BT-Drucksache 17/2872

Nacherhebung von Sozialversicherungsbeiträgen - gegen sittenwidrige Löhne und zur Durchsetzung von branchenspezifischen Mindestlöhnen

Vom 7. September 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/2872
17. Wahlperiode 07. 09. 2010

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Beate Müller-Gemmeke, Birgitt Bender, Maria Klein-Schmeink,
Markus Kurth, Brigitte Pothmer, Elisabeth Scharfenberg, Christine Scheel
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Nacherhebung von Sozialversicherungsbeiträgen – gegen sittenwidrige Löhne
und zur Durchsetzung von branchenspezifischen Mindestlöhnen

Es gibt Unternehmen, die über Jahre hinweg sittenwidrige Löhne zahlen oder
festgeschriebene Mindestlöhne missachten. Beschäftigte können nur zivilrecht-
lich ihre Ansprüche gegenüber den Unternehmen vor Arbeitsgerichten einkla-
gen. Aber selbst wenn Beschäftigte ihre Ansprüche vor Gericht erfolgreich ein-
klagen, haben derartige Urteile in der Regel nur Auswirkungen auf diejenigen,
die geklagt haben. Alle anderen Beschäftigten werden nach wie vor um ihren
Lohn und um Sozialversicherungsansprüche betrogen. Es sei denn, die Sozial-
versicherungsträger setzen, in ihrer Funktion als Treuhänder der Sozialver-
sicherungsansprüche, zumindest die Ansprüche der Beschäftigten durch. Sie
können dafür sorgen, dass auf die Differenz zwischen tatsächlich gezahltem
Lohn und dem Mindestlohn bzw. dem Lohn an der Schwelle zur Sittenwidrig-
keit Sozialversicherungsbeiträge nachgezahlt werden müssen, denen dann auch
Ansprüche der Beschäftigten gegenüberstehen.

Zuständig für die Beitragsnacherhebung ist die Deutsche Rentenversicherung.
Sie kann zwar nicht die Lohnansprüche der Beschäftigten einklagen, aber im-
merhin durch Beitragsnacherhebungen die Sozialversicherungsansprüche der
Beschäftigten geltend machen. Ebenso kann sie dafür sorgen, dass bestehende
Sozialversicherungsansprüche nicht verjähren. Dies spielt derzeit in der Leih-
arbeitsbranche eine wichtige Rolle. Falls das Bundesarbeitsgericht den Christ-
lichen Gewerkschaften für Zeitarbeit und Personalserviceagenturen (CGZP) die
Tariffähigkeit aberkennt, werden erhebliche Nachzahlungen von Sozialver-
sicherungsbeiträgen fällig. Diese müssen aber von der Deutschen Rentenver-
sicherung nacherhoben werden.

Wir fragen die Bundesregierung:

Aufgaben und Pflichten der Deutschen Rentenversicherung

1. Ist die Deutsche Rentenversicherung als Treuhänder der Sozialversiche-
rungsansprüche dazu verpflichtet oder ermächtigt zu prüfen, ob Unterneh-

men sittenwidrige Löhne zahlen oder die Zahlung von branchenspezifischen
Mindestlöhnen nicht einhalten, und die Differenz zwischen rechtmäßigen
und tatsächlich gezahlten Löhnen Beiträge nachzuerheben?

Wenn nein, warum nicht?

Drucksache 17/2872 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

2. Wenn ja, aus welchen gesetzlichen Grundlagen kann die Pflicht oder die
Möglichkeit der Deutschen Rentenversicherung abgeleitet werden, Bei-
träge nachzuerheben, wenn von Unternehmen sittenwidrige Löhne gezahlt
oder Mindestlöhne nicht gezahlt wurden?

3. Muss oder kann die Deutsche Rentenversicherung die Sozialversicherungs-
ansprüche mittels einer Betriebsprüfung feststellen und so die Grundlage
für Beitragsnacherhebungen schaffen?

4. Kann bzw. muss die Deutsche Rentenversicherung Sozialversicherungsbei-
träge nacherheben, wenn sie durch ein Gerichtsurteil oder durch den Zoll
bzw. durch Beschäftigte den Hinweis erhält, dass Unternehmen sittenwid-
rige Löhne zahlen oder branchenspezifische Mindestlöhne nicht zahlen?

