BT-Drucksache 17/292

Flüchtlingsschutz für Deserteure, die sich Befehlen zu rechtswidrigen Handlungen entziehen

Vom 15. Dezember 2009


Deutscher Bundestag Drucksache 17/292
17. Wahlperiode 15. 12. 2009

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Harald Koch, Petra Pau, Jens Petermann, Paul
Schäfer (Köln), Frank Tempel, Kathrin Vogler und der Fraktion DIE LINKE.

Flüchtlingsschutz für Deserteure, die sich Befehlen zu rechtswidrigen
Handlungen entziehen

Die Richtlinie 2004/83/EG des Rates (sog. Qualifikationsrichtlinie) soll si-
cherstellen, dass aktive Soldaten oder Wehrpflichtige Flüchtlingsschutz er-
halten, wenn sie eine Strafverfolgung zu befürchten haben, weil sie Befehle
verweigern, deren Befolgung ein Verbrechen darstellen würde.

Solche Befehle werden auch Angehörigen zahlreicher NATO-Armeen erteilt.
So waren der Überfall der NATO auf Jugoslawien wie auch der Überfall einer
Kriegskoalition auf den Irak unter Führung der USA völkerrechtswidrig. Beim
Krieg in Afghanistan werden immer wieder Zivilistinnen und Zivilisten umge-
bracht, was aus Sicht der Fragesteller eine verbrecherische Handlung darstellt.

Das deutsche Asylrecht muss daraufhin überprüft werden, inwiefern es eine
ausreichende Schutzwirkung für Soldaten und Deserteure entfaltet, die sich
durch ihre Flucht der Mitwirkung an völkerrechtswidrigen oder verbrecheri-
schen kriegerischen Handlungen entziehen. Von hoher Bedeutung ist dies vor
allem, weil das Recht auf Kriegsdienstverweigerung in zahlreichen Ländern
verwehrt bzw. unverhältnismäßig erschwert wird.

Einige Hundert US-Soldaten haben in den letzten Jahren ihre Kriegsdienstver-
weigerung erklärt. Nur etwa 50 Prozent von ihnen werden anerkannt, was die
Effektivität der Rechtsgarantie zweifelhaft erscheinen lässt. Das US-Recht be-
schränkt zudem die Kriegsdienstverweigerung auf prinzipiell pazifistische Po-
sitionen. Soldaten, die sich darauf beziehen, nicht oder nicht länger zu rechts-
widrigen Einsätzen in rechtswidrigen Kriegen herangezogen werden zu wollen,
können von dieser Möglichkeit nicht Gebrauch machen. In der Konsequenz
müssen Kriegsdienstverweigerer Strafverfolgung befürchten (wegen Desertion,
unerlaubter Abwesenheit u. Ä.).

Weit mehr US-Soldaten sind daher Berichten zufolge seit Beginn des Irak-Krie-
ges desertiert: rund 25 000. Eine Strafverfolgung von Soldaten, die sich wei-
gern, an (zu erwartenden) Verbrechen mitzuwirken, stellt nach Auffassung der
Fragesteller eine politisch motivierte Verfolgung dar, die einen Anspruch auf
internationalen Schutz begründet.

Dennoch ist die Situation solcher Soldaten ausländischer Streitkräfte in
Deutschland prekär, unabhängig davon, ob sie gemäß den Bestimmungen ihrer
Herkunftsländer die Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer beantragt ha-
ben: So war der Kriegsdienstverweigerer A. A. 2006/2007 ein halbes Jahr im
US-Militärgefängnis in Mannheim inhaftiert. Im November 2008 hat der US-
Soldat A. S. einen Asylantrag eingereicht. Begründet hatte er ihn mit der Völ-

