BT-Drucksache 17/2980

Fehlende soziale Mindeststandards in der Call-Center-Branche

Vom 17. September 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/2980
17. Wahlperiode 17. 09. 2010

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Sabine Zimmermann, Diana Golze, Matthias W. Birkwald,
Heidrun Dittrich, Werner Dreibus, Klaus Ernst, Katja Kipping, Jutta Krellmann,
Ingrid Remmers, JörnWunderlich und der Fraktion DIE LINKE.

Fehlende soziale Mindeststandards in der Call-Center-Branche

Die Beschäftigten in der Call-Center-Branche sind mit Niedriglöhnen und
schlechtenArbeitsbedingungen konfrontiert. Nach einer Befragung der Gewerk-
schaft ver.di bewerteten 83 Prozent der Beschäftigten ihre Arbeit als „schlechte
Arbeit“ und nur 3 Prozent als „gute Arbeit“. 78 Prozent fühlen sich „leer und aus-
gebrannt“. 61 Prozent sagen, ihr Einkommen reiche nicht aus.

Seit Jahren unternimmt die Politik nichts gegen diese katastrophalen Zustände.
Noch schlimmer: Call-Center-Firmen werden jährlich mit zweistelligen Millio-
nensummen subventioniert, wie die schwarz-rote Bundesregierung 2009 in ihrer
Antwort auf die KleineAnfrage der FraktionDIE LINKE.mitteilte (Bundestags-
drucksache 16/12187).

Nach langem Kampf ist es beim Unternehmen Walters Service GmbH den dort
Beschäftigten mit ihrer Gewerkschaft ver.di gelungen, einen Haustarifvertrag
mit einem Mindestentgelt von 7,50 Euro die Stunde durchzusetzen. Aber auch
dieser Stundenlohn schützt nicht vor Armut. Darüberhinaus ist die Branche
selbst weitgehend tariflos. Die Arbeitgeber weigern sich, einen Arbeitgeberver-
band zu gründen, obwohl es mit dem Deutschen Dialogmarketing Verband e. V.
(DDV) und dem Call Center ForumDeutschland e. V. (CCF) zwei große Lobby-
verbände gibt, die als Arbeitgeberverbände agieren könnten.

Trotz dieser bekannten Fakten lehnt die Bundesregierung es ab, einen allgemei-
nen gesetzlichenMindestlohn einzuführen und in die Branche sozial regulierend
einzugreifen. Nicht einmal das unzureichende Instrument des Mindestarbeitsbe-
dingungengesetzes ist bisher für die Call-Center-Branche angewendet worden.

Bleibt die Politik untätig, droht eine weitere Verschlechterung der Arbeitsbedin-
gungen und eine Lohnspirale nach unten. Nach einer aktuellen Umfrage
(profiTel consultpartner GmbH)will jeder zweite Call-Center-Betreiber die Kos-
ten senken.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie schätzt die Bundesregierung die derzeitige Lage der Call-Center-Branche
und die Situation der dort arbeitenden Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
ein?

2. Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung über die Beschäftigungsverhält-
nisse in der Call-Center-Branche (bitte im Zeitverlauf der letzten Jahre bis
heute die jährliche Zahl der sozialversicherungspflichtigenVollzeit- und Teil-
zeitjobs sowie der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse sowie entspre-
chende volkwirtschaftliche Vergleichszahlen nennen)?

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3. Welche Rolle spielen Leiharbeit und befristete Beschäftigung in der Call-
Center-Branche?

Wie hat sich seit 2005 der Anteil dieser beiden Beschäftigungsformen an der
Gesamtbeschäftigung in der Branche entwickelt (bitte jährlich relativ und
absolut angeben sowie entsprechende volkwirtschaftliche Vergleichszahlen
nennen)?

4. Wie hat sich seit 2005 das Lohngefüge in der Call-Center-Branche entwi-
ckelt (bitte die Entwicklung der Monats- und Stundenlöhne in der Call-Cen-
ter-Branche für die letzten Jahre darstellen und dabei auch nach Beschäfti-
gungsformen und Leistungsgruppen differenzieren)?

5. Wie hat sich seit 2005 in der Call-Center-Branche die Zahl der sogenannten
Aufstocker (Erwerbstätige mit Bezug von Arbeitslosengeld II) entwickelt
(bitte auch hier nach den verschiedenen Beschäftigungsformen differenzie-
ren und entsprechende volkwirtschaftliche Vergleichszahlen nennen)?

6. Wie hoch sind die Ausgaben, die seit 2005 für aufstockende Leistungen nach
dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) an Erwerbstätige in der Call-
Center-Branche geleistet wurden (bitte die Gesamtkosten aufführen sowie
deren jährliche Entwicklung, und wenn möglich, den durchschnittlich ge-
zahlten Betrag je Erwerbstätigen nennen)?

7. Teilt die Bundesregierung die Aussage des Präsidenten der Bundesver-
einigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, Dr. Dieter Hundt, es gäbe in
der Call-Center-Branche keine sozialen Verwerfungen (Financial Times,
3. Februar 2010)?

8. Wie hoch ist der Anteil der weiblichen und männlichen Arbeitskräfte unter
den Call-Center-Agenten in den Call-Centern (bitte auch hier nach den ver-
schiedenen Beschäftigungsformen differenzieren)?