Wenn nein, warum nicht, und sieht die Bundesregierung Handlungsbedarf?

5. Wenn ja, gilt diese Pflicht oder Möglichkeit (siehe Frage 4), Beiträge nach-
zuerheben, nur für die Beschäftigten, für die gerichtlich oder anderweitig
festgestellt wurde, dass ihre Arbeitgeber sittenwidrige Löhne gezahlt oder
keinen Mindestlohn gezahlt haben, oder gilt dies für alle Beschäftigten die-
ses Unternehmens, die eine vergleichbare Tätigkeit ausüben?

6. Auf welchen gesetzlichen Grundlagen beruht die in der Antwort auf die
Schriftliche Frage 54 (Bundestagsdrucksache 17/2748) aufgestellte Be-
hauptung der Bundesregierung, dass es allein den Arbeitsgerichten obliegt,
sittenwidrige Löhne im Sinne des § 138 des Bürgerlichen Gesetzbuchs fest-
zustellen?

7. Wie bewertet die Bundesregierung die Aussage, dass die Zahlung sitten-
widriger Löhne zur Unwirksamkeit der arbeitsvertraglichen Vergütung
führt und dann Kraft Gesetzes der „übliche Lohn“ für dieses Arbeitsverhält-
nis gilt und auf Grundlage dieser Vergütungsregelung auch die Sozialbei-
träge von den Unternehmen zu zahlen sind?

8. Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass die Sozialversicherungsbei-
träge, unabhängig davon, ob die Beschäftigten die Ansprüche geltend
machen, abzuführen sind und die Ansprüche verjähren, wenn die Sozialver-
sicherungsträger die Beiträge nicht nacherheben?

Wenn ja, warum?

Wenn nein, warum nicht?

9. Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass auch die Deutsche Renten-
versicherung die Sittenwidrigkeit von Löhnen feststellen sowie auf Basis
dieser Feststellung Beiträge nacherheben kann und erst dann die Entschei-
dung eines Arbeitsgerichts über die Sittenwidrigkeit einer Vergütungsrege-
lung herbeigeführt werden muss, wenn der Arbeitgeber den Anspruch nicht
für gegeben hält?

Wenn ja, warum?

Wenn nein, warum nicht?

Beitragsnacherhebung der Deutschen Rentenversicherung

10. Wie viele Betriebsprüfungen wurden von der Deutschen Rentenversiche-
rung seit 2005 jährlich durchgeführt?

11. Wie viele Betriebsprüfungen wurden von der Deutschen Rentenversiche-
rung seit 2005 jährlich zur Sicherung der Ansprüche wegen nicht gezahlter
branchenspezifischer Mindestlöhne oder der Zahlung sittenwidriger Löhne
durchgeführt?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/2872

12. Wie viele Beitragsnacherhebungen wurden von der Deutschen Rentenver-
sicherung seit 2005 jährlich durchgeführt, wie hoch waren die insgesamt
nacherhobenen Beiträge, und aus welchen Gründen wurden Betriebsprü-
fungen außerhalb der turnusmäßigen Prüfungen durchgeführt (bitte diffe-
renziert nach Jahren)?

13. Wie viele Beitragsnacherhebungen aufgrund der Zahlung sittenwidriger
Löhne oder wegen nicht gezahlter Mindestlöhne wurden von der Deut-
schen Rentenversicherung seit 2005 jährlich durchgeführt, und wie hoch
war die Summe der nacherhobenen Beiträge (bitte differenziert nach Jahr,
sittenwidrigen Löhnen und Mindestlöhnen)?

14. Hat die Deutsche Rentenversicherung nach den Urteilen des Landesarbeits-
gerichts Hamm vom 18. März 2009, bei denen die KiK Textilien und Non-
Food GmbH (KiK) wegen der Zahlung sittenwidriger Löhne verurteilt
wurde, Sozialversicherungsbeiträge nacherhoben?

Wenn ja, nur für die zwei Kläger oder für die gesamte Belegschaft?

Wenn nein, warum nicht?

