BT-Drucksache 17/237

Abschiebungen nach Syrien stoppen - Abschiebeabkommen aufkündigen

Vom 15. Dezember 2009


Deutscher Bundestag Drucksache 17/237
17. Wahlperiode 15. 12. 2009

Antrag
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Wolfgang Neskovic, Petra Pau, Jens
Petermann, Raju Sharma, Frank Tempel, Halina Wawzyniak und der Fraktion
DIE LINKE.

Abschiebungen nach Syrien stoppen – Abschiebeabkommen aufkündigen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die Arabische Republik Syrien ist ein Ort massiver Menschenrechtsverletzun-
gen. Diese richten sich sowohl gegen die politische Opposition als auch gegen
ethnische und religiöse Minderheiten. Angehörigen dieser Gruppen drohen bei
einer Abschiebung nach Syrien rechtliche und soziale Diskriminierung, im
schlimmsten Falle Folter, Verschleppung und Tod. Abschiebungen von Minder-
heitenangehörigen und Staatenlosen in diesen Staat sind mit Ziel und Zweck
der von der Bundesrepublik Deutschland ratifizierten Abkommen zum Schutz
von Flüchtlingen und Staatenlosen nicht zu vereinbaren. Genau solche Ab-
schiebungen werden jedoch durch ein von der Bundesregierung mit der Arabi-
schen Republik Syrien geschlossenes so genanntes Rückübernahmeabkommen
ermöglicht. Der Deutsche Bundestag nimmt mit Erschrecken zur Kenntnis,
dass es dadurch bereits in mehreren Fällen unmittelbar nach der Abschiebung
zur Inhaftierung und Verschleppung von Menschen gekommen ist, denen in
Deutschland kein Flüchtlingsschutz zugesprochen worden war.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. das mit der Arabischen Republik Syrien geschlossene Abkommen über die
Rücknahme eigener und fremder Staatsangehöriger bzw. Staatenloser, die
illegal aus dem eigenen Staatsgebiet in das der anderen Vertragspartei ein-
gereist sind oder sich ohne erforderlichen Aufenthaltstitel dauerhaft dort
aufhalten, aufzukündigen und keine Abschiebungen nach Syrien mehr vor-
zunehmen;

2. gegenüber den Bundesländern anzuregen und die erforderliche Zustimmung
zu erteilen, dass hier lebenden syrischen Staatsangehörigen oder Staatenlosen
aus Syrien, denen angesichts der andauernd ungesicherten Menschenrechts-
lage in Syrien Diskriminierung und Ausgrenzung oder willkürliche Inhaftie-
rung, Folter und Verschleppung drohen, ein humanitäres Bleiberecht gewährt
wird;
3. zukünftig auf den Abschluss von Rückübernahmeabkommen mit solchen
Staaten zu verzichten, die wesentliche menschen- oder flüchtlingsrechtliche
Übereinkommen nicht unterzeichnet haben, u. a. die Pakte über bürgerliche
und politische Rechte und wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschen-
rechte, die Genfer Flüchtlingskonvention, die UN-Kinderrechtskonvention,
die Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von rassistischer Diskrimi-

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nierung und der Diskriminierung der Frauen, das Übereinkommen gegen Fol-
ter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder
Strafe, das Übereinkommen zum Schutz aller Personen vor dem Verschwin-
denlassen sowie die Übereinkommen über die Rechtsstellung der Staaten-
losen und zur Verminderung der Staatenlosigkeit oder bei denen Zweifel an
der tatsächlichen Umsetzung dieser Übereinkommen bestehen;

4. sich im Rahmen der Europäischen Union dafür einzusetzen, dass auch die Eu-
ropäische Union Rückübernahmeabkommen nur mit solchen Staaten schließt,
die für ein hohes Niveau menschenrechtlicher Schutzstandards stehen.

