BT-Drucksache 17/2019

Fachkräfteprogramm - Bildung und Erziehung - unverzüglich auf den Weg bringen

Vom 9. Juni 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/2019
17. Wahlperiode 09. 06. 2010

Antrag
der Abgeordneten Dr. Rosemarie Hein, Diana Golze, Dr. Petra Sitte, Agnes Alpers,
Dr. Dietmar Bartsch, Steffen Bockhahn, Roland Claus, Nicole Gohlke,
Michael Leutert, Dr. Gesine Lötzsch und der Fraktion DIE LINKE.

Fachkräfteprogramm – Bildung und Erziehung – unverzüglich auf den Weg
bringen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. In den nächsten Jahren droht in Deutschland trotz des zu erwartenden Ge-
burtenrückganges um ca. 17 Prozent ein extremer Mangel an pädagogischen
Fachkräften in Schulen und Einrichtungen der Kindertagesbetreuung. Wird
dem nicht entgegengewirkt, ist die Qualität des Bildungswesens in Deutsch-
land weiter gefährdet. Schon seit Jahren ist eine unhaltbare Abhängigkeit
des Bildungserfolges von der sozialen Herkunft der Lernenden zu verzeich-
nen. Wenn die Chancengleichheit beim Zugang zu Bildung und die Qualität
der Bildungsangebote in Kindereinrichtungen, Schule und Ausbildung, in
Hochschule und Weiterbildung und die Teilhabe daran verbessert werden
soll, muss als Erstes eine ausreichende personelle Ausstattung der Bildungs-
einrichtungen und in der Kindertagesbetreuung gesichert werden. Dazu ist
zu gewährleisten, dass genügend pädagogische Fachkräfte ausgebildet und
danach auch eingestellt werden.

2. An den allgemeinbildenden und berufsbildenden Schulen werden in den
nächsten Jahren tausende Lehrerinnen und Lehrer fehlen. Der Grund dafür
ist, dass etwa 50 Prozent der heute in den Schulen tätigen Lehrerinnen und
Lehrer älter als 50 Jahre sind und in den nächsten 15 Jahren in den Ruhestand
gehen werden, ohne dass der erforderliche Ersatzbedarf ausgebildet und ein-
gestellt wurde. Der Bildungsforscher Klaus Klemm hat berechnet, dass bis
zum Jahre 2020, allein um diese Lehrkräfte zu ersetzen, 460 000 Lehrerinnen
und Lehrer zum Bestand von 2007 neu eingestellt werden müssten. Dabei ist
eine Verbesserung der pädagogischen Rahmenbedingungen noch nicht in
Betracht gezogen. Notwendig wäre es aber, die Lernbedingungen an allen
Schulformen auch durch kleinere Lerngruppen und eine bessere Unterrichts-
versorgung zu verbessern. Das kann man erreichen, wenn die Zahl der Stellen

für Lehrerinnen und Lehrer trotz zurückgehender Schülerzahlen beibehalten
wird. Dafür wäre, laut Klaus Klemm, ein jährliches Einstellungsvolumen von
35 000 bis 38 000 Lehrerinnen und Lehrern erforderlich.

3. Im Jahr 2009 haben nach Angaben der Kultusministerkonferenz aus dem
Jahre 2010 insgesamt rund 23 500 Anwärterinnen und Anwärter für ein
Lehramt den Vorbereitungsdienst abgeschlossen. Der größte Anteil entfiel
dabei mit 31,7 Prozent auf allgemein bildende Schulen. Gleichzeitig wurden

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in den verschiedenen Schulzweigen in 2009 rund 30 400 Lehrkräfte in den
öffentlichen Schuldienst eingestellt. Fast 1 800 Stellen wurden dabei schon
jetzt durch sogenannte Seiteneinsteigerinnen und Seiteneinsteiger besetzt.
Dies weist deutlich auf einen allgemeinen Mangel an ausgebildeten Lehr-
kräften hin. Der jüngste HIS-Bericht zeigt nun, dass die Zahl der Studienan-
fängerinnen und Studienanfänger, die ein Lehramt studieren, mit nur 8 Pro-
zent aller, die ein Studium beginnen, deutlich zu niedrig ist. Auch die Ver-
einbarung der Kultusministerkonferenz zur Verstärkung der Anstrengungen
der Länder für die Lehrerbildung hat bisher keine nachhaltigen Erfolge ge-
bracht. Es ist also offensichtlich, dass mit einem „Weiter so“ der Fachkräfte-
mangel im Schulwesen nicht zu beheben sein wird.