15. Hat die Deutsche Rentenversicherung seit 2005 bei allen gerichtlich festge-
stellten Fällen, wenn sittenwidrige Löhne gezahlt oder Mindestlöhne miss-
achtet wurden, Beitragsnacherhebungen durchgeführt?

Wenn nein, warum nicht?

Ansprüche in der Leiharbeitsbranche

16. Haben die Sozialversicherungsträger Maßnahmen ergriffen, um die Verjäh-
rung von Ansprüchen zu verhindern, die aus der drohenden Tarifunfähig-
keit der CGZP entstehen?

Wenn ja, welche?

Wenn nein, warum nicht?

17. Werden die Sozialversicherungsträger Beiträge nacherheben, wenn den
CGZP die Tariffähigkeit vom Bundesarbeitsgericht aberkannt wird?

Wenn nein, warum nicht?

18. Gibt es neuere Berechnungen, wie hoch die Nachforderungen von Sozial-
versicherungsbeiträgen sein werden, wenn den CGZP die Tariffähigkeit ab-
erkannt wird, und welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung
daraus?

19. Müssen die Beschäftigten in der Leiharbeitsbranche bei der Aberkennung
der Tariffähigkeit ihre Lohnansprüche vor Gericht selbst einklagen, oder
werden staatliche Stellen tätig, die für die Beschäftigten die Ansprüche
durchsetzen?

Wenn nein, warum werden die staatlichen Stellen nicht tätig?

20. Welche Auswirkungen wird eine Aberkennung der Tariffähigkeit durch das
Bundesarbeitsgericht auf Entleihbetriebe haben, die Tarifverträge mit den
CGZP abgeschlossen haben?

21. Erwartet die Bundesregierung, dass Verleiher als Folge der Aberkennung
der Tariffähigkeit der CGZP durch das Bundesarbeitsgericht und der For-
derungen, die auf sie zukommen, Insolvenz anmelden müssen?

22. In welchem Umfang haften Entleihunternehmen für die Nachforderungen
der Sozialversicherungsträger oder für Lohnansprüche von Beschäftigten
der Leiharbeitsbranche, wenn Verleiher Insolvenz anmelden müssen, da sie

die Nachforderungen und die Ansprüche der Beschäftigten nicht bedienen
können?

Drucksache 17/2872 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
Branchenspezifische Mindestlöhne und sittenwidrige Bezahlung

23. Wie stellt die Bundesregierung sicher, dass sich Unternehmen gesetzestreu
verhalten und Beschäftigte ein Arbeitsentgelt oberhalb der Sittenwidrigkeit
bzw. branchenspezifische Mindestlöhne erhalten, wenn durch ein Gerichts-
urteil, eine Prüfung des Zolls oder durch andere Hinweise deutlich wird,
dass Unternehmen sittenwidrige Löhne zahlen oder Mindestlöhne nicht
zahlen?

24. Welche Maßnahmen hat die Bundesregierung unternommen, um sicherzu-
stellen, dass die Beschäftigten von KiK keine sittenwidrigen Löhne mehr
gezahlt bekommen und die Sozialversicherungsbeiträge nacherhoben wer-
den?

25. Wenn bisher keine Maßnahmen von der Bundesregierung unternommen
wurden (siehe Frage 24), welche Maßnahmen wird die Bundesregierung in
die Wege leiten?

26. Wie viele Beschäftigte von KiK werden auch nach der Ankündigung von
KiK die Löhne auf 7,50 Euro aufzustocken, sittenwidrige Löhne erhalten,
und verfügen die Sozialversicherungsträger theoretisch über die notwendi-
gen Daten, diese Frage zu beantworten?

Wenn nein, warum verfügen die Sozialversicherungsträger nicht über die
notwendigen Daten?

27. Haben die Staatsanwaltschaften die Pflicht oder die Möglichkeit, initiativ
zu werden, wenn durch eine Prüfung des Zolls oder andere Quellen be-
gründete Hinweise vorliegen, dass Unternehmen sittenwidrige Löhne zah-
len oder branchenspezifische Mindestlöhne unterlaufen werden?

Wenn nein, warum nicht?

Berlin, den 7. September 2010

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

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