Berlin, den 15. Dezember 2009

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Begründung
Die Bundesrepublik Deutschland betreibt seit Beginn der 90er Jahre eine Poli-
tik, mit den Haupttransit- und Herkunftsstaaten von Migrantinnen und Migran-
ten bzw. Flüchtlingen so genannte Rückübernahmeabkommen abzuschließen.
Darin verpflichten sich die Vertragspartner, aus dem Staatsgebiet der jeweils
anderen Vertragspartei eingereiste Personen „zurückzunehmen“, wenn diese
ausreisepflichtig sind. Dies trifft unter anderem auch dann zu, wenn diese Per-
sonen ohne die erforderlichen Papiere eingereist sind. Damit schuf die Bundes-
republik Deutschland die Voraussetzungen, um die nach der „sicheren“ Dritt-
staats- oder Herkunftsland-Regelung von 1993 abgelehnten Asylsuchenden
ohne inhaltliche Prüfung ihres Asylbegehrens schnell wieder abschieben zu
können und erhöhte zugleich den Druck auf die Nachbarländer, sich an der Ab-
wehr von Migranten und Flüchtlingen aktiv zu beteiligen.

Mittlerweile sind neue Tendenzen beim Abschluss solcher Rückübernahme-
abkommen auszumachen. Erstens wird zunehmend auch die Rückübernahme
von Drittstaatsangehörigen aus Nichtvertragsstaaten geregelt, die über den
einen Vertragsstaat in den jeweils anderen eingereist sind. Damit wird der
Druck auf die Transitstaaten erhöht, den Transitverkehr durch ihr Territorium
verstärkt zu kontrollieren. Die Gefahr von Kettenabschiebungen von Flüchtlin-
gen, konkret im Falle Syriens die Rückschiebung von irakischen Flüchtlingen
aus Deutschland nach Syrien und weiter in den Irak, wird dadurch systematisch
erhöht.

Zweitens zeigt das Beispiel Syrien, dass nicht einmal Skrupel bestehen, mit
möglichen Verfolgerstaaten Rückübernahmeabkommen abzuschließen – ob-
wohl bekannt ist, dass z. B. bereits ein Asylantrag als möglicher Verfolgungs-
grund angesehen wird. Ein anderes prominentes Beispiel ist das Rückübernah-
meabkommen zwischen Italien und Libyen.

Drittens werden mehr und mehr Rückübernahmeabkommen zwischen der EU
und Drittstaaten geschlossen. Ganz unverhohlen werden dabei Rückübernah-
men durch die Drittstaaten mit der Gewährung von Visaerleichterungen, Fi-
nanzhilfen zum Aufbau einer verstärkten Grenzkontrolle, einer diplomatischen
Bevorzugung und verstärkten „Entwicklungszusammenarbeit“ verknüpft, zu-
letzt in den Vorschlägen für ein „Stockholmer Programm“ zur Weiterentwick-
lung des „Raums der Sicherheit, der Freiheit und des Rechts“.

Im konkreten Fall Syrien räumte die vormalige Bundesregierung in ihrer Ant-

wort auf die Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE. ein, dass die Arabische

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Republik Syrien die einschlägigen Abkommen zum Schutz von Staatenlosen
und die Genfer Flüchtlingskonvention nicht unterzeichnet hat (vgl. Bundestags-
drucksache 16/11959). Sie konnte auch nicht überzeugend darlegen, dass den
von dem Rückübernahmeabkommen betroffenen Minderheitenangehörigen der
Yeziden und Kurden, die in Syrien als Staatenlose gelten und daher in ihren
Rechten stark eingeschränkt sind, dort keine Verfolgung und Diskriminierung
drohen. 300 000 syrischen Kurden wird weiterhin die syrische Staatsangehörig-
keit verweigert. In Syrien leben darüber hinaus 450 000 Nachfahren palästinen-
sischer Flüchtlinge, die weiterhin nicht in die Gesellschaft integriert werden
und denen auch nach über 60 Jahren die Staatsbürgerschaft verweigert wird.
Ihnen droht im Falle ihrer Rückkehr nach einer „illegalen Ausreise“ eine Haft-
strafe.