Drucksache 17/292 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

kerrechtswidrigkeit des Krieges im Irak, wo er bereits 2003 (als Hubschrauber-
mechaniker) eingesetzt worden war. Aufgrund eigener Recherchen stellte er
fest, dass er als Mechaniker für die Apache-Kampfhubschrauber mittelbar an
von diesen im Rahmen der Kriegführung ausgeführten völkerrechtswidrigen
Aktionen beteiligt gewesen war: „Wir haben Nationen zerstört, führende Per-
sönlichkeiten getötet, Häuser geplündert, gefoltert, entführt, gelogen und nicht
nur die Bürger und führenden Politiker der feindlichen Staaten, sondern auch
die unserer Verbündeten manipuliert“ (www.connection-ev.de). Er hatte daher
gravierende Gründe anzunehmen, dass er bei seiner im Jahr 2007 angeordneten
erneuten Verlegung in den Irak wiederum zur Unterstützung von Verbrechen
herangezogen werden würde. Bei einer Abschiebung in die USA – wie auch für
den Fall, dass er eine US-Kaserne in Deutschland aufsuchte – müsste A. S. mit
seiner Festnahme rechnen.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie beurteilt die Bundesregierung die Problematik der strafrechtlichen Ver-
folgung von Kriegsdienstverweigerern bzw. Deserteuren, die sich einer Be-
teiligung an Angriffskriegen bzw. an Kriegsverbrechen zu entziehen versu-
chen, unter grundsätzlichen menschenrechtlichen Erwägungen?

2. Welche allgemeinen Erfahrungen hat das Bundesamt für Migration und
Flüchtlinge bislang mit Asylanträgen von Deserteuren bzw. Kriegsdienst-
verweigerern gemacht, die ihren Asylantrag darauf stützten, sie würden auf-
grund ihrer Kriegsdienstverweigerung politisch verfolgt?

a) Welche Kriterien werden vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge
zugrunde gelegt, um den Schutzanspruch von Kriegsdienstverweigerern
zu prüfen?

b) Hat die Bundesregierung Anstrengungen unternommen, um die bisher
gesammelten Erfahrungen statistisch zu erfassen und im Hinblick auf
etwa erforderliche Konsequenzen auszuwerten (bitte gegebenenfalls aus-
führen)?

3. Welche Erfahrungen hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge bis-
lang mit Asylanträgen von Wehrpflichtigen bzw. aktiven Soldaten gemacht,
die ihren Asylantrag darauf stützten, in ihrem Heimatland eine Strafverfol-
gung wegen der Weigerung befürchten zu müssen, Befehle zu befolgen, die
sie zu einem Verbrechen bzw. dessen Unterstützung anhalten würden?

a) Welche Kriterien werden vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge
zugrunde gelegt, um den Schutzanspruch solcher Flüchtlinge zu prüfen?

b) Hat die Bundesregierung Anstrengungen unternommen, um die bisher
gesammelten Erfahrungen statistisch zu erfassen und im Hinblick auf
etwa erforderliche Konsequenzen auszuwerten (bitte gegebenenfalls aus-
führen)?

4. Inwiefern stellt nach Auffassung der Bundesregierung eine Strafverfolgung
von Militärangehörigen, die Befehle verweigern, deren Ausübung mit hoher
Wahrscheinlichkeit oder möglicherweise – bitte differenzieren – ein Verbre-
chen bzw. die Unterstützung eines Verbrechens darstellen würde, eine politi-
sche Verfolgung dar oder begründet einen Schutzbedarf im Sinne der Quali-
fikationsrichtlinie?

5. Inwiefern ist nach Auffassung der Bundesregierung die Weigerung eines
Soldaten, Befehle zur Teilnahme an einem völkerrechtswidrigen Krieg zu
befolgen, vom Schutzgehalt der zitierten Qualifikationsrichtlinie gedeckt,
und inwiefern

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/292

a) bezieht sich dies auf die Teilnahme an einem völkerrechtswidrigen
Krieg,

b) bezieht sich dies auf die Teilnahme an (Kriegs-)Verbrechen in einem
möglicherweise völkerrechtskonformen bewaffneten Konflikt?

c) Welcher Grad an Gewissheit bzw. Wahrscheinlichkeit muss vorliegen,
damit die Desertion oder Befehlsverweigerung des Soldaten unter den
Schutzgehalt der zitierten Richtlinie fällt?

6. Welche von Deutschland unterstützten bzw. mitgetragenen internationalen
Deklarationen, Abkommen, Konventionen usw. fordern, Kriegsdienstver-
weigerung als Menschenrecht anzuerkennen, und in welcher Form wird
sichergestellt, dass diese Abkommen und Deklarationen im deutschen
Flüchtlings- bzw. Aufenthaltsrecht umgesetzt werden?

