BT-Drucksache 17/3147

Sanktionsmaßnahmen bei vermeintlicher "Integrationsverweigerung"

Vom 29. September 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/3147
17. Wahlperiode 29. 09. 2010

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Sevim Dag˘delen, Jan Korte, Ulla Jelpke, Ulrich Maurer,
Wolfgang Neskovic, Petra Pau, Jens Petermann, Frank Tempel und der Fraktion
DIE LINKE.

Sanktionsmaßnahmen bei vermeintlicher „Integrationsverweigerung“

Der Bundesminister des Innern, Dr. Thomas de Maizière, erklärte in der ARD-
Sendung „Bericht aus Berlin“ vom 5. September 2010, dass es „vielleicht 10
bis 15 Prozent wirkliche Integrationsverweigerer“ gebe, um die man sich ver-
stärkt kümmern müsse. Erstzuwanderer und Ausländer, die finanzielle Unter-
stützungen erhielten, seien zur Teilnahme an Integrationskursen verpflichtet.
Wer diese Verpflichtungen nicht erfülle, werde zunächst gemahnt, später „sollte
es auch Sanktionen geben“.

In der Antwort der Bundesregierung vom 13. September 2010 auf die Schrift-
liche Frage 4 der Abgeordneten Sevim Dag˘delen, Fraktion DIE LINKE., auf
Bundestagsdrucksache 17/2963 heißt es zum Begriff der Integrationsverweige-
rung: „Integrationsverweigerung ist gekennzeichnet durch die Tendenz zur
selbst gewählten Abschottung, die Nichtteilnahme am gesellschaftlichen Leben
und an den angebotenen Deutschkursen sowie die Ablehnung des deutschen
Staates“.

Der innenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Dr. Hans-Peter
Uhl (CSU), kündigte im scharfen Tonfall an, es könne nicht sein, „dass ein
Ausländer, der sich weigert, Deutsch zu lernen, gegenüber diesem Staat die
Hand aufhält und reichlich kassiert – und zwar für sich, seine Frau und seine
Kinder. Wenn das in großer Zahl vorkommt, sagt die ansässige deutsche Be-
völkerung: Jetzt reicht’s!“ (Kölner Stadt-Anzeiger, 16. September 2010). Die
Union wolle deshalb noch im Herbst tätig werden, um ausländische Integra-
tionsverweigerer strenger zu bestrafen. Dies dürfe nicht im Ermessen der zu-
ständigen Behörden liegen. Auch Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel kündigte
eine Überprüfung der Sanktionspraxis an (Plenarprotokoll 17/58, S. 6046).

Doch die „Denunziation von Kursabbrechern als ‚Integrationsverweigerer‘ bla-
miert sich vor der Tatsache, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge
selber im Juli dieses Jahres aus finanziellen Gründen eine Zulassungssperre für
eine freiwillige Teilnahme an den Integrationskursen erlassen musste“, erklärte
der Vorsitzende des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration

und Migration (SVR) Prof. Dr. Klaus J. Bade (Pressemitteilung vom 15. Sep-
tember 2010).

Nach geltendem Recht können zur Integrationskursteilnahme Verpflichtete von
den Ausländerbehörden „mit Mitteln des Verwaltungszwangs“ zur Erfüllung
der Teilnahmepflicht „angehalten“ werden (§ 44a des Aufenthaltsgesetzes, –
AufenthG). Sanktionsmöglichkeiten bestehen auch, wenn „ein Ausländer sei-
ner Teilnahmepflicht aus von ihm zu vertretenden Gründen nicht“ nachkommt.

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Nach § 8 Absatz 3 AufenthG ist dies auch bei der Verlängerung der Aufent-
haltserlaubnis zu berücksichtigen. Bei türkischen Staatsangehörigen mit einem
assoziationsrechtlich gefestigten Aufenthaltsstatus kommt eine Beendigung des
Aufenthalts aus diesem Grunde jedoch nicht in Betracht (vgl. die Verwaltungs-
vorschriften zum AufenthG, Nr. 8.4.4).

Vor allem sozialrechtliche Sanktionen im Rahmen einer Eingliederungs-
vereinbarung nach § 15 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch (SGB II) können
bei einer Nichtteilnahme am Integrationskurs verhängt werden (vgl. § 44a
Absatz 1 Nummer 2 und Satz 2 AufenthG). Eine Kürzung der Leistungen um
30 Prozent ist nach § 31 Absatz 1 SGB II in solchen Fällen die Folge. Im Wie-
derholungsfall werden die Leistungen um 60 Prozent gekürzt, bei weiteren
Pflichtverletzungen um 100 Prozent (§ 31 Absatz 2 und 3 SGB II). Bei Kürzun-
gen um mehr als 30 Prozent „können“ „in angemessenem Umfang ergänzende
Sachleistungen oder geldwerte Leistungen“ erbracht werden, wenn minderjäh-
rige Kinder der Bedarfsgemeinschaft angehören, „soll“ dies der Fall sein.