4. Durch den aufgezeigten Mangel an Lehrerinnen und Lehrern droht zudem
eine Überlastung der vorhandenen Lehrkräfte, wenn die freibleibenden Stel-
len nicht zeitnah besetzt werden können oder sollen. Ein Kettenreaktion
droht: Schon heute deuten Erhebungen über die Gesundheit von Lehrerinnen
und Lehrern sowie Zahlen des durchschnittlichen Pensionierungsalters auf
diesen Missstand hin. Die Möglichkeiten, im bisherigen System gegenzu-
steuern, sind gering und zudem nicht wünschenswert. Die von den Ländern
gelegentlich schon genutzte Möglichkeit, über spezielle Programme den
Schuldienst für Personen zu öffnen, die über keinen Abschluss als Lehrerin
oder Lehrer verfügen, um so eine Entlastung der Personalsituation an Schu-
len zu erreichen, kann nur als vorübergehende Maßnahme akzeptiert wer-
den. Ebenso wenig ist es hilfreich, die Klassenstärken zu erhöhen oder die
Stundentafel zu senken. Auch die Erhöhung der Arbeitszeit der Lehrerinnen
und Lehrer im Schuldienst dürfte nicht in Erwägung gezogen werden, sollen
die Arbeit in diesem Beruf nicht zusätzlich erschwert und das Bildungs-
niveau nicht noch weiter gefährdet werden. Alle diese Mittel sind höchst
ungeeignet, die Defizite, die in den letzten Jahren immer wieder in internati-
onalen Vergleichsstudien konstatiert werden mussten, in irgendeiner Weise
abzubauen. Gibt es keine Gegensteuerung, werden aber nur diese Konse-
quenzen bleiben.

5. Deshalb muss dringend gehandelt werden. Die Bundesregierung befindet
sich derzeit in Verhandlungen mit den Bundesländern, um eine 3. Säule im
Rahmen des Hochschulpaktes 2020 zu vereinbaren. Hierbei ist das Ziel, die
Qualität des Studiums zu verbessern. Diese Verhandlungen könnten genutzt
bzw. fortgesetzt werden, um dem drohenden Mangel an Lehrkräften in den
nächsten Jahren durch ein entsprechendes Programm zur Sicherung zusätz-
licher Studienplätze für Lehrämter effektiv zu begegnen. Der jährliche Be-
darf beläuft sich auf rund 25 000 zusätzliche Studienplätze mit dem Prü-
fungsziel Lehramt. Die Kosten würden jährlich mindestens 185 Mio. Euro
für Bund und Länder betragen, legt man die durchschnittlichen Kosten eines
Studienplatzes von rund 7 300 Euro zugrunde.

6. Ein weiteres Fachkräfteproblem gibt es seit langem in der frühkindlichen
Bildung. Die Bundesregierung ist mit der Einführung des Rechtsanspruches
auf Bildung und Betreuung für Kinder vom vollendeten ersten Lebensjahr
an einen lange überfälligen Schritt hin zu mehr Bildungsbeteiligung und
mehr Bildungsgerechtigkeit gegangen. Abgesehen davon, dass die Ausge-
staltung dieses Rechtsanspruches nur als Halbtagsanspruch unbefriedigend
ist, hat sie versäumt, neben dem rechtlichen Rahmen die notwendigen Im-
pulse für die personelle Absicherung dieses Rechtsanspruches zu setzen. So
ist eine unhaltbare Situation eingetreten. Allein um das Ausbauziel der Bun-
desregierung zu erreichen, bedarf es nach jüngsten Zahlen des Statistischen
Bundesamtes 320 000 weiterer Betreuungsplätze – vor allem in den west-
lichen Bundesländern. Schon allein dafür wären, wird ein Betreuungsschlüs-

sel von 1:5 zugrunde gelegt, 64 000 zusätzliche Erzieherinnen und Erzieher
nötig. Erschwerend kommt hinzu, dass vor allem in den neuen Bundeslän-