7. Inwiefern fällt es nach Auffassung der Bundesregierung unter den Schutz-
gehalt der zitierten Richtlinie, wenn ein Staat durch restriktive Verfahrens-
regeln das Recht von Soldaten auf Kriegsdienstverweigerung massiv ein-
schränkt und das Fernbleiben vom Militärdienst als Straftat verfolgt?

a) Inwiefern gilt dies, wenn sich die betreffenden Soldaten bei ihrer
Kriegsdienstverweigerung auf eine Gewissensentscheidung berufen?

b) Inwiefern gilt dies, wenn die betreffenden Soldaten eine nur situative
Kriegsdienstverweigerung – vor allem die Verweigerung des Mitwir-
kens an einem Angriffskrieg oder an Kriegsverbrechen – mit ihrem Ge-
wissen begründen?

c) Inwiefern kann sich aus der strafrechtlichen Verfolgung solcher Solda-
ten ein Anspruch auf Asyl oder anderweitigen Schutz im Sinne der Gen-
fer Flüchtlingskonvention bzw. der Qualifikationsrichtlinie ableiten?

8. Sieht die Bundesregierung in dieser Hinsicht Anpassungsbedarf im deut-
schen oder europäischen Asyl- bzw. Flüchtlingsrecht (bitte gegebenenfalls
erläutern und begründen)?

9. Inwiefern stellen aus Sicht der Bundesregierung Gefangenenmisshand-
lungen, der Einsatz chemischer Kampfstoffe und Bombardements auf
zivile Menschenansammlungen (wie sie u. a. bezüglich des Vorgehens der
US-Armee im Irak berichtet werden) Verstöße gegen das Völkerrecht bzw.
das humanitäre Völkerrecht oder Verbrechen dar?

10. Inwiefern stellt die strafrechtliche Verfolgung von Soldaten, die die Be-
fehle zu völkerrechtswidrigen Handlungen oder Unterstützungsleistungen
hierzu verweigern, nach Auffassung der Bundesregierung einen Verfol-
gungstatbestand im Sinne der zitierten Richtlinie dar?

11. Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung zu der Frage, wie viele auf
deutschen Stützpunkten stationierte Soldaten ausländischer Streitkräfte seit
Beginn des Irak-Krieges desertiert sind und sich womöglich noch in
Deutschland aufhalten?

12. Welche Überlegungen hat die Bundesregierung bislang diesbezüglich über
aufenthalts- bzw. asylpolitische Konsequenzen angestellt?

13. Welche Abkommen und Vereinbarungen über den Umgang mit US-ameri-
kanischen Deserteuren und Kriegsdienstverweigerern wurden zwischen
Deutschland und den USA wann unterzeichnet, und welche flüchtlingspo-
litischen Konsequenzen hat dies für US-amerikanische Deserteure und
Kriegsdienstverweigerer in Deutschland?

14. Steht die Bundesregierung in Kontakt mit der US-Regierung, um über den
Umgang mit US-amerikanischen Deserteuren in Deutschland zu beraten,

Drucksache 17/292 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
und wenn ja, welche Absprachen wurden dabei getroffen oder werden von
der Bundesregierung angestrebt?

15. Welche Konsequenzen hat die mögliche Androhung der Todesstrafe in den
USA gegen Soldaten, die in Kriegszeiten desertieren, für das Asyl- bzw.
Auslieferungsverfahren?

a) Kann die Bundesregierung ausschließen, dass die US-Streitkräfte US-
Soldaten auf deutschem Boden (vor allem im Militärgefängnis Mann-
heim) wegen Desertation, Befehlsverweigerung, unerlaubten Fernblei-
bens oder anderer einschlägiger Delikte internieren und von Deutsch-
land aus in die USA befördern?

b) Kann die Bundesregierung ausschließen, dass solchen Soldaten die To-
desstrafe droht, und wenn nein, was unternimmt sie, um künftig diese
Möglichkeit ausschließen zu können?

Berlin, den 15. Dezember 2009

Gregor Gysi und Fraktion

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.