Die Fragestellerin hat bereits im Mai 2009 im Rahmen einer Kleinen Anfrage
die Bundesregierung nach Kenntnissen zur Sanktionspraxis bei Nichtteilnahme
am Integrationskurs befragt (vgl. Bundestagsdrucksache 16/12979, Antwort
der Bundesregierung zu den Fragen 11 bis 13). Die Bundesregierung verfügte
damals über keinerlei entsprechende Erkenntnisse, da für die Ausführung des
Aufenthaltsgesetzes die Länder zuständig seien, und soweit der Bund zuständig
sei, gäbe es keine entsprechenden statistischen Erhebungen.

Die Fragestellerin wiederholt vor dem Hintergrund der aktuellen Debatte diese
Fragen zur praktischen Anwendung der bestehenden Sanktionsmöglichkeiten
und räumt der Bundesregierung vorsorglich eine längere Frist zur Beantwor-
tung dieser Anfrage ein, damit sie sich empirische Erkenntnisse und Einschät-
zungen zu dieser Frage durch eine Abfrage an die Bundesländer bzw. an unter-
geordnete Behörden verschaffen kann.

Im Rahmen einer solchen Länderabfrage kann die Bundesregierung auch Er-
fahrungen zur ausweisungsrechtlichen Praxis erfragen. Seit August 2007 be-
steht nach dem Aufenthaltsgesetz die Möglichkeit einer Ausweisung im Einzel-
fall, wenn auf Kinder oder Jugendliche eingewirkt wird, „um Hass auf Angehö-
rige anderer ethnischer Gruppen oder Religionen zu erzeugen“, wenn eine an-
dere Person zur Eingehung der Ehe genötigt oder dies versucht wird oder wenn
eine andere Person „in verwerflicher Weise“ davon abgehalten wird, „am wirt-
schaftlichen, kulturellen oder gesellschaftlichen Leben … teilzuhaben“ (§ 56
Absatz 3 Nummer 9 bis 11 AufenthG). In der Antwort der Bundesregierung auf
Bundestagsdrucksache 17/1367 zu Frage 12 musste die Bundesregierung auch
hierzu einräumen, über keinerlei Erkenntnisse zur Anwendungspraxis dieser
Bestimmung zu verfügen.

Schließlich können im Rahmen einer Länderabfrage Erkenntnisse zu Sanktio-
nen zur Durchsetzung der Schulpflicht gewonnen werden.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Welche empirischen Erkenntnisse und Einschätzungen zur Anwendung des
§ 8 Absatz 3 AufenthG liegen der Bundesregierung (nach entsprechender
Befragung der Bundesländer) vor?

2. Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung (nach entsprechender Befra-
gung der Bundesländer) darüber, wie häufig die Ausländerbehörden Perso-
nen, die ihrer Teilnahmepflicht aus von ihnen zu vertretenden Gründen nicht
nachgekommen sind,

a) nach § 44a Absatz 3 Satz 1 AufenthG auf die möglichen rechtlichen Aus-

wirkungen ihres Handelns hingewiesen haben,

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b) nach § 44a Absatz 3 Satz 2 AufenthG durch Mittel des Verwaltungs-
zwangs zur Erfüllung der Teilnahmepflicht „angehalten“ haben,

c) nach § 44a Absatz 3 Satz 3 AufenthG Gebührenbescheide in welcher
Höhe erhoben haben,

und welche näheren Kenntnisse über die Staatsangehörigkeit und den Auf-
enthaltsstatus der betroffenen Personen gibt es?

3. Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung (nach entsprechender Befra-
gung der Bundesländer bzw. von zuständigen Bundesbehörden) darüber,
wie häufig Personen die Hilfen zum Lebensunterhalt gekürzt oder gänzlich
versagt wurden, weil sie ihrer Pflicht zur Integrationskursteilnahme nicht
nachgekommen sind, und welche näheren Kenntnisse über die Staatsange-
hörigkeit und den Aufenthaltsstatus der betroffenen Personen gibt es?

4. Was ist der Bundesregierung (nach entsprechender Befragung der Bundes-
länder bzw. von zuständigen Bundesbehörden) dazu bekannt, inwieweit
Träger im Rahmen des SGB II Leistungsempfangende zur Integrations-
kursteilnahme im Rahmen einer Eingliederungsvereinbarung verpflichten,
wenn unzureichende Deutschkenntnisse vorliegen, und aufgrund welcher
Kenntnisse hält sie es gegebenenfalls für wahrscheinlich, dass dies in nen-
nenswertem Umfang nicht geschieht (bitte ausführen)?

5. Was ist der Bundesregierung (nach entsprechender Befragung der Bundes-
länder bzw. von zuständigen Bundesbehörden) dazu bekannt, inwieweit
Träger im Rahmen des SGB II nicht die nach § 31 SGB II zwingend vorge-
sehenen Sanktionen ergreifen, wenn einer Verpflichtung zur Sprachkurs-
teilnahme nicht nachgekommen wird?