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dern auf Grund von Personalabbau infolge stark gesunkener Kinderzahlen
ein Großteil der in Kindertageseinrichtungen Tätigen älter als 50 Jahre ist
und somit in einem überschaubaren Zeitraum nicht mehr zur Verfügung
steht. Das betrifft bundesweit etwa 66 000 Betreuungskräfte. Insgesamt
muss allein dafür von einem Personalbedarf von mindestens 130 000 neu
auszubildenden Betreuungskräften ausgegangen werden. Für ihre Ausbil-
dung ist ein Finanzvolumen von 1,26 Mrd. Euro erforderlich.

Hinzu kommt, dass weder die Zielstellungen selbst noch der Stand ihrer
Umsetzung den gesellschaftlichen Erfordernissen entsprechen. Insbesondere
für Kinder unter drei Jahren gibt es zu wenige Plätze und auch im Bereich
der Kinder von drei bis sechs Jahren ist keine bedarfsgerechte Versorgung
mit Ganztagsplätzen gegeben. Die Orientierung des Ausbauziels der Bundes-
regierung für die frühkindliche Bildung ist mit 35 Prozent zu niedrig ange-
setzt. Wie jüngere Umfragen belegen, muss mit einem deutlich höheren
Bedarf gerechnet werden, der mindestens auf dem Niveau der östlichen
Bundesländer liegen dürfte. Berechnungen des Deutschen Instituts für Wirt-
schaftsforschung e. V. (DIW Berlin) ergeben sogar, dass statt der prognosti-
zierten 750 000 Plätze in der frühkindlichen Bildung künftig 1,2 Millionen
nachgefragt würden, wenn diese angeboten werden. Dann aber muss von
weit mehr fehlenden Plätzen und entsprechend mehr fehlendem Betreuungs-
personal ausgegangen werden.

7. Angesichts der inhaltlichen Zielstellungen in der frühkindlichen Bildung ist
eine Professionalisierung der Arbeit von Erzieherinnen und Erziehern in
allen Altersgruppen unverzichtbar. Dies ist über die von der Bundesregierung
angeregten Weiterbildungsmaßnahmen nicht zu leisten. So sinnvoll und
wichtig Weiterbildung als berufsbegleitende Maßnahme ist, so wenig eignet
sie sich für die dauerhafte berufliche Ausbildung geeigneter pädagogischer
Fachkräfte. Vielmehr ist es erforderlich, langfristig die gesamte Ausbildung
des pädagogischen Personals für den Bereich der Elementarbildung, wie es
auch in anderen europäischen Ländern üblich ist, auf eine Hochschulausbil-
dung umzustellen. Ein großer Teil der in der Kindertagesbetreuung Tätigen
verfügt aber heute über keine abgeschlossene Berufsausbildung in einem
pädagogischen Beruf. Dies ist angesichts der gesellschaftlichen Erwartungs-
haltung und der darauf aufbauenden hohen Anforderungen an frühkindliche
Bildung und Betreuung nicht angemessen. Insbesondere in den westlichen
Bundesländern und im Bereich der Tagespflege haben die Beschäftigten
nicht die für ihre Tätigkeit erforderliche Ausbildung. Häufig wurden ledig-
lich Weiterbildungskurse besucht, die zu keinem pädagogischen Berufs-
abschluss führen. Langfristig sollte auch in der geförderten Tagespflege auf
eine einschlägige abgeschlossene Berufsausbildung der Tagespflegekräfte
hingearbeitet werden.

