BT-Drucksache 17/2193

zu der dritten Beratung des Gesetzentwurfs der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP und der Bundesregierung -17/1555, 17/1940, 17/2057, 17/2188- Entwurf eines Gesetzes zur Weiterentwicklung der Organisation der Grundsicherung für Arbeitsuchende

Vom 16. Juni 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/2193
17. Wahlperiode 16. 06. 2010

Entschließungsantrag
der Abgeordneten Katja Kipping, Sabine Zimmermann, Klaus Ernst, Matthias
W. Birkwald, Heidrun Dittrich, Diana Golze, Jutta Krellmann, Cornelia Möhring,
Jörn Wunderlich und der Fraktion DIE LINKE.

zu der dritten Beratung des Gesetzentwurfs der Fraktionen der CDU/CSU, SPD
und FDP und der Bundesregierung
– Drucksachen 17/1555, 17/1940, 17/2057, 17/2188 –

Entwurf eines Gesetzes zur Weiterentwicklung der Organisation
der Grundsicherung für Arbeitsuchende

Der Bundestag wolle beschließen:

Das Bundesverfassungsgericht hat bereits im Dezember 2007 die Arbeitsge-
meinschaften aus Bundesagentur für Arbeit und Kommunen (ARGE) für verfas-
sungswidrig erklärt. Die Mischverwaltung in dieser Behörde widerspricht nach
den Ausführungen des Gerichts dem Grundgesetz. Dem Gesetzgeber wurde eine
Übergangsfrist bis Ende 2010 eingeräumt, um eine verfassungskonforme Orga-
nisation der Umsetzung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch (SGB II) zu be-
schließen und umzusetzen. Da zeitgleich die Experimentierklausel für die kom-
munale Zuständigkeit (§ 6a SGB II) endet, muss spätestens im Laufe dieses
Jahres das SGB II organisatorisch reformiert werden.

Weder die große Koalition aus CDU/CSU und SPD noch die neue Regierung aus
CDU/CSU und FDP haben bislang eine überzeugende Alternative vorgelegt.
Die vorliegende Reform läuft im Kern darauf hinaus, dass durch eine Verfas-
sungsänderung der Status quo verfassungsfest gemacht wird und eine Auswei-
tung der Anzahl der Optionskommunen verfassungsrechtlich ermöglicht wird.

Der Deutsche Bundestag lehnt den vorliegenden Reformvorschlag ab und sieht
sich dabei durch die Kritiken – insbesondere des Deutschen Gewerkschaftsbun-
des (DGB) – in der öffentlichen Anhörung des Ausschusses Arbeit und Soziales
am 7. Juni 2010 bestätigt. Bemerkenswert ist, dass die jahrelange intensive Be-
gleitforschung des Experiments einer zwischen Arbeitsgemeinschaften und zu-
gelassenen kommunalen Trägern gespaltenen Trägerschaft weitgehend ignoriert
wurde in dem Reformprozess.
1. Der bestehende Status quo ist meilenweit von den ursprünglichen Reform-
ideen entfernt. Das ursprüngliche Anliegen war die Schaffung einer Anlaufstelle
für alle Erwerbslosen. Es sollte die Bundesagentur für Arbeit mit einer Behörde
vor Ort für alle Menschen zuständig sein, die erwerbslos und/oder arbeitsuchend
sind. Statt dieses Ziel einer Vereinheitlichung zu erreichen, wurde ein institu-
tioneller Flickenteppich geschaffen. Zuständig sind vor Ort teilweise die
Agenturen für Arbeit – bei Vorliegen eines Anspruchs auf Arbeitslosengeld oder

Drucksache 17/2193 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

aber – bei fehlendem Anspruch auf Versicherungsleistungen – entweder eine
ARGE oder eine Optionskommune. Bislang gab es darüber hinaus auch noch die
Variante einer getrennten Aufgabenwahrnehmung. Der Deutsche Bundestag
bezweifelt, dass der Status quo bewahrenswert ist und auch noch durch eine
Verfassungsänderung abgesichert werden sollte. Insbesondere der DGB hat in
seiner Stellungnahme klar gemacht, dass durch die Einführung von Hartz IV ein
kritikwürdiges „Zwei-Klassen-System“ von Arbeitsuchenden geschaffen wurde.

