BT-Drucksache 17/3063

Technikfolgenabschätzung im Bundestag und der Gesellschaft stärken

Vom 29. September 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/3063
17. Wahlperiode 29. 09. 2010

Antrag
der Abgeordneten Hans-Josef Fell, Krista Sager, Sylvia Kotting-Uhl, Ekin Deligöz,
Katja Dörner, Kai Gehring, Priska Hinz (Herborn), Agnes Krumwiede, Monika
Lazar, Tabea Rößner und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Technikfolgenabschätzung im Bundestag und der Gesellschaft stärken

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Seit 20 Jahren verfügt der Deutsche Bundestag über ein wissenschaftliches
Beratungsbüro für Technikfolgen-Abschätzung (TAB). Damit erhält der Deut-
sche Bundestag für seine politische Entscheidungsfindung wertvolle, qualita-
tive, hochwertige und interessensunabhängige Beratungsgrundlagen. Nur we-
nige Parlamente der Welt verfügen über ähnliche Einrichtungen.

17 Jahre lang wurde politisch um eine Institution für Technikfolgenabschätzung
gerungen; 1990 wurde schließlich das TAB nach dem Vorbild des „Office of
Technology Assessment“ in Washington eingerichtet – wobei es dieses bereits
15 Jahre erfolgreich überlebt. Mit einem Etat von rund 2 Mio. Euro arbeitet es
ausschließlich für den Bundestag. Als wissenschaftliche Einrichtung liefert das
TAB aufbereitete Information, die im Gegensatz zu Material von Verbänden,
Lobbyisten oder der Wirtschaft nicht Interessen geleitet ist. Durch seine Exper-
tise und Beratung werden die Abgeordneten gerade auf Gebieten, die komplexe
und vor allem neuartige technologische und sozioökonomische Sachverhalte
betreffen, in ihrer Meinungsbildung unterstützt.

Zentrale Aufgabe der Technikfolgenabschätzung (TA) ist es, die Potenziale von
neuen Technologien zu skizzieren und gleichzeitig deren gesellschaftliche und
ökologische Auswirkungen abzuschätzen. Die Dimensionen sind dabei neben
der technischen Machbarkeit und neben dem Nutzen für Wirtschaft und Gesell-
schaft auch gesellschaftliche Aspekte wie soziale Akzeptanz, Verbraucher-
oder Datenschutz, gesundheitliche Auswirkungen sowie gender- oder friedens-
politische Fragen.

In den 90er-Jahren lag der Fokus der TA noch stark auf den technologischen
Aspekten von Innovationen: Themen wie Biotechnologie, Laser- und Mikro-
systemtechnik oder Informations- und Kommunikations-Technologien standen
auf dem Prüfstand. Dabei richtete das TAB immer wieder ein besonderes

Augenmerk auf den Datenschutz. Zunehmend hat sich der Blickwinkel gewei-
tet: Heute sind vermehrt sozialwissenschaftliche und ökologische Aspekte wie
E-Learning, Internet in Entwicklungsländern und behinderungskompensie-
rende Technologien Thema in der Technikfolgenabschätzung.

Im Rückblick wurde eine Vielzahl von Entscheidungen des Bundestages durch
die Technikfolgenabschätzung beeinflusst. Einige sind dabei hervorzuheben:

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– In den sehr komplexen und emotional aufgeladenen Debatten um die Bio-
ethik hat das TAB mit seinen Berichten wichtige Hilfestellungen für eine
differenzierte Meinungsbildung gegeben. Schon 2000 wies es darauf hin,
dass in der Pränataldiagnostik Rechtslücken bestünden. Damit gab es den
Anstoß und lieferte viele Grundlagen für die intensive Diskussion um das
Gendiagnostikgesetz.

– Wiederholt ist das TAB erfolgreich seiner Aufgabe nachgekommen, Poten-
ziale neuer Technologien aufzuzeigen. Beispielsweise wurden die Möglich-
keiten der Geothermie umfassend untersucht. In der Folge wurde der Tech-
nologie deutlich mehr Beachtung in der Gesellschaft geschenkt.

– Illusterstes Beispiel dafür, wie eine Untersuchung des TAB entscheidend
dazu beigetragen hat, unsinnige Entwicklungen zu verhindern, ist das Raum-
schiff „Sänger II“. Die im TAB-Bericht aufgezeigten Handlungsoptionen
warfen grundlegende Fragen nach der Wirtschaftlichkeit der Entwicklung
eines neuen Raumgleiters auf. Dadurch hat das TAB dazu beigetragen, dass
in erheblichem Maße unnötige öffentliche Forschungsausgaben vermieden
wurden.

Das TAB ist eingebunden in das Europäische Netzwerk der parlamentarischen
Einrichtungen für Technikfolgenabschätzung, dem European Parliamentary
Technology Assessment (EPTA) – wobei die EPTA-Präsidentschaft 2011 in
deutscher Hand liegt. Diese internationale Zusammenarbeit war bislang vor-
wiegend darauf fokussiert, Konzepte und Methoden der Technikfolgenabschät-
zung zu diskutieren. Zunehmend zeigt sich aber, dass die Fragestellungen selbst
einer intensiven internationalen Betrachtungsweise bedürfen. So wurde bereits
2003 ein vom Deutschen Bundestag beauftragter TAB-Bericht zu Nanotechno-
logie ausgeweitet und länderübergreifend bearbeitet. Resultat war ein deutlich
differenzierterer, umfassender Bericht. Nicht zuletzt aufgrund dieses Prozesses
hat die EU-Kommission die Technikfolgenabschätzung im Bereich der Nano-
technologie innerhalb der EU-Kommission institutionalisiert.

Technologiemärkte und damit verbunden auch die Technikfolgenabschätzung
sind grundsätzlich global ausgerichtet. Da gerade in Europa die Tragweite von
Entscheidungen aber immer weiter reicht, sind zunehmend auch die verschie-
denen nationalen Perspektiven der einzelnen europäischen Länder einzubezie-
hen. Damit verbunden ist ein Mehraufwand bei der Erstellung der Berichte
durch Abstimmung mit den internationalen Partnern.

Die Arbeit des Parlaments deckt eine immer größere Bandbreite an Themenfel-
dern ab. Bedarf an umfänglicher Technikfolgenabschätzung wird dabei aus fast
allen Gebieten der Fachpolitik angemeldet. TAB und Fraunhofer-Institut für
System- und Innovationsforschung (ISI) haben die Notwendigkeit von ver-
schiedenartiger Information erkannt und das Portfolio an Berichtsformen diver-
sifiziert. So liefern die Forschungsstellen neben klassischen TAB-Berichten
auch Beratung in anderen Formen, die sich als sehr hilfreich erwiesen haben:
Innovationsreports bei hoher Dynamik oder Brisanz eines Themas, Politik-
Benchmarking-Studien für internationale Vergleiche und Zukunftsreports für
Ausblicke und Trendanalysen. In vielen Politikbereichen wären entsprechende
Informationen für die Abgeordneten von großem Nutzen. Aus Kapazitäts-
mangel kann das TAB die vielen Berichtswünsche aus dem Parlament aber
nicht alle bearbeiten, so mussten alleine seit Beginn dieser Legislaturperiode
etwa zwei Drittel abgewiesen werden.

Die Einrichtung des Büros für Technikfolgen-Abschätzung hat sich auch unter
haushalterischen Gesichtspunkten als lohnend erwiesen. Über die Jahre hinweg
konnten durch die Beratung des TAB – neben den Ausgaben für den Raumglei-
ter – wahrscheinlich viele Milliarden Euro eingespart werden. Damit hat sich

das TAB als erfolgreiche und wichtige Institution zur Vermeidung von Mittel-

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verschwendung etabliert. Es kann spekuliert werden, ob je ein Kernkraftwerk
gebaut, und damit teurer Atommüll produziert und die Risiken der Atomkraft
eingegangen worden wären, wenn die Technikfolgenabschätzung bereits in den
50er-Jahren etabliert gewesen wäre.

Trotz der außerordentlich positiven Wirkung, zeigen sich im Gesamtbild der
Technikfolgenabschätzung einige Verbesserungsmöglichkeiten:

Aufgabe des TAB ist es, möglichst neutral die Vielfalt der Meinungen und Ein-
schätzungen zu den Untersuchungsgegenständen abzubilden. Aufgrund der
sehr beschränkten Mittel ist das TAB allerdings dazu gezwungen, vorwiegend
den kostengünstig zugänglichen wissenschaftlichen Mainstream zu referieren.
Vorsichtige Einwände aus der Risikoforschung oder vielversprechende techno-
logische Entwicklungen, die sich erst ankündigen, laufen dabei Gefahr, nicht
immer wahrgenommen zu werden. So wird im TAB-Bericht über CO2-armen
Verkehr aus dem Jahr 2006 die Elektromobilität mit Batterien als weitgehend
bedeutungslose Nischenanwendung dargestellt, obwohl schon damals die Ent-
wicklungsarbeiten zu Elektroantrieben in Fernost ebenso wie in Deutschland
intensiviert wurden. Das TAB sollte in Zukunft also finanziell in die Lage ver-
setz werden, auch weniger gängige Quellen zu erschließen und jenseits der
Hauptforschungsrichtungen erzielte Erkenntnisse einzubeziehen.

Nicht immer werden die Erkenntnisse aus den TAB-Berichten konsequent in
politisches Handeln umgesetzt. Auch wenn die wissenschaftliche Analyse be-
stimmte Handlungsoptionen nahelegt, können diese sich nicht immer durchset-
zen.

So hat das TAB in Sachen Kernfusion im Jahre 2002 – im Vorfeld der Entschei-
dung zum internationalen Fusionsexperiment ITER – wichtige Fragen aufge-
worfen, die damals von entscheidenden Akteuren weitgehend ignoriert wurden.
Kostenexplosionen und jahrzehntelange zeitliche Verzögerungen der Kernfu-
sionsforschung belasten nun die öffentlichen Haushalte, ohne dass in absehba-
rer Zeit ein energiepolitischer Nutzen absehbar wäre.

Auch wurde wiederholt in TAB-Berichten darauf hingewiesen, dass der Nutzen
transgenen Saatguts in Entwicklungs- und Schwellenländern begrenzt ist. Bis-
her gibt es weltweit keine wissenschaftlich solide Studie, mit der nachgewiesen
wird, dass der Ertrag durch Anbau von gentechnisch veränderten Pflanzen
langfristig steigt – erst recht nicht, wenn man Anbaubedingungen und Bedürf-
nisse der Entwicklungsländer berücksichtigt. Trotzdem werden Haushaltsmittel
für die Forschung zu globalen Problemen wie Welternährung oder Klimawan-
del im Agrarbereich für die Entwicklung gentechnisch veränderter Pflanzen
verschwendet, anstatt sie in die Entwicklung nachhaltiger und an kleinbäuer-
liche Strukturen angepasste Methoden zu investieren.

Technikfolgenabschätzung sollte nicht nur im parlamentarischen Raum gestärkt
werden, sondern vielmehr auch auf Regierungsebene in Bund und Ländern
ebenso wie in Forschungseinrichtungen und Universitäten fest etablierter Be-
standteil von Politikberatung und Forschung sein. Nach wie vor ist vor diesem
Hintergrund beklagenswert, dass die Landesregierung Baden-Württemberg die
Akademie für Technikfolgenabschätzung in Stuttgart geschlossen hat. Nur eine
umfassende Technikfolgenabschätzung kann gewährleisten, dass bei neuen
Technologien wie der Gentechnik oder der Nanotechologie trotz hoher Ge-
schwindigkeit des Entwicklungsprozesses ggf. Zeit für Korrekturen bleibt und
jederzeit das Vorsorgeprinzip angewandt wird.

Weiteres Problem ist, dass für die Risikoforschung im Bundeshaushalt vorgese-
hene Mittel für Werbe- oder Kommunikationskampagnen fehlallokiert werden.
So wurden speziell für die Risikoforschung bei gentechnisch veränderten Pflan-

zen Fördermittel reserviert. In den letzten Jahren zeigte sich jedoch, dass diese
Gelder nicht zur Erforschung der Risiken für Mensch und Umwelt durch den

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Anbau von gentechnisch veränderten Pflanzen zum Einsatz kommen, sondern
für die Entwicklung von gentechnisch veränderten Pflanzen und für Kommuni-
kationsplattformen zweckentfremdet werden. Ein solcher Missbrauch öffent-
licher Gelder für die Risikoforschung muss zukünftig ausgeschlossen werden.

II. Der Deutsche Bundestag wolle beschließen:

1. die Gelder des Büros für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bun-
destag im Haushalt 2011 angemessen aufzustocken, um die Arbeitsfähigkeit
des TAB vollumfänglich zu erhalten;

2. mittelfristig die Ausgaben für das TAB kontinuierlich zu erhöhen, um den
steigenden Anforderungen an eine Erkenntnis gestützte Entscheidungsfin-
dung in komplexen Sachlagen Rechnung zu tragen;

3. die Technikfolgenabschätzung inklusive der unabhängigen Begleitforschung
als festen Bestandteil der Forschung auszubauen und in den Forschungspro-
grammen angemessen finanziell auszustatten. In besonders kritischen Berei-
chen der Projekt- und Ressortforschung sollten grundsätzlich 5 Prozent für
TA bereitgestellt werden;

4. die Bundesregierung aufzufordern, eine Strategie zu entwickeln, wie die
Technikfolgenabschätzung im gesamten nationalen Forschungs- und Wirt-
schaftsbereich gestärkt werden kann. Insbesondere sollen dahingehende
Defizite in Forschungseinrichtungen und Universitäten abgebaut werden, so
dass die Abschätzung von Technikfolgen zum selbstverständlichen Bestand-
teil in der Forschung wird;

5. die Bundesregierung aufzufordern, im internationalen Raum sich für eine
Stärkung der TA einzusetzen. Dies gilt vor allem auf EU-Ebene für das
8. Forschungsrahmenprogramm und die Europäische Atomgemeinschaft,
wie auch im internationalen politischen Geschehen. Auch sollte z. B. inner-
halb der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
ebenso wie bei den Vereinten Nationen die TA institutionalisiert werden.

Berlin, den 28. September 2010

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

Begründung

Zu den Nummern 1 und 2

Die Mittelausstattung des TAB ist mit jährlich 2,04 Mio. Euro seit 15 Jahren
unverändert und wegen der Inflation faktisch rückläufig. Neben dem vom For-
schungszentrum Karlsruhe betriebenen TAB selbst werden aus diesen Mitteln
Studien bei ISI sowie weiteren Sachverständigen und Instituten finanziert. Er-
gebnis sind etwa sieben umfassende Veröffentlichungen pro Jahr. Vom ersten
Vorschlag durch den Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-
schätzung bis zum fertigen Bericht vergehen dabei etwa zweieinhalb Jahre.
Einbußen weder hinsichtlich Qualität und Quantität noch hinsichtlich Bearbei-
tungsdauer sind nicht wünschenswert, aber durch die faktische Mittelkürzung
mittelfristig unausweichlich. Eine Etatanpassung ist daher dringend geboten.

Der Aufwand ist immens, die Ergebnisse wichtig – dennoch finden die Erkennt-

nisse der TAB-Berichte nur unzureichend Eingang in die öffentliche Diskus-
sion. Seit Jahren bemüht sich der Berichterstatterkreis im Deutschen Bundestag

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zusammen mit dem TAB, die Ergebnisse verständlich aufzubereiten und mit
Veranstaltungen und Publikationen in die Öffentlichkeit zu tragen. Dennoch
werden die Erkenntnisse der Studien nur teilweise wahrgenommen. Eine Auf-
stockung des Budgets würde es ermöglichen, ggf. durch zusätzliche professio-
nelle Öffentlichkeitsarbeit, der Aufbereitung der Information und deren Verbrei-
tung deutlich mehr Aufmerksamkeit zu widmen.

Zu Nummer 3

Die TA muss Bestandteil jeglicher Forschungs- und Wirtschaftspolitik werden.
Dies kann niemals durch das TAB alleine geleistet werden. In vielen For-
schungsprogrammen der Bundesregierung, in Forschungsinstituten und Uni-
versitäten findet TA bereits umfangreich statt. Es gibt aber auch große Defizite,
wie beispielsweise in der Atomforschung, Gentechnik oder bei Nanopartikeln
in manchen Konsumgütern, wo Institute und Firmen sich meist mit den wirt-
schaftlichen Chancen, nicht aber mit den gesellschaftlichen Risiken und ökolo-
gischen Auswirkungen auseinandersetzen. Diese Defizite gilt es abzubauen.

Zu den Nummern 4 und 5

Forschung und wirtschaftliches Handeln sind weitgehend globalisiert. Produkte
drängen auf alle internationalen Märkte. Es ist daher erforderlich, TA interna-
tional zum Durchbruch zu verhelfen. Nur so können Verbraucher und die Um-
welt vor technologischen Fehlentwicklungen und deren Folgen geschützt und
Technologien mit hohem positivem gesellschaftlichem Gesamtwert zum
Durchbruch verholfen werden.

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