Zwar wurde dem Gesetz mit der Einrichtung eines Sondervermögens ein
Programm zur finanziellen Absicherung eines Teils der Investitions- und für
den Anfang auch der Betriebskosten beigefügt, aber die erforderliche Aus-
bildung eines entsprechenden Fachkräftebestandes wurde übersehen. Die
Bundesregierung hat es versäumt, neben der gesetzlichen Regelung des
Rechtsanspruches auf frühkindliche Bildung auch Vereinbarungen zur Aus-
bildung des dafür erforderlichen Personals mit den Ländern zu treffen. Da-
rum bedarf es angesichts der Größe vorhandener Defizite in der Ausbildung
noch über einige Jahre einer grundständigen, dreijährigen vollzeitschulischen,
beruflichen Ausbildung in Berufsfachschulen. Grundsätzlich sind die Län-
der für die Ausbildung des notwendigen pädagogischen Personals für die
Kinderbetreuung zuständig. Nach § 83 des Achten Buches Sozialgesetzbuch
sehen wir die Bundesebene in Verantwortung, weil die Aufgabe allein von

den Ländern nicht geschultert werden kann. Das dazu aufgelegte Sonderver-
mögen umfasst nicht die Ausbildung des erforderlichen Personals. Darum

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muss die Bundesregierung mindestens für die Ausbildung des durch den
Ausbau der Betreuungsplätze bis 2013 zusätzlich notwendig werdenden Per-
sonals Verantwortung übernehmen. Bei 64 000 noch fehlenden Fachkräften
ist dafür ein Finanzvolumen von 620 Mio. Euro zusätzlich durch Bund und
Länder aufzubringen.

8. In dieser Situation muss die Bundesregierung handeln. Darum muss die
Bundesregierung die ihr verbliebenen Spielräume politischen Handelns nut-
zen und gegebenenfalls mit den Ländern entsprechende bindende Verein-
barungen treffen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. in Abstimmung mit den Ländern ein Fachkräfteprogramm „Bildung und
Erziehung“ aufzulegen, dessen Ziel es ist, den notwendigen pädagogischen
Nachwuchs für Schule und frühkindliche Bildung in überschaubarer Zeit
bereitzustellen. Das Programm umfasst hierbei folgende Punkte:

a) Im Rahmen und in Ergänzung des Hochschulpaktes mit den Ländern soll
ein Sonderprogramm für die Finanzierung zusätzlicher Lehramtsstudien-
plätze für alle Schulformen entwickelt werden, so dass in spätestens
sieben bis acht Jahren mindestens 10 000 Lehrerinnen und Lehrer pro
Jahr zusätzlich zur Verfügung stehen.

b) Mit den Ländern wird die Aufstockung der vollzeitschulischen Ausbil-
dungsplätze für Erzieherinnen und Erzieher vereinbart. Für die nächsten
drei Jahre soll ein zusätzlicher Ausbildungskorridor von etwa 25 000
vollzeitschulischen Ausbildungsplätzen geschaffen werden, damit das
Ausbauziel der Bundesregierung in der frühkindlichen Bildung erreicht
werden kann. In der Folge sollen für einen Zeitraum von mindestens zehn
Jahren jährlich 7 500 zusätzliche Ausbildungsplätze zur Verfügung ge-
stellt werden.

c) Die Bundesregierung entwickelt ein berufsbegleitendes Weiterbildungs-
programm, das es den derzeit nur über Qualifizierungsprogramme befä-
higten Erzieherinnen und Erziehern ermöglicht, einen einschlägigen Be-
rufsabschluss zu erwerben.

d) Im Rahmen des Hochschulpaktes wird gemeinsam mit den Ländern ver-
einbart, wie die begonnenen Ausbildungsangebote für Erzieherinnen und
Erzieher an Hochschulen weiterentwickelt und entsprechende Erfahrun-
gen zügig verallgemeinert werden können.

e) Mit den Ländern soll vereinbart werden, dass die Qualität der Tages-
pflege durch begleitende Unterstützung, Vernetzungs- und Weiterbil-
dungsangebote und regelmäßige Qualitätsüberprüfungen durch die Ju-
gendämter sichergestellt und für Tagespflegekräfte die Möglichkeit zum
Erwerb eines Berufsabschlusses als Erzieherin oder Erzieher, gegebenen-
falls auch berufsbegleitend, geschaffen werden;

