BT-Drucksache 17/1965

Stärkung der humanitären Lage in Afghanistan und der partnerschaftlichen Kooperation mit Nichtregierungsorganisationen

Vom 9. Juni 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/1965
17. Wahlperiode 09. 06. 2010

Antrag
der Abgeordneten Burkhard Lischka, Karin Roth (Esslingen), Dr. Sascha Raabe,
Lothar Binding (Heidelberg), Dr. h. c. Gernot Erler, Petra Ernstberger, Iris Gleicke,
Dr. Barbara Hendricks, Dr. Bärbel Kofler, Ute Kumpf, Thomas Oppermann,
Johannes Pflug, Frank Schwabe, Wolfgang Tiefensee, Manfred Zöllmer,
Dr. Frank-Walter Steinmeier und der Fraktion der SPD

Stärkung der humanitären Lage in Afghanistan und der partnerschaftlichen
Kooperation mit Nichtregierungsorganisationen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Der Deutsche Bundestag hat am 26. Februar 2010 in namentlicher Abstimmung
dem neuen Afghanistan-Mandat mehrheitlich zugestimmt. Das neue Mandat
beinhaltet den Strategiewechsel zu einem Abschluss der Afghanistan-Mission.
Es stockt die Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit auf fast das Doppelte
auf und vollzieht damit richtige Schritte. Die Aufstockung der Mittel für die Ent-
wicklungszusammenarbeit wirft jedoch zugleich Fragen nach den Konzepten
auf, die bei der Entwicklungszusammenarbeit mit Afghanistan künftig verfolgt
werden sollen.

Afghanistan sieht sich, wie auch auf der Londoner Afghanistan-Konferenz am
28. Januar 2010 betont wurde, gewaltigen Herausforderungen auf dem Gebiet
der Entwicklung gegenüber, die eine nachhaltige und langfristige Unterstützung
der internationalen Gemeinschaft erforderlich machen. Eine besser abgestimmte
und mit mehr Mitteln ausgestattete zivile Anstrengung sei von entscheidender
Bedeutung für die Überwindung dieser Herausforderungen, heißt es im Schluss-
dokument der Konferenz. Gemessen an den berechtigten Erwartungen der Men-
schen in Afghanistan und in den Geberländern und gemessen an den Hoffnun-
gen, die zu Beginn des deutschen Engagements bestanden, ist der Wiederaufbau
bisher in der Tat zu langsam und nicht ausreichend vorangekommen.

Während für die Stärkung z. B. des Polizeiaufbaus und die Unterstützung des
Aufbaus staatlicher Organisationen (Good Governance) konkrete Schritte ein-
geleitet sind, fehlen für eine umfassende Verbesserung der humanitären Lage der
Afghaninnen und Afghanen häufig Ziele und neue Zielmarken, anhand derer die
Fortschritte beim Aufbau des Landes gemessen werden können.
Offen ist, wie ein möglichst vollständiger Mittelabfluss so organisiert werden
kann, dass nicht Korruption Vorschub geleistet wird und ob trotz vorhandener
Personalengpässe Strukturen vorhanden sind, um die neuen zusätzlichen Mittel
sinnvoll und mit dauerhaftem Nutzen für das afghanische Volk einzusetzen.

Gerade vor diesem Hintergrund sind ein umfassendes Monitoring und regel-
mäßige, engmaschige Berichterstattungen der Bundesregierung im Parlament

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alternativlos. Diese sollen insbesondere auch die Entwicklungszusammenarbeit
in den Blick nehmen und somit auch helfen, die Follow-up-Konferenz der
Londoner Konferenz in Kabul vorzubereiten.

Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit ist in zehn Provinzen Afghanistans
mit Schwerpunkt im Norden und in Kabul aktiv. Die Institutionen der Entwick-
lungszusammenarbeit arbeiten mit Schwerpunkten in den Bereichen Energie-
versorgung, Wasser, Wirtschaftsentwicklung sowie Grund- und Berufsbildung.
Grundlegende Gesundheitsleistungen konnten in den vergangenen acht Jahren
bereitgestellt und mehr als sechs Millionen Kindern der Besuch einer Grund-
schule ermöglicht werden. Diese regionale und thematische Breite muss erhal-
ten bleiben. Entwicklungszusammenarbeit muss dort stattfinden, wo Bedarf
besteht. Insbesondere ist die Entwicklungsarbeit verstärkt auf die überwiegend
ländlichen Regionen Afghanistans auszurichten.

Denn obwohl z. B. die Kindersterblichkeit gesunken ist, ist sie nach wie vor die
höchste in der Welt; die Müttersterblichkeit ist trotz Verbesserungen noch immer
dramatisch. Nahezu die Hälfte der afghanischen Bevölkerung lebt in Armut und
rund ein Drittel leidet Hunger. Die Traumatisierung der Bevölkerung durch die
Jahre des Bürgerkrieges behindert oft den Friedensprozess.