Einen besonderen Beigeschmack hat der Fall Syriens, weil über Jahre hinweg
Staatenlosen aus Syrien vorgehalten wurde, sie wirkten nicht ausreichend an ih-
rer Identitätsfeststellung mit, deshalb seien ihnen reguläre Aufenthaltstitel zu
verweigern. Ihnen wurde vorgehalten, tatsächlich aus der Türkei zu stammen
und nicht ausreichend an ihrer Identifizierung mitzuwirken (der gleiche Vor-
wurf führte auch zu ihrer Ausbürgerung in Syrien, vgl. Antwort der Bundesre-
gierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE., Bundestagsdruck-
sache 16/10786, Frage 19). Über Jahre und Jahrzehnte wurde so die
Regularisierung des Aufenthalts der nur geduldeten Betroffenen verhindert.
Lokale Meldebescheinigungen, Kopien von Geburtsurkunden oder Führer-
scheinen wurden als nicht ausreichend angesehen, um die syrische Herkunft
belegen zu können oder sogar als Fälschungen zurückgewiesen. Die gleichen
Unterlagen sollen aber nun ausreichen, um gegenüber der syrischen Seite die
Herkunft aus Syrien nachzuweisen und die Betroffenen dorthin abschieben zu
können.

Mittlerweile sind drei Fälle bekannt geworden, in denen Abgeschobene unmit-
telbar nach ihrer Ankunft am Flughafen Damaskus festgenommen wurden.
Dokumentiert ist unter anderem der Fall der Familie Cindo, einer 55-jährigen
Witwe und ihrer vier Kinder im Alter von 19 bis 22 Jahren, die nach ihrer An-
kunft inhaftiert wurden (taz vom 22. Oktober 2009). Bereits am 1. September
2009 war der Kurde Khalid Kenjo nach seiner Abschiebung im Gefängnis ge-
landet, erst nach vier Wochen konnte er Kontakt zu einem Anwalt aufnehmen.
Weil sie in Deutschland Asyl beantragt hatten, wird ihnen nun vorgeworfen,
„falsche Informationen über Syrien“ verbreitet zu haben. Auf eine Schriftliche
Frage der Abgeordneten Ulla Jelpke zum Fall Khali Kenjo antwortete der da-
malige Parlamentarische Staatssekretär Peter Altmaier für die Bundesregie-
rung, dass man „den Vorgang weiter beobachten“ wolle, ein Ergebnis dieser
Beobachtung ist jedoch nicht bekannt. Der bereits im Januar 2007 abgescho-
bene Kurde Mahmud Iso blieb nach Angaben der Schweizerischen Flüchtlings-
hilfe (SFH) bis Ende 2007 in Haft (die SFH bezieht sich dabei auf einen Bericht
des US-State Departement von 2008). Auch das Verwaltungsgericht Osnabrück
hat in einem Beschluss vom 7. Oktober 2009 (5 B 94/09) festgestellt, dass Ab-
geschobenen nicht nur eine mehrstündige Befragung droht, wie von der Bun-
desregierung behauptet, sondern auch eine mehrmonatige Inhaftierung unter
menschenunwürdigen und erniedrigenden Bedingungen und körperliche Miss-
handlungen durch die syrischen Sicherheitskräfte und insbesondere den Ge-
heimdienst.

Auch das Europäische Parlament hat sich in einer Entschließung
(P7_TA-PROV(2009)0024) kritisch zur Menschenrechtslage in Syrien ge-
äußert; es sei „zutiefst besorgt über die starke Unterdrückung, der Menschen-
rechtsaktivisten in Syrien nach wie vor ausgesetzt sind, und die mangelnden
Fortschritte in Bezug auf die Achtung der Menschenrechte durch die syrischen

Behörden“.

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