2. gemeinsam mit den Ländern einheitliche Standards der Landesstatistiken im
Schulbereich zu vereinbaren, um zukünftig die Modellrechnungen zum Be-
darf von Lehrkräften zu vereinfachen und eine bessere Vergleichbarkeit und
mehr Transparenz des statistischen Materials zu erreichen, ohne dabei je-
doch die informationelle Selbstbestimmung der Lernenden und Lehrenden
zu verletzen.

Berlin, den 9. Juni 2010
Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/2019

Begründung

1. Die Erhebungen in unterschiedlichen Untersuchungen machen deutlich,
dass in absehbarer Zeit eine dramatische Zuspitzung der Lehrkräftesituation
an Schulen zu erwarten ist, wenngleich die einzelnen Schulformen unter-
schiedlich stark betroffen sein werden. Zu den bereits bekannten Mangel-
situationen im Bereich der berufsbildenden Schulen, in sogenannten Mangel-
fächern und bei sonderpädagogischem Förderbedarf werden auch in bisher
nicht oder wenig betroffenen Bildungsbereichen Fehlbedarfe in großer Zahl
erwartet. Nahezu alle Lehrerverbände und die Gewerkschaften weisen seit
Jahren darauf hin.

An den allgemein bildenden und berufsbildenden Schulen arbeiteten laut
Statistischem Bundesamt im Jahr 2007 insgesamt rund 900 500 Pädagogin-
nen und Pädagogen (715 900 Vollzeitstellen). Fast 50 Prozent davon sind
älter als 50 Jahre, gehen also in den nächsten 15 Jahren in den Ruhestand. Am
ältesten sind die Lehrkräfte in Bremen (über 60 Prozent älter als 50 Jahre),
und mit mehr als 50 Prozent im Saarland, Niedersachsen, NRW, Hessen und
Baden-Württemberg. Der Bildungsforscher Klaus Klemm kommt zu dem
Ergebnis, dass bis zum Jahr 2020 etwa 460 000 Lehrerinnen und Lehrer
gegenüber dem Bestand von 2007 den Schuldienst verlassen. Dies hätte
– rechnet man den zu erwartenden Rückgang der Schülerinnen und Schüler
bis zum Jahre 2020 von etwa 17 Prozent ein – bis zum Jahre 2015 einen
durchschnittlichen jährlichen Einstellungsbedarf für mindestens 24 500
Vollzeitstellen zur Folge und für die Folgejahre bis 2020 noch einmal einen
Einstellungsbedarf für etwa 22 700 Vollzeitstellen. In dieser Rechnung sind
Maßnahmen für die Verbesserung der Personalausstattung an den Schulen
entsprechend den tatsächlichen pädagogischen Erfordernissen noch nicht
enthalten. Auch kleinere Lerngruppen und Klassen können mit diesem Er-
satzbedarf noch nicht geschaffen werden. Dies aber wurde auf dem Bil-
dungsgipfel 2008 in Dresden versprochen. Dazu müssten jedoch die Stellen-
zahlen in den Ländern trotz des erwarteten Schülerrückganges erhalten
bleiben und natürlich auch besetzt werden. Wenn man weiter davon ausgeht,
dass nicht alle Lehrenden eine Vollzeitstelle innehaben, muss, laut Klaus
Klemm, von einem jahresdurchschnittlichen Besetzungsbedarf von 35 000
bzw. 38 000 Lehrerinnen und Lehrern ausgegangen werden.