Die Aufstockung der Mittel und die Neuausrichtung des Mandats eröffnen hier
die Chance, Entwicklung nachhaltig weiter zu befördern und die schlechte
humanitäre Lage der Menschen dauerhaft zu verbessern. Bei der Umsetzung von
Projekten kommt den Nichtregierungsorganisationen und den in der Entwick-
lungszusammenarbeit engagierten kirchlichen und politischen Stiftungen, die
zum Teil seit Jahrzehnten vor Ort tätig und mit der lokalen Gegebenheit eng ver-
traut sind, eine zentrale Stellung zu. Grundsätzlich herrscht Einigkeit darüber,
dass Sicherheit und Entwicklung in Afghanistan einander bedingen und dass
zahlreiche Entwicklungsvorhaben ohne den Einsatz von ISAF praktisch nicht
durchführbar wären.

Kontraproduktiv für die Entwicklungszusammenarbeit ist aber die angekündigte
Strategie des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-
wicklung (BMZ), zivile Aufbauarbeit und Militär stärker zu verknüpfen. Mit-
arbeiterinnen und Mitarbeiter von Nichtregierungsorganisationen und zivile
Helferinnen und Helfer vor Ort befürchten nicht unbegründet, dass dies die Ver-
trauensbasis in Afghanistan stört und den Erfolg ihrer Arbeit, aber auch ihre per-
sönliche Sicherheit gefährdet. Eine erzwungene Vermischung von humanitärer
Hilfe und militärischem Einsatz lehnen wir ab. Dennoch braucht der zivile Auf-
bau ein sicheres Umfeld und hier leistet ISAF einen wichtigen Beitrag. Damit
der Wiederaufbau gelingen kann, muss Sicherheit im Land gewährleistet sein.

Es muss unser Ziel sein, die Lebenssituation der afghanischen Bevölkerung
nachhaltig zu verbessern. Dies ist eine Grundvoraussetzung für die Stabilisie-
rung des Landes.

Stabilität in Afghanistan ist immer auch regionale Stabilität. Es ist notwendig,
eine kohärente Strategie zur Einbeziehung der Nachbarn Afghanistans vorzule-
gen und diese Länder, vor allem Pakistan, entsprechend bei der Umsetzung zu
unterstützen. Die Bundesrepublik Deutschland wie die EU engagieren sich ver-
stärkt in Pakistan mit dem Ziel der Armutsbekämpfung. Dabei konzentrieren sie
ihre Hilfe auf die ländliche Entwicklung, den nachhaltigen Umgang mit natür-
lichen Ressourcen, den Auf- und Ausbau des Bildungssystems sowie die um-
fassende Qualifizierung staatlichen Personals. Der Deutsche Bundestag hat dies
mit seinem Beschluss „Pakistan stabilisieren und seine demokratische Entwick-
lung vorantreiben“ (Bundestagsdrucksache 16/12432) bekräftigt. Für eine dauer-
hafte Stabilisierung Afghanistans und der Region ist die enge Zusammenarbeit
zwischen Pakistan und Afghanistan unerlässlich. Deutschland muss eine engere

Kooperation zwischen den beiden Ländern unterstützen. Darüber hinaus ist die

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regionale Zusammenarbeit mit den anderen wichtigen Nachbarstaaten wie Indien,
Iran, China und den zentralasiatischen Staaten zu vertiefen.

Ein Friedensfonds nach dem Beispiel des durch die Bundesrepublik Deutsch-
land initiierten und finanzierten Friedensfonds in der DR Kongo würde die Er-
reichung dieses Ziels fördern. Durch diesen durch das BMZ finanzierten Fonds
können Projekte unterstützt werden, die konkrete Bedürfnisse insbesondere
auch der ländlichen Bevölkerung aufnehmen und gleichzeitig Arbeitsplätze
schaffen. So wird erreicht, dass gerade die Bevölkerung in ländlichen Regionen
eine direkte Friedensdividende erlangt.

Eine nachhaltig positive Entwicklung in Afghanistan setzt nicht zuletzt die
gleichberechtigte Teilhabe von Frauen voraus. Die Rechte von Mädchen und
Frauen sind zu stärken. Deutschland, seine internationalen Partner, vor allem
aber auch die afghanische Regierung selbst, müssen der Förderung und dem
Schutz von Frauenrechten eine zentrale Rolle in ihren Aufbaukonzepten ein-
räumen. Hierzu sollen unter anderem ein Aktionsplan der Bundesregierung zur
Förderung der Frauen und ihrer Rechte und zur Umsetzung der Nationalen
Afghanischen Entwicklungsstrategie ANDS beitragen.

Deutschland als einer der größten Geber ziviler Hilfe hat mit der