BT-Drucksache 17/3020

Planungen der Bundesregierung zur Einführung einer Bildungschipkarte

Vom 24. September 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/3020
17. Wahlperiode 24. 09. 2010

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Diana Golze, Dr. Rosemarie Hein, Dr. Petra Sitte, Jan Korte,
Agnes Alpers, Matthias W. Birkwald, Heidrun Dittrich, Klaus Ernst, Nicole Gohlke,
Ulla Jelpke, Katja Kipping, Cornelia Möhring, Ingrid Remmers, Halina Wawzyniak,
Jörn Wunderlich und der Fraktion DIE LINKE.

Planungen der Bundesregierung zur Einführung einer Bildungschipkarte

Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil vom 9. Februar 2010 das
Verfahren zur Regelsatzbemessung in der Grundsicherung für Arbeitsuchende
für verfassungswidrig erklärt. Bei den Bedarfen der Kinder, insbesondere im
Bildungsbereich, hat das Gericht einen „völligen Ermittlungsausfall“ kritisiert.
Der Gesetzgeber wurde aufgefordert, bis zum 31. Dezember 2010 eine neue Re-
gelsatzstruktur zu entwickeln und dabei „alle existenznotwendigen Aufwendun-
gen folgerichtig in einem transparenten und sachgerechten Verfahren nach dem
tatsächlichen Bedarf, also realitätsgerecht, zu bemessen“, da das bestehende
System seinem Auftrag, mit dem Existenzminimum auch die Teilhabe an Bil-
dung und am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen, nicht gerecht wird. Das
Gericht hat dabei klargestellt, dass der Bund gewährleisten muss, dass das sozio-
kulturelle Existenzminimum von Kindern, welches auf die speziellen Bedürf-
nisse von Kindern zugeschnitten sein muss, gesichert ist.

Die Bundesregierung plant nun, die Teilhabe an Bildung und am gesellschaft-
lichen Leben für Kinder mit einer sogenannten Bildungschipkarte zu gewähr-
leisten. Private Dienstleister wie VISA oder Sodexo haben der Bundesregierung
bereits angeboten, die Infrastruktur für eine solche Chipkarte zur Verfügung zu
stellen; teilweise liegen hierzu auch schon Konzepte vor. Auch die Bundesregie-
rung hat auf ihrer Homepage (www.bmas.de) ein Grobkonzept veröffentlicht.
Ziel ist es laut Bundesregierung, die Chipkarte flächendeckend einzuführen.

Aus den Verlautbarungen der Bundesregierung ergibt sich sowohl für die Kon-
zeption als auch für die gesamte Umsetzung, Finanzierung und Implementie-
rung eine Reihe von Fragen.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Welche konkreten Angebote sollen mit der „Bildungschipkarte“ bezahlt wer-
den können?

Welche der folgenden Punkte müssten nach Auffassung der Bundesregierung

auf jeden Fall, auf gar keinen Fall oder eventuell mit der Chipkarte bezahlt
werden können

a) Kinobesuch,

b) Schwimmbad,

c) Musikschule,

d) Volkshochschule,

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e) Theater,

f) Freizeitpark,

g) Fahrkarten des ÖPNV oder der Schülerbeförderung,

h) Sportverein,

i) Vereinsbeiträge,

j) Berufsakademien,

k) Sprachkurse,

l) Mittagessen an Schulen oder in Kitas,

m)Nachmittagsbetreuung,

n) mehrtägige Klassenfahrten,

o) Kopierkosten,

p) Bücher,

q) Angebote der Jugendhilfe,

r) Ferienfreizeiten,

s) Nachhilfe,

t) Förderunterricht und

u) Konzerte?

2. Soll das Guthaben auf der „Bildungschipkarte“ verschiedenen Kategorien
mit unterschiedlichen Ausgabenzielen zugeordnet werden oder soll der zur
Verfügung gestellte Betrag für die einzelnen Personen im Rahmen des oben
benannten Ausgabenbereiches frei verfügbar sein?