Der jüngste Bericht der Hochschul Informations System GmbH weist aber
aus, dass der Zulauf zum Lehramtsstudium wieder unter die Marke von
10 Prozent gefallen ist, obwohl die Kultusministerkonferenz Vereinbarun-
gen zur Lehrerbildung getroffen hat. So ist schon die Zahl der Studierenden,
die heute ein Lehramtsstudium aufnehmen, nicht ausreichend. Angesichts
der Tatsache, dass nur etwa 60 Prozent der Studierenden in einem Lehramts-
studiengang ihr Studium erfolgreich abschließen und weitere 10 Prozent
nach dem Vorbereitungsdienst nicht in den Schuldienst eintreten, wird deut-
lich, dass in den nächsten Jahren eine dramatische Unterrichtssituation an
den Schulen zu erwarten ist. Hinzu kommt, dass einige Länder in den ver-
gangenen Jahren weniger ausgebildet als sie selbst eingestellt haben. Zudem
werden – trotz teilweise verkürzter Ausbildungszeiten – zu wenige Plätze
für den Vorbereitungsdienst zur Verfügung gestellt, so dass nicht alle Absol-
ventinnen und Absolventen der Universitäten nach der ersten Staatsprüfung
die zweite Ausbildungsphase zeitnah absolvieren können. Insgesamt muss
befürchtet werden, dass in allen Bundesländern eine Situation eintritt, in der
– selbst bei ausreichender Stellenzahl – nicht genügend ausgebildete Lehre-
rinnen und Lehrer zur Verfügung stehen, um diese Stellen zu besetzen und
den Unterricht abzusichern. Es steht zu befürchten, dass dann zu Mitteln ge-
griffen werden muss, die die Qualität schulischer Bildung in Deutschland

weiter verschlechtern.

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2. Fast noch dramatischer ist die Situation im Bereich der Kinderbetreuung.
Allein das Ausbauziel des vom Bundestag beschlossenen Tagesbetreuungs-
ausbaugesetzes (2005) und des Kinderförderungsgesetzes (2008) erforderte
(nach Professor Dr. Stefan Sell) bis 2013 etwa 80 000 zusätzliche Fach-
kräfte. Auch nach den jüngst vorliegenden Zahlen vom Januar 2010 (Stich-
tag 1. März 2009) fehlen allein für den von der Bundesregierung angestreb-
ten Ausbau auf ein Versorgungsniveau von 35 Prozent aller Kinder unter
drei Jahren noch 64 000 Fachkräfte. Diese müssten bis zum Jahre 2013 zur
Verfügung stehen. Zudem ist der Personalschlüssel für die Betreuung in den
Ländern höchst unterschiedlich. Für den Altersbereich von null bis drei Jah-
ren reicht er von 1:4 bis fast 1:8 Kinder. Selbst die Bertelsmann-Stiftung
empfiehlt dagegen einen Betreuungsschlüssel von 1:3. Für den Altersbe-
reich von drei bis sechs Jahren schwankt der Betreuungsschlüssel in den
Ländern von 1:8 bis über 1:13 Kinder. Hier liegt die Empfehlung der
Bertelsmann-Stiftung bei 1:7,5. Die erforderlichen Personalzahlen im An-
trag orientieren sich nur am derzeitigen Betreuungsniveau, eine notwendige
Verbesserung der Betreuungsbedingungen wurde dabei noch nicht ins Auge
gefasst.

Derzeit steht deutschlandweit nach dieser Erhebung nur für 20,2 Prozent der
Kinder unter drei Jahren ein Betreuungsplatz zur Verfügung. Bei den Kin-
dern im Alter von drei bis sechs Jahren wurde inzwischen ein durchschnitt-
licher Versorgungsgrad von fast 90 Prozent erreicht. Aber nur gut etwa
30 Prozent der Kinder haben echte Ganztagsplätze. Ebenso schlecht ist die
Beschäftigungssituation in diesem Bereich: Wie aus dem Bundesbildungs-
bericht 2008 hervorgeht, arbeiten mehr als 50 000 Beschäftigte in der
Kinderbetreuung halbtags oder weniger; nur ein Drittel der Stellen sind Voll-
zeitstellen.

