BT-Drucksache 17/23

Anhebung und bedarfsgerechte Ermittlung der Kinderregelsätze

Vom 10. November 2009


Deutscher Bundestag Drucksache 17/23
17. Wahlperiode 10. 11. 2009

Antrag
der Abgeordneten Diana Golze, Klaus Ernst, Matthias W. Birkwald, Heidrun
Dittrich, Katja Kipping, Jutta Krellmann, Cornelia Möhring, Jörn Wunderlich,
Sabine Zimmermann und der Fraktion DIE LINKE.

Anhebung und bedarfsgerechte Ermittlung der Kinderregelsätze

Der Bundestag wolle beschließen:

Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. umgehend eine Kommission einzuberufen, mit dem Auftrag bis spätestens
Ende 2010 eine eigenständige und nach Altersgruppen spezifizierte Be-
darfsermittlung von Kindern und Jugendlichen in der Grundsicherung sowie
Vorschläge für eine kontinuierliche Dynamisierung vorzulegen und

2. kurzfristig einen Gesetzentwurf vorzulegen, nach dem die Regelleistungen
für Kinder und Jugendliche in der Grundsicherung für die Übergangszeit
nach der Bedarfsermittlung durch den Paritätischen Wohlfahrtsverband wie
folgt festgelegt werden:

● für Kinder bis unter 6 Jahren 276 Euro,

● für Kinder von 6 bis unter 14 Jahren 332 Euro und

● für Kinder ab Beginn des 15. Lebensjahres 358 Euro.

Berlin, den 10. November 2009

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Begründung

Die Bestimmung des soziokulturellen Existenzminimums ist grundlegend zu
reformieren. Als erste Schritte sind die Bedarfsermittlung für Kinder und
Jugendliche zu korrigieren und deren Regelleistungen deutlich anzuheben. In
verschiedenen Entscheidungen haben das Bundessozialgericht (BSG) und das
Hessische Landessozialgericht verfassungsrechtliche Bedenken geäußert und

das Bundesverfassungsgericht angerufen. Sowohl das Bundessozialgericht als
auch das Hessische Landessozialgericht kritisieren umfänglich die Ermittlung
der Regelleistungen.

Das Bundessozialgericht kritisiert, dass der Gesetzgeber auf eine realitätsbezo-
gene Bedarfsermittlung bei Kindern und Jugendlichen verzichtet hat. Mithin
beruhe die Festsetzung einer Regelleistung in Höhe von 60 Prozent der Eck-

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regelleistung bei Kindern bis 14 Jahren „auf einer pauschalen und linearen Ab-
senkung der Regelleistung für Erwachsene, die nachvollziehbare Bezüge zu den
tatsächlichen Bedarfslagen von Kindern vermissen lässt“ (Bundessozialgericht
vom 27. Januar 2009, B 14 AS 5/08 R).

Das Hessische Landessozialgericht bemängelt in seinem Vorlagebeschluss, u. a.
dass

● die Beschränkung auf Einpersonenhaushalte als Referenzgruppe für die Er-
mittlung des Bedarfs zu einer erheblichen Unterschätzung des Bedarfs führe,
weil familienspezifische Einkommens- und Verbrauchslagen nicht erfasst
werden,

● bei der Ermittlung der Bedarfe unzulässige Zirkelschlüsse nicht vermieden
worden seien, weil die Referenzgruppe nicht ausreichend um grundsiche-
rungsberechtigte Personen bereinigt wurde („Dunkelziffer“) und vorgenom-
mene Abschläge bei einzelnen Ausgabeposten nicht nachvollziehbar seien,

● bei der Ermittlung des Existenzminimums von Kindern und Jugendlichen de-
ren Betreuungs- und Erziehungsbedarf nicht berücksichtigt sei und

● der Gleichheitsgrundsatz in mehrfacher Weise (Gleichbehandlung von Al-
tersstufen mit unterschiedlichen Bedarfen sowie Ungleichbehandlung von
Kindern und Jugendlichen in dem Zwölften und Zweiten Buch Sozialgesetz-
buch – SGB XII und SGB II) verletzt worden sei.