9. Welche Erkenntnisse über die Krankheitsquote in der Call-Center-Branche
ergeben sich aus den Fehlzeitreporten verschiedener Krankenkassen, zieht
man Call-Center-typische Tätigkeiten etwa die einer Telefonistin heran?

10. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung bezüglich einer Dequalifi-
zierung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in der Call-Center-
Branche, die darin besteht, dass Beschäftigte den Unternehmen Fähigkeiten
zur Verfügung stellen, die sie vorher auf dem Arbeits- und Ausbildungs-
markt erworben haben, aber von den Call-Center-Unternehmen weder als
Qualifikationen anerkannt noch entgolten werden, womit aus einstigen
Fachkräften systematisch gering entlohnte Hilfskräfte gemacht werden?

11. Wie haben sich die Umsätze undGewinne in der Call-Center-Branche in den
letzten Jahren entwickelt?

Welche statistischen Daten, welche Branchenanalysen und Firmenumfragen
sind verfügbar?

12. Hat es in den letzten Jahren in der Call-Center-Branche eine wirtschaftliche
Konzentration gegeben?

Wenn ja, wie lässt sich diese in Zahlen beschreiben, und wie bewertet die
Bundesregierung diese Entwicklung?

13. Was sind die zwanzig größten Unternehmen der Call-Center-Branche (bitte
mit Umsätzen und Beschäftigtenzahlen nennen)?

14. In welchem Ausmaß sind 2009 Unternehmen der Call-Center-Branche
durch verschiedene Instrumente der Wirtschaftsförderung subventioniert
worden (bitte nach Bundesländern aufgliedern)?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/2980

15. Wie stark ist die Förderintensität der Call-Center-Branche verglichenmit der
Gesamtwirtschaft?

16. Welche zwanzig Call-Center-Unternehmen haben aus den Mitteln der Ge-
meinschaftsaufgabe regionale Wirtschaftsstruktur die meisten Fördergelder
erhalten (bitte Förderzeitraum, Vorhaben und Fördersumme nennen)?

17. In welchem Ausmaß sind seit 2005 Unternehmen der Call-Center-Branche
durch verschiedene Instrumente der Arbeitsmarktförderung subventioniert
worden (bitte die Summe der Förderung für die einzelnen Jahre nennen so-
wie nach Art der Förderung aufzählen)?

18. Gibt es beschäftigungspolitische Kriterien für die Fördermittelvergabe auf
Bundes- und Landesebene (z. B. Mindestentgelte, Art der Beschäftigungs-
verhältnisse)?

Wenn nein, warum ist das bisher nicht in Erwägung gezogen worden?

Wenn ja, umwelche handelt es sich dabei (bitte genaue Regelungen für Bun-
des- und Landesebene nennen)?

19. Sind der Bundesregierung Fälle bekannt, dass Call-Center-Unternehmen
einerseits Entlassungen und Betriebsschließungen vorgenommen haben,
anderseits aber neue Standorte mit der Nutzung von Subventionen errichtet
haben?

Welche staatlichen Stellen sind für eine Prüfung dieses Sachverhalts zustän-
dig, und welche Prüfungen haben dazu mit welchen Ergebnissen in der Ver-
gangenheit stattgefunden?

20. Wie hoch ist die Tarifbindung in der Call-Center-Branche?

21. Wie viele und welche Unternehmen der Call-Center-Branche haben seit
2005 Tarifverträge geschlossen und diese entsprechend der Verpflichtung
aus dem Tarifvertragsgesetz dem Bundesministerium für Arbeit und Sozia-
les (BMAS) nach Abschluss übersandt (dabei wird eine Aufstellung erbeten
nach Jahren und geordnet nach Art der Tarifverträge unter Angabe des Gel-
tungsbereiches und der Geltungsdauer sowie der vertragsschließenden Ge-
werkschaft)?

22. Welche der 20 größten Unternehmen der Call-Center-Branche sind derzeit
im Tarifregister eingetragen (soweit vorhanden, bitte nennen, wie dort we-
sentliche Arbeitsbedingungen wie Lohn, Arbeitszeit, Urlaub konkret gere-
gelt sind)?

23. Welche Schritte wären notwendig, um nach dem Mindestarbeitsbedingun-
gengesetz für die Call-Center-Branche einMindestentgelt durchzusetzen?

Sind entsprechende Schritte für die Call-Center-Branche eingeleitet wor-
den?

Wenn nein, warum nicht?

Wenn ja, in welchem Stadium befindet sich dieser Prozess, und wann ist mit
einemAbschluss des Verfahrens zu rechnen?

24. Wie begründet die Bundesregierung ihre schriftliche Antwort auf dieMünd-
lichen Fragen 63 und 64 (Plenarprotokoll 17/54) nach einem gesetzlichen
Mindestlohn für Call-Center-Beschäftigte, die lautete „Die Bundesregie-
rung bekennt sich zur Tarifautonomie. Diese hat Vorrang vor staatlicher
Lohnfestsetzung. Einen einheitlichen gesetzlichen Mindestlohn lehnt die
Bundesregierung deshalb ab.“ vor demHintergrund, dass es in der Call-Cen-
ter-Branche überhaupt keine funktionierenden Tarifvertragsparteien gibt?

Drucksache 17/2980 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
25. Gibt es Call-Center-Firmen, die im öffentlichen Besitz oder Tochterfirmen
öffentlicher Unternehmen sind?

26. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über die Tätigkeit von Private
Equity-Investoren in der Call-Center-Branche?

Berlin, den 17. September 2010

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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