3. Plant die Bundesregierung einen pauschalen monatlichen Betrag auf die „Bil-
dungschipkarten“ aufzuladen, und auf welche Art und Weise wird die monat-
liche Summe gegebenenfalls ermittelt?

Oder plant die Bundesregierung die „Bildungschipkarte“ nach der Bewilli-
gung von konkreten Bedarfen bei jedem Kind individuell aufzuladen (bitte
begründen)?

4. Ist geplant, dass sich Guthaben auf der „Bildungschipkarte“ ansammelt,
wenn es in einem Monat nicht aufgebraucht wurde, und kann dieses dann in
den Folgemonaten verbraucht werden?

Wenn nein, wie soll mit „Ausgaben“ verfahren werden, die zwar regelmäßig,
aber nicht monatlich, sondern in längeren Abständen anfallen?

5. Wird bis zur flächendeckenden Einführung der „Bildungschipkarte“ das Gut-
haben an die Familien monatlich mit einer pauschalen Summe bar ausge-
zahlt?

Wenn nein, warum nicht?

Wenn ja, aus welchem Grund sollte dann später ein technisch und bürokra-
tisch aufwendiges System etabliert werden, um den Kindern in Hartz-IV-
Haushalten einen Teil ihres Existenzminimums nicht bar auszuzahlen?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/3020

6. Wird die Bundesregierung die Leistungen, die über die „Bildungschipkarte“
für Kinder im Hartz-IV-Bezug gewährleistet werden, auf den Kinderregel-
satz anrechnen bzw. mit diesem verrechnen und damit als ein Mittel einord-
nen, um dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts Genüge zu tun?

Wenn ja, inwiefern wird dann mit der „Bildungschipkarte“ zumindest antei-
lig das Sachleistungsprinzip als Grundsatz in die Existenzsicherung einge-
führt bzw. zukünftig eine Umstellung darauf ermöglicht, und wenn das
Sachleistungsprinzip dadurch nicht eingeführt wird, wie unterscheidet sich
die Leistungsgewährung im Rahmen der Chipkarte dem Grunde nach von
Essenmarken oder anderen beispielsweise im Asylrecht üblichen Sachleis-
tungen?

7. Wie will die Bundesregierung mit der „Bildungschipkarte“ garantieren,
dass das Existenzminimum in jedem Einzelfall gewährleistet wird?

8. Auf welche Art und Weise will die Bundesregierung gewährleisten, dass
den Guthaben auf der Chipkarte eine Infrastruktur an entsprechenden Ange-
boten für die konkreten Bedarfe gegenübersteht?

9. Wie will die Bundesregierung sicherstellen, dass jede Familie, die diese
„Bildungschipkarte“ erhält, die Angebote in ihrer Kommune auch wahrneh-
men kann, und wie verhält es sich mit dem Anrecht auf Teilhabe an Bildung
und gesellschaftlichem Leben, wenn in einigen Kommunen Anbieter von
Leistungen wie Musikschulen, Sportvereine etc. sich nicht am System der
Chipkarte beteiligen?

10. Wie soll die Qualität der mit der „Bildungschipkarte“ bezahlbaren Angebote
gewährleistet werden, und welche Akteure sollen im Rahmen welcher Ver-
fahren für die Qualitätssicherung verantwortlich sein?

11. Ist mit der Einführung der „Bildungschipkarte“ geplant, alle Familien mit
einer solchen auszustatten?

Wenn nein, wie will die Bundesregierung gewährleisten, dass eine Stigma-
tisierung der Kinder, die mit einer solchen Karte Angebote bezahlen, aus-
bleibt?

Wenn ja, werden die „Bildungschipkarten“ der Familien in der Grundsiche-
rung optisch oder aus anderen Gründen zu unterscheiden sein von den Chip-
karten der Familien, die sich nicht in der Grundsicherung befinden, und auf
wessen Kosten würden die Chipkarten dieser Familien aufgeladen?

