BT-Drucksache 17/2719

Ausbreitung atypischer Beschäftigungsverhältnisse und Anforderungen an die Politik

Vom 6. August 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/2719
17. Wahlperiode 06. 08. 2010

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Sabine Zimmermann, Jutta Krellmann, Diana Golze,
Matthias W. Birkwald, Klaus Ernst, Katja Kipping, Cornelia Möhring,
Ingrid Remmers, Jörn Wunderlich und der Fraktion DIE LINKE.

Ausbreitung atypischer Beschäftigungsverhältnisse und Anforderungen
an die Politik

Trotz Krise scheint der deutsche Arbeitsmarkt bisher relativ stabil. Die Zahl der
offiziell registrierten Arbeitslosen nahm weniger stark zu als erwartet. Doch
diese stille Oberfläche täusche, so kürzlich der Direktor des Instituts für Arbeits-
markt- und Berufsforschung, Joachim Möller: „Hinter den relativ starren Be-
standszahlen verbergen sich riesige Bewegungen“ (DIE ZEIT vom 28. Juni
2010). Auch der Chef der Bundesagentur für Arbeit, Frank-Jürgen Weise, äußerte
sich besorgt über den Strukturwandel am Arbeitsmarkt. Es gebe mehr Zeitarbeit
und mehr befristete Beschäftigung. Auch würden immer mehr Vollzeit- in Teil-
zeitstellen umgewandelt (10. Juli 2010).

Dieser Strukturwandel der Beschäftigung begann schon vor der Krise. Laut Sta-
tistischem Bundesamt stieg von 1998 bis 2009 der Anteil atypischer Beschäfti-
gungsformen von 16,2 auf 24,8 Prozent. Der Anteil der Erwerbstätigen in einem
Normalarbeitsverhältnis sank im selben Zeitraum von fast drei Vierteln (72,6 Pro-
zent) auf nur noch 66 Prozent. 11 Prozent der Erwerbstätigen sind selbständig,
mehr als jeder Zweite davon soloselbständig ohne Beschäftigte.

Das Statistische Bundesamt versteht unter einem Normalarbeitsverhältnis ein
Beschäftigungsverhältnis, das voll sozialversicherungspflichtig ist, mit mindes-
tens der Hälfte der üblichen vollen Wochenarbeitszeit und mit einem unbefris-
teten Arbeitsvertrag ausgeübt wird sowie durch die Identität von Arbeits- und
Beschäftigungsverhältnis gekennzeichnet ist. Eine atypische Beschäftigungs-
form liegt dann vor, wenn eines oder mehrere dieser Kriterien nicht erfüllt sind.
Daher zählen neben der Zeitarbeit Teilzeitbeschäftigungen mit 20 oder weniger
Stunden Arbeit pro Woche, geringfügige Beschäftigungen sowie befristete Be-
schäftigungen zu diesen Beschäftigungsformen. Atypische Beschäftigungsver-
hältnisse sind häufig prekär. Fast jeder zweite atypisch Beschäftigte (49,2 Pro-
zent) erhält einen Bruttostundenlohn unterhalb der Niedriglohngrenze von
9,85 Euro pro Stunde. Wer in einem Normalarbeitsverhältnis beschäftigt ist, ist
dagegen weit seltener von einem niedrigen Lohn betroffen (11,1 Prozent).
Nahm bereits während der Krise die Zahl der atypischen Beschäftigungsverhält-
nisse zu, beruht auch der derzeit stattfindende Beschäftigungsaufbau häufig auf
Arbeitsplätzen, von denen man ohne aufstockende Leistungen nach dem Zwei-
ten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) seine Existenz nicht sichern kann und die
keine sichere Lebensplanung ermöglichen. Die Politik ist zum Handeln auf-
gefordert.

Drucksache 17/2719 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Anmerkung: Soweit im Folgenden von atypischen Beschäftigungsverhältnissen
die Rede ist, ist damit entsprechend der oben genannten Definition gemeint:
a) befristete Beschäftigung, b) Teilzeitbeschäftigung, c) Zeitarbeit, d) geringfü-
gige Beschäftigung.