2. Die Anzahl der Optionskommunen wird durch die Reform ausgeweitet wer-
den. Dem ist entgegenzuhalten, dass Erwerbslosigkeit ein gesamtgesellschaft-
liches Problem ist, für das der Bund in der Verantwortung steht. Der Bund hat
und behält die finanzielle Verantwortung. Daraus leitet sich aber auch die Ver-
pflichtung ab, auf die effektive und effiziente Verwendung dieser Bundesmittel
Einfluss zu nehmen. Eine Ausweitung der Optionskommunen ist mit diesem
Grundsatz absolut unvereinbar. Eine Aufsicht ist gegenüber den zugelassenen
kommunalen Trägern nicht vorgesehen. Die Eingliederung der Optionskommu-
nen in das System der Zielvereinbarungen ist kein ausreichendes Äquivalent für
eine Aufsicht des Bundes. Die vorgesehene Ausweitung der Anzahl der Options-
kommunen wird zudem zu einer unterschiedlichen Anwendung des SGB II füh-
ren.

3. Die Reform ignoriert die jahrelange systematische Begleitforschung im Auf-
trag des Bundes zur organisatorischen Umsetzung des SGB II. Die Ergebnisse
liegen vor und zeigen: Die Optionskommunen sind statistisch signifikant weni-
ger in der Lage Leistungsberechtigte in bedarfsdeckende Beschäftigung zu ver-
mitteln und aus der Hilfebedürftigkeit herauszuführen als andere Trägermodelle.
Der Abschlussbericht der Bundesregierung hatte festgehalten: „Gesamtwirt-
schaftlich werden die Einsparungen, die sich theoretisch ergäben, würde man
deutschlandweit das ARGE-Modell einführen (im Vergleich zu einer deutsch-
landweiten Einführung des zkT-Modells) auf Basis der Analysen im Unter-
suchungszeitraum auf 3,3 Mrd. Euro pro Jahr geschätzt“. (Unterrichtung der
Bundesregierung: Bericht zur Evaluierung der Experimentierklausel nach § 6c
des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch, Bundestagsdrucksache 16/11488, hier:
S. 25). Angesichts dieser Ergebnisse nun die Ausweitung der Optionskommu-
nen zu fordern, ignoriert die jahrelange wissenschaftliche Begleitforschung und
verkehrt die Ergebnisse ins Gegenteil.

4. Es sind zahlreiche Kritikpunkte im Detail zu ergänzen, von denen einige
exemplarisch genannt werden sollen. Der Gesetzentwurf enthält keine Beschäf-
tigungsgarantie für die im SGB-II-Bereich beschäftigten Personen. Die beruf-
liche Zukunft zahlreicher Beschäftigter ist und bleibt prekär. Ein Betreuungs-
schlüssel ist zwar in das Gesetz aufgenommen worden. Angesichts der vorgese-
henen Streichungen im Eingliederungstitel sowie bei der Verwaltung im SGB II
durch das „Sparpaket“ reicht eine rechtlich unverbindliche Regelung aber nicht
aus. Die Zusammensetzung der örtlichen Beiräte (Fehlen der Vereinigungen von
Betroffenen) ist ebenso zu kritisieren wie die Tatsache, dass die Beiräte keine
wirklichen Rechte haben.

5. Schließlich ist zu befürchten, dass auch für die Kommunen die Übernahme
der Verantwortung für das SGB II nur scheinbar attraktiv ist. Zwar können die
Kommunen im Rahmen des Gesetzes in größerer Eigenständigkeit über das
Budget verfügen. Gleichzeitig begeben sich die Kommunen aber in eine existen-
zielle Abhängigkeit vom Bundeshaushalt, denn auf die Ausstattung der Haus-
halte haben sie nur einen sehr begrenzten Einfluss. Kürzungen im SGB II sind
durch das „Sparpaket“ der Bundesregierung für die Verwaltungskosten und den
Eingliederungstitel bereits vorprogrammiert. Die Kürzungen werden sich auch
auf andere Bereiche erstrecken. Je mehr die Zuständigkeit für das SGB II in die

kommunalen Hände gelegt wird, desto größer wird der Anreiz für die Bundes-
regierung Ausgaben in diesem Bereich zu kürzen.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/2193

Die vorliegenden Entwürfe sind vor dem Hintergrund dieser Überlegungen
abzulehnen. Die vorgelegte Reform bringt für die Betroffenen keine Vorteile,
ignoriert die strukturellen Defizite des Status quo und bereitet den Weg für eine
Kommunalisierung der Arbeitsmarktpolitik. Dem kann ein verantwortlich agie-
render Deutscher Bundestag nicht zustimmen.

Berlin, den 16. Juni 2010

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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