Verstärkt wird die Personalsituation weiter durch das Altersproblem, das
schon heute sichtbar ist: Von derzeit 326 000 Beschäftigten im Bereich der
frühkindlichen Bildung sind mehr als 66 000 älter als 50 Jahre, das sind
20 Prozent aller in der Kinderbetreuung Beschäftigten. Besonders im Osten
gibt es zu wenige Erzieherinnen und Erzieher im Alter bis zu 35 Jahren. Hier
liegt der Anteil der Beschäftigten im Alter von über 50 Jahren bei etwa
50 Prozent. Diese Fachkräfte müssen in absehbarer Zeit ersetzt werden.
Hinzu kommt der Mehrbedarf, der sich aus den bisher veranschlagten Aus-
bauzielen bis 2013 ergibt.

Zudem wurden von der Bundesregierung die tatsächlichen Bedarfe früh-
kindlicher Betreuungsangebote deutlich unterschätzt. Auch der Städte- und
Gemeindebund hat Anfang dieses Jahres angemahnt, dass das von der Bun-
desregierung angestrebte Ausbauziel nicht ausreichend ist, um den wachsen-
den Bedarf zu decken. Jüngst stellte auch der Ministerpräsident von Hessen,
Roland Koch, die Ausbauziele in Frage. Neuere Umfragen zeigen indes,
dass, anders als von der Bundesregierung angenommen, ein Interesse an
frühkindlicher Bildung und Betreuung bei über 60 Prozent der Eltern be-
steht. Als Indiz und Beleg für die Richtigkeit der Annahmen kann die Inan-
spruchnahme frühkindlicher Bildung in Sachsen-Anhalt gelten, dem einzi-
gen Land, in dem es seit 20 Jahren einen Rechtsanspruch auf Bildung und
Betreuung in einer Kindereinrichtung vom ersten Lebensjahr an gibt. In den
Jahren 2005/2006 haben in Sachsen-Anhalt 54 Prozent der Kinder unter drei
Jahren einen Betreuungsplatz in Anspruch genommen. Insofern muss das
Umfrageergebnis, nach dem zwei Drittel der Eltern für ihr Kind eine früh-
kindliche Betreuung wünschen, Maßstab für künftig zu beschließende Aus-
bauziele sein.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7 – Drucksache 17/2019

Die Bundesregierung hat sich mit der Einführung eines Rechtsanspruches
auf Betreuung ein ehrgeiziges Ziel gesetzt, das auch inzwischen in allen
Ländern durch Bildungsprogramme für die Elementarbildung untersetzt
wurde. Für die Umsetzung dieser Ausbauziele und für die Sicherung einer
hohen Qualität frühkindlicher Bildung und Betreuung bedarf es eines ange-
messen ausgebildeten pädagogischen Personals in ausreichender Zahl. Aber
von den derzeit in der Kindertagesbetreuung Tätigen haben schon heute über
20 Prozent keine Ausbildung als Erzieherin oder Erzieher oder eine gleich-
wertige Ausbildung. Das ist für den Bildungsanspruch in der Kinderbetreu-
ung nicht ausreichend. Nur 3 Prozent sind akademisch ausgebildet. In der
Tagespflege haben laut Bildungsbericht der Bundesregierung 2008 nicht
einmal 40 Prozent der Beschäftigten eine pädagogischen Ausbildung; mehr
als 60 Prozent haben lediglich Qualifizierungskurse, zum Teil mit nur weni-
gen Stunden, absolviert oder nicht einmal das. Angesichts der ehrgeizigen
Ziele der Bundesregierung und der Länder, mit den Programmen zur früh-
kindlichen Bildung nicht nur die Zahl der Betreuungsangebote deutlich zu
erhöhen, um den Rechtsanspruch erfüllen zu können, sondern auch die Qua-
lität der frühkindlichen Bildung deutlich zu verbessern, ist dies ein unhaltba-
rer Zustand.

Von der Sicherung der Ausbauziele, insbesondere von der Bereitstellung des
nötigen und angemessen ausgebildeten pädagogischen Personals, ist man in
den Ländern und Kommunen noch weit entfernt. Die ersten Forderungen zur
Aufgabe der Ausbauziele wurden Anfang dieses Jahres deutlich hörbar.

Wenn das Vorhaben nicht scheitern soll, muss umgehend gehandelt werden.

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