12. Welche öffentlichen Institutionen und privaten Unternehmen haben nach
Erkenntnissen der Bundesregierung bereits Erfahrungen mit der techni-
schen und organisatorischen Umsetzung von guthabenbasierten Karten-
systemen für die Gewährung und Zuteilung von öffentlich finanzierten
Leistungen gesammelt, und welche Schlussfolgerungen zieht die Bundes-
regierung aus diesen Erkenntnissen?

13. Hat die Bundesregierung bereits bei privaten Anbietern um Vorschläge zur
technischen und organisatorischen Umsetzung der „Bildungschipkarte“ ge-
beten, und wenn ja, mit welchen Unternehmen und mit welchem Ergebnis?

14. Haben Unternehmen bereits ihrerseits der Bundesregierung oder dem Deut-
schen Bundestag ein Angebot zur technischen und organisatorischen Um-
setzung der „Bildungschipkarte“ unterbreitet, und wenn ja, wem und welche
Unternehmen sowie mit welchen Angebotsdetails?

15. Gibt es bereits konkrete Gesprächskontakte mit privaten Anbietern zur tech-
nischen und organisatorischen Umsetzung der „Bildungschipkarte“, und
wenn ja mit welchen Anbietern, und welchen Stand haben die Gespräche?

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16. Haben private Dienstleister an dem Konzept der Bundesregierung für die
„Bildungschipkarte“ mitgearbeitet, und wenn ja, um welche Dienstleister
handelt es sich, und wie viel Geld haben diese für Beratungsleistungen er-
halten?

17. Wer soll die Kosten für die Chipkartenlesegeräte und wer die für die Infra-
struktur insgesamt tragen, und um wie viel Geld handelt es sich hierbei
(bitte insgesamt und aufgeschlüsselt nach Bund, Länder, Kommunen und
Leistungsanbietern angeben)?

18. Welche Kompetenzen haben die JobCenter für die Erkennung und Deckung
von kinderspezifischen Bedarfen entwickelt?

19. Wie viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der JobCenter waren bislang mit
der Ermittlung und Deckung kinderspezifischer Bedarfe betraut?

20. Plant die Bundesregierung fehlende Kooperationsbereitschaft der Eltern mit
einer Kürzung der Mittel für die Kinder zu sanktionieren, und was passiert,
wenn Eltern die Weitergabe von Informationen seitens der Schule an die
ARGE verweigern?

21. Welche sachlichen Gründe hat die Bundesregierung für die geplante Inte-
gration von familien- sowie bildungspolitischen Zielen und Aufgaben, die
bislang in den originären Regelungsbereich des Achten Buches Sozialge-
setzbuch (SGB VIII) bzw. in den originären Aufgabenbereich der Schul-
und Bildungspolitik der Länder fallen, in die Arbeit der Jobcenter?

22. Welchem der beiden Träger der Grundsicherung für Arbeit – Kommune und
Bundesagentur für Arbeit – soll die Umsetzung der Deckung von bildungs-
und teilhabeorientierten Bedarfen von Kindern und Jugendlichen zugeord-
net werden, und welche Konsequenzen in Bezug auf Finanzierung und Per-
sonalwesen ergeben sich daraus?

23. Wie wird zukünftig eine Abgrenzung erfolgen zwischen Leistungen der
Existenzsicherung im Rahmen des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch
(SGB II) und Regelleistungen des Staates wie Bildung und Kinder- und
Jugendhilfe?

24. In welchem Verhältnis steht die geplante „Bildungschipkarte“ zu den ge-
planten „Zukunftskonten“, auf denen ebenfalls für Bildungszwecke verfüg-
bares Guthaben zur Verfügung gestellt und angespart werden soll?