6. Hält es die Bundesregierung für realitätsnah, anzunehmen, dass Betroffene
existenzgefährdende Leistungskürzungen zwischen 30 und 100 Prozent in
Kauf nehmen könnten, weil sie sich weigern, an einem Sprachkurs teilzu-
nehmen, oder sind in solchen Fällen nicht vielmehr andere Gründe als eine
mögliche „Integrationsverweigerung“ als Erklärung für die Nichtteilnahme
wahrscheinlich (bitte ausführen)?

7. Welche Erkenntnisse, Erfahrungen und Einschätzungen hat das Bundesamt
für Migration und Flüchtlinge (BAMF) dazu, inwieweit zur Teilnahme
Verpflichtete nicht ordnungsgemäß an Integrationskursen teilnehmen (so-
weit möglich auch nach Staatsangehörigkeiten differenzieren), und was ist
dem Bundesamt über die Gründe hierfür bekannt?

8. Welche Sanktionsmöglichkeiten bei „Schulverweigerung“ bestehen in den
einzelnen Bundesländern, wie sind die entsprechenden Erfahrungen hier-
mit, und welche Daten und Erkenntnisse (differenziert nach Bundesland,
Staatsangehörigkeit und/oder Migrationshintergrund) liegen hierzu vor?

9. Wie sind insbesondere die Erfahrungen der Bundesländer mit Befreiungen
von Schulfahrten, vom Sexualkundeunterricht bzw. vom Sportunterricht,
und welche Erkenntnisse und Einschätzungen (differenziert nach Staats-
angehörigkeit und/oder Migrationshintergrund) hat die Bundesregierung
hierzu in Hinblick auf eine mögliche „Integrationsverweigerung“?

10. Ist es für die Bundesregierung ein Zeichen der „Integrationsverweigerung“,
wenn eine nach der Verfassungs- und Rechtslage im Ausnahmefall mögli-
che Befreiung vom Sportunterricht aus religiösen Gründen beantragt und
genehmigt wird (bitte ausführen)?

11. Inwieweit ist nach Ansicht der Bundesregierung eine „Integrationsverwei-
gerung“ etwas, das nur Menschen mit Migrationshintergrund betrifft, wenn
sie als Kennzeichen einer „Integrationsverweigerung“ benennt: „die Ten-

denz zur selbstgewählten Abschottung“, „die Nichtteilnahme am gesell-
schaftlichen Leben“ und „die Ablehnung des deutschen Staates“, insofern

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a) eine Tendenz zur selbstgewählten Abschottung (vor Armut und Migra-
tion nämlich) gerade auch bei sozial besser Gestellten festzustellen ist,
etwa durch Fortzug in andere Wohngegenden, durch den Besuch von
Privatschulen, durch das Festhalten an einem sozial selektiven Schul-
system usw.,

b) auch viele Menschen ohne Migrationsgeschichte aus unterschiedlichen
Gründen am gesellschaftlichen Leben nicht teilnehmen bzw. unter ande-
rem aus finanziellen Gründen vom gesellschaftlichen Leben geradezu
ausgeschlossen werden (unzureichende Hilfen nach den Sozialgesetz-
büchern bzw. dem Asylbewerberleistungsgesetz),

c) die „Ablehnung des deutschen Staates“ bei Menschen ohne Migrations-
hintergrund stärker zu sein scheint als bei Menschen mit Migrationsge-
schichte, wie jedenfalls der „Gallup Koexistenz-Index 2009“ andeutet,
wonach deutsche Muslime (die zumeist Migrationshintergrund haben)
sich mit dem Land Deutschland in stärkerem Maße identifizieren (zu 40
Prozent) als die allgemeine Bevölkerung (32 Prozent) und sie auch viel
stärker in die staatlichen Institutionen vertrauen?

12. Inwieweit kann nach Ansicht der Bundesregierung von einer „Integrations-
verweigerung“ bei „Nichtteilnahme … an den angebotenen Deutschkursen“
gesprochen werden, wenn aktuell das Angebot an Deutschkursen aus Kos-
tengründen eingeschränkt wird, und inwieweit lässt dies auf eine „Integra-
tionsverweigerung“ auf Seiten der Bundesregierung schließen?

13. Wie hoch schätzt die Bundesregierung den Anteil der „Integrationsverwei-
gerer“ innerhalb der deutschen Bevölkerung ohne Migrationshintergrund,
vor dem Hintergrund, dass nach Auffassung der Bundesregierung Integra-
tion ein beiderseitiger Prozess ist, der auch von der Mehrheitsgesellschaft
mitgestaltet werden muss, während aber zahlreiche Studien darauf hindeu-
ten, dass es eine erhebliche Zahl von Deutschen ohne Migrationshinter-
grund gibt, die einer Integration von Migrantinnen und Migranten eher
bzw. auch offen ablehnend gegenüberstehen?

14. Welche Maßnahmen und Sanktionen plant die Bundesregierung in Bezug
auf die nicht unerhebliche Zahl von deutschen „Integrationsverweigerern“
ohne Migrationsgeschichte, und ist sie insbesondere der Auffassung, mit
Begriffen wie „Integrationsverweigerung“ dem Anliegen der Integration
überhaupt gerecht zu werden (bitte darlegen)?

Berlin, den 27. September 2010

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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