der Sezessionsbestrebungen im Osten Boliviens zeigten. Die Bundes-
regierung ist ihrem verbalen Anspruch, Menschenrechte und Menschen-
rechtsverteidiger schützen und den Aufbau demokratischer, rechtsstaat-
licher Strukturen unterstützen zu wollen, bislang in ihrer Lateinamerika-
politik nicht wirklich gerecht geworden.

Obgleich die Bundesregierung in ihrem Konzept wie in ihrer politischen
Alltagsrhetorik viel Wert auf gute Regierungsführung in den Partnerländern
und auf die Einhaltung der Menschenrechte legt, verzichtet sie darauf, die
Situation in den Ländern anzusprechen, in denen die Menschenrechte und
Menschenrechtsverteidiger am stärksten bedroht sind, wie Kolumbien oder
Mexiko, wo die Ermordung von Gewerkschaftern und Aktivisten sozialer
Bewegungen sowie Vertreibungen und der Raub ökonomischer und sozialer
Existenzgrundlagen für viele Menschen an der Tagesordnung sind. Auch der
Putsch in Honduras vom 28. Juni 2009 und die nach wie vor katastrophale
Menschenrechtslage dort sind der Bundesregierung kaum Erwähnung wert.

Die Bürgerkriegssituation und die tägliche Gewalt in Kolumbien bleiben
eine offene Wunde im demokratischen Entwicklungsprozess in Latein-
amerika. Die Bundesregierung verzichtet bislang darauf, aktiv auf die
Regierung Kolumbiens einzuwirken, die Politik der Straflosigkeit für be-
stimmte Verbrechen zu beenden und einen Prozess der Demokratisierung
und Rechtsstaatlichkeit einzuleiten.

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II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. ihr Lateinamerikakonzept mit dem Titel „Deutschland, Lateinamerika und
die Karibik: Konzept der Bundesregierung“ zurückzuziehen und ein neues
Konzept zu erarbeiten, das

– die sozialen Herausforderungen und Auseinandersetzungen in Latein-
amerika und im Verhältnis zwischen Lateinamerika und Europa analy-
siert und den Einsatz der Menschen in Lateinamerika für die Verwirk-
lichung ihrer demokratischen und sozialen Rechte zum Ausgangspunkt
für die Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Lateinamerika
nimmt,

– die Fortschritte bei der Herstellung von mehr sozialer Gerechtigkeit, die
in vielen lateinamerikanischen Ländern während der letzten Jahre erzielt
werden konnten, benennt und deren Konsolidierung und Vertiefung als
Ziel der Zusammenarbeit mit Lateinamerika formuliert,

– die demokratischen verfassungsgebenden Prozesse in Bolivien, Ecuador
und Venezuela anerkennt und würdigt,

– die Erfahrungen der erfolgreichen Armutsbekämpfung in vielen latein-
amerikanischen Staaten und der stabilisierenden Wirkung wirtschafts-
und finanzpolitischer Regulation im Kontext der Weltwirtschaftskrise für
eine Neuformulierung entwicklungs-, wirtschafts- und handelspolitischer
Konzepte aufgreift,

– den Grundsatz unterstützt, dass Bodenschätze, Wasser und Wälder prinzi-
piell im öffentlichen Eigentum verbleiben müssen,

– sich eine gleichberechtigte Partnerschaft zum Ziel setzt, die Entwick-
lungspotenziale, die in einer eigenständigen regionalen Integration und
Süd-Süd-Kooperation stecken, erkennt und Vorstellungen formuliert, wie
diese unterstützt werden kann,

– dabei die Beiträge Kubas bei der Überwindung von Analphabetismus und
bei der medizinischen Grundversorgung in vielen Ländern Latein-
amerikas würdigt und Vorschläge für eine trilaterale Entwicklungs-
partnerschaft mit Kuba zugunsten Dritter formuliert;

2. auf die Durchsetzung von Freihandel, Deregulierung und Privatisierung, ins-
besondere der Privatisierung von Bodenschätzen, Saatmitteln, Pflanzen und
Wasser, sowie auf Wettbewerbs-, Patent- und Investitionsschutzregeln, die
über die Regeln der Welthandelsorganisation hinausgehen, zu verzichten;

3. sich entsprechend innerhalb der Europäischen Union (EU) für die Neuver-
handlung der Assoziierungs-, Handels- und Wirtschaftspartnerschafts-
abkommen unter entwicklungsförderlichen Verhandlungsmandaten einzu-
setzen;

4. innerhalb der EU dafür zu werben, dass auf der Grundlage bereits vorliegen-
der Vorschläge einiger zentralamerikanischer Regierungen ein Kompen-
sationsfonds eingerichtet wird, aus dem lateinamerikanische Staaten in
Eigenverantwortung Projekte zum Klimaschutz und für ihre soziale und
wirtschaftliche Entwicklung finanzieren können; dazu gehört auch die
Finanzierung des Kompensationsfonds für das ecuadorianische „ITT-Pro-
jekt“, aus dem Ecuador für die Einnahmeausfälle entschädigt werden soll,
die dem Land aus dem Verzicht der Ausbeutung des Ölfeldes Ishpingo
Tambococha Tiputini (ITT) zugunsten des Schutzes der Amazonas-Region
entstehen;

5. sich für den Schutz von Menschenrechtsverteidigern in Lateinamerika, ins-
besondere in Kolumbien, Honduras und Mexiko, einzusetzen und sich aktiv

Drucksache 17/3214 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
darum zu bemühen, dass in Honduras eine Rückkehr zu einer demokra-
tischen und rechtsstaatlichen Ordnung vollzogen und der demokratische
Verfassungsprozess, der durch den Putsch vom 28. Juni 2009 beendet wor-
den war, wieder aufgenommen werden kann;

6. das neu gefasste Lateinamerikakonzept dem Deutschen Bundestag zur Dis-
kussion zu stellen.

Berlin, den 5. Oktober 2010

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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