Für die Beantwortung der Fragen bitte sowohl auf Daten des Statistischen Bun-
desamtes als auch der Bundesagentur für Arbeit bzw. des Instituts für Arbeits-
markt- und Berufsforschung oder anderer zurückgreifen inklusive vorläufiger
Zahlen.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Teilt die Bundesregierung die Sorge des Vorstandsvorsitzenden der Bun-
desagentur für Arbeit, Frank-Jürgen Weise, dass die Struktur des Arbeits-
marktes schlechter werde, weil Zeitarbeit und befristete Beschäftigung zu-
nehme, Vollzeitstellen zugunsten von Teilzeitstellen abgebaut würden?

2. Inwiefern geht nach Ansicht der Bundesregierung die geringe Zunahme der
Arbeitslosigkeit während der Krise auf eine Abnahme von Vollzeitstellen
bei gleichzeitiger Zunahme von sowohl Teilzeitstellen als auch geringfügi-
gen Beschäftigungsverhältnissen zurück?

3. Wie hat sich seit Beginn der Krise bis heute der Arbeitsmarkt entwickelt,
legt man das Normalarbeitsverhältnis und die atypischen Beschäftigungs-
verhältnisse (bitte diese hier und bei folgenden Fragen einzeln angeben) zu
Grunde (bitte absolut und relativ angeben)?

4. Wie stellt sich der Anteil atypischer Beschäftigungsverhältnisse in Deutsch-
land im internationalen Vergleich dar?

5. Hält die Bundesregierung die bisherige statistische Erfassung von befriste-
ten Arbeitsverhältnissen für ausreichend, um auf Fehlentwicklungen auf
dem Arbeitsmarkt reagieren zu können?

6. Wie gliedern sich die atypischen Beschäftigungsverhältnisse auf nach den
Merkmalen Geschlecht, Alter, Migrantinnen oder Migranten und Ost/West?

7. Wie hoch ist der Anteil der Aufstocker (Erwerbstätige mit Leistungsbezug
aus dem SGB II) an den atypischen Beschäftigungsverhältnissen?

8. Wie viele Beschäftigungsverhältnisse sind während der Krise verloren ge-
gangen?

Inwiefern handelt es sich dabei um Normalarbeitsverhältnisse bzw. atypi-
sche Beschäftigungsverhältnisse (wenn möglich, bitte absolut und relativ
angeben)?

9. Wie viele Beschäftigungsverhältnisse sind während der Krise neu entstan-
den?

Inwiefern handelt es sich dabei um Normalarbeitsverhältnisse bzw. atypi-
sche Beschäftigungsverhältnisse (wenn möglich, bitte absolut und relativ
angeben)?

10. Welches sind die zehn Branchen, in denen während der Krise die meisten
Normalarbeitsverhältnisse verloren gingen (bitte jeweils absolut und relativ
angeben)?

Wie hoch sind in diesen Branchen die Stundenlöhne, wie hoch die Monats-
löhne, wie hoch ist der Anteil der Niedriglöhnerinnen und Niedriglöhner?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/2719

11. Welches sind die zehn Branchen, in denen während der Krise die meisten
atypischen Beschäftigungsverhältnisse entstanden sind (bitte jeweils abso-
lut und relativ angeben)?

Wie hoch sind in diesen Branchen die Stundenlöhne, wie hoch die Monats-
löhne, wie hoch ist der Anteil der Niedriglöhnerinnen und Niedriglöhner?

12. Was sind die politischen Rahmenbedingungen bzw. rechtlichen Regelun-
gen, die die Dynamik des Wandels hin zu mehr atypischen Beschäftigungs-
verhältnissen ermöglicht haben bzw. ermöglichen?

13. Welche Vorschläge zur Eindämmung atypischer Beschäftigung gibt es, und
welchen Handlungsbedarf sieht die Bundesregierung?

Berlin, den 22. Juli 2010

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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