Das Gericht kommt daher zu dem Schluss, dass insbesondere für Kinder und
Jugendliche eine verfassungswidrige Unterschreitung ihres soziokulturellen
Existenzminimums zu konstatieren sei, die „mit hoher Wahrscheinlichkeit die
Lern- und Bildungsfähigkeit der Kinder beeinträchtigt und zu deren sozialer
Ausgrenzung führt.“ (Hessisches Landessozialgericht vom 29. Oktober 2008,
L 6 AS 336/07; BSG, Beschluss vom 27. Januar 2009).

Die Vorlagen liegen derzeit beim Bundesverfassungsgericht, das abschließend
über die Verfassungswidrigkeit zu befinden hat (BVerfG 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09
und 1 BvL 4/09).

In seiner Sitzung vom 7. November 2008 forderte der Bundesrat „die Bundes-
regierung […] auf, […] die Regelleistungen sowie die Regelsätze für hilfe-
bedürftige Kinder neu zu bemessen. Hierbei sind insbesondere die besonderen
Bedarfe für die Mittagsverpflegung in Ganztagsschulen oder Schulen mit einem
Bildungs- und Betreuungsangebot am Nachmittag und in Kindertageseinrich-
tungen zu berücksichtigen.“ (Bundesratsdrucksache 753/08 (Beschluss) vom
7. November 2008).

Die Einführung eines jährlichen Schulbedarfspakets von 100 Euro und die An-
hebung der Regelleistungen nach dem SGB II bzw. SGB XII für 6- bis 13-jäh-
rige Kinder durch das Konjunkturpaket II waren nicht geeignet, um den verfas-
sungsrechtlichen Bedenken zu begegnen. Damit ist dem Anliegen des Bundes-
rates, die Regelsätze für Kinder nach einer Überprüfung anhand des realen Be-
darfs anzupassen, nicht Rechnung getragen worden. Im Gegenteil haben diese
Maßnahmen – wie auch das Bundessozialgericht feststellt – noch einmal unter-
strichen, „dass es nach wie vor an einer begründeten Ermittlung des Bedarfs von
Kindern und einer Bezifferung ihres Existenzminimums fehlt.“ (Bundessozial-
gericht a. a. O.).

Unabhängig von der verfassungsrechtlichen Bewertung besteht ein dringender
politischer Handlungsbedarf bei der Festlegung der Regelleistungen für Kinder
und Jugendliche im Grundsicherungsbezug. Der Gesetzgeber ist aufgerufen,
umgehend ein Verfahren einzuleiten, mit dem die Bedarfe von Kindern und
Jugendlichen eigenständig und entsprechend der jeweiligen altersspezifischen

Bedürfnisse ermittelt werden. Dazu ist eine regierungsunabhängige Kommis-

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sion aus Experten und Betroffenenorganisationen einzurichten, die in einer vor-
gegebenen Zeit Vorschläge zur Anpassung der Regelleistungen vorlegt.

Mit der Expertise des Paritätischen Gesamtverbandes liegt bereits eine erste
eigenständige Bedarfsermittlung für Kinder und Jugendliche vor (Paritätischer
Gesamtverband, Was Kinder brauchen, Berlin 2008). Der Paritätische Wohl-
fahrtsverband ermittelt in seiner Expertise den Bedarf nach der Einkommens-
und Verbrauchsstichprobe 2003 und schreibt die Ergebnisse mittels eines regel-
satzspezifischen Preisindexes bis 2008 fort. Angesichts der realen Entwicklung
seit Mitte 2008 – Preisstabilität – können die so gewonnene Daten auch für 2009
noch Gültigkeit beanspruchen. Die ermittelten Bedarfssätze können für eine
Übergangszeit bis zur Vorlage eines Gesamtkonzepts zur Reform der Ermittlung
des soziokulturellen Existenzminimums vom Gesetzgeber übernommen wer-
den. Daraus ergeben sich dann folgende Regelleistungen:

● für Kinder bis unter 6 Jahren 276 Euro,

● für Kinder von 6 bis unter 14 Jahren 332 Euro und

● für Kinder ab Beginn des 15. Lebensjahres 358 Euro.

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