25. Ist eine Übertragbarkeit der auf der „Bildungschipkarte“ angesparten Mittel
auf die „Zukunftskonten“ durch die Bundesregierung geplant, in der De-
batte oder bereits auszuschließen?

26. In welchem Verhältnis steht die geplante „Bildungschipkarte“ zu den ge-
planten „Lokalen Bildungsbündnissen“?

27. Welche Folgen wird die Einführung einer „Bildungschipkarte“ nach Ein-
schätzung der Bundesregierung für die lokalen Bildungslandschaften ha-
ben?

28. Welche Folgen wird die Einführung einer „Bildungschipkarte“ für bereits
bestehende Angebote haben, die heute durch öffentliche Institutionen wie
Schulen gewährleistet werden und künftig über die „Bildungschipkarte“
gleichermaßen bei privaten Anbietern „buchbar“ sein könnten, etwa Hort-
angebote, Essen in der Schule oder Förderunterricht?

29. Plant die Bundesregierung, dass das konkrete Abrufen von Sachleistungen
mit der „Bildungschipkarte“ ex post eingesehen bzw. überprüft werden
kann?
Wenn ja, warum?

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30. Wie will die Bundesregierung sicherstellen, dass die zur Durchführung der
Chipkarte erforderlichen Informationen über die einzelnen Familien und
Personen nicht auch für anderweitige Zwecke, insbesondere für private Ge-
winninteressen, verwendet werden?

31. Welche Daten sollen durch wen erfasst und wo gesammelt werden, um aus
den Pilotprojekten Schlüsse ziehen zu können, ob das Konzept der „Bil-
dungschipkarte“ funktioniert?

32. Welche Daten sollen auf der Chipkarte gespeichert werden, wie soll die
Datensicherheit, beispielsweise bei Verlust oder Diebstahl, gewährleistet
werden, und welche dieser Daten sollen von wem ausgelesen werden
können?

33. Hat die Bundesregierung bereits konkrete Pläne und/oder Kostenkalkula-
tionen bezüglich einer datenschutzkonformen technischen Lösung für die
„Bildungschipkarte“ angestellt, und wenn ja, wie sehen diese aus?

Wenn nein, wieso ist dies bisher noch nicht geschehen?

34. Stimmt die Bundesregierung zu, dass die Einführung von elektronischen
Zahlungsmitteln als Teil des Leistungssystems des SGB II grundsätzlich die
Möglichkeit beinhaltet, genau zu prüfen, wer wann wofür das vorhandene
Guthaben ausgibt und wer nicht?

Kann und will die Bundesregierung dauerhaft ausschließen, dass diese In-
formationen erhoben werden?

Wenn ja, wie?

Welche grundgesetzlichen Probleme sieht die Bundesregierung für den Fall,
dass diese Daten erhoben und ausgewertet werden und so Familien im
SGB II weitreichendem Überwachungsdruck ausgesetzt werden?

35. Ist es nach Ansicht der Bundesregierung möglich oder gar unausweichlich,
dass durch ein elektronisches Zahlungsmittel wie die geplante „Bildungs-
chipkarte“ festgestellt werden kann, in welchem Umfang die zur Verfügung
gestellten Mittel insgesamt abgerufen werden?

Sieht sich die Bundesregierung in der Pflicht, sofern sie über die „Bildungs-
chipkarte“ Kenntnis davon erhalten würde, dass über einen längeren Zeit-
raum ein ständig wachsendes Guthaben auf allen Karten zusammen nicht
aufgebraucht wird, Maßnahmen zu ergreifen, um zu gewährleisten, dass der
Bedarf der Kinder zur Teilhabe und Existenzsicherung auch tatsächlich
gedeckt wird, und wie beurteilt sie dies im Kontext des Urteils des Bundes-
verfassungsgerichts, nach dem die Bundesregierung die Teilhabe in jedem
Fall gewährleisten muss?

Berlin, den 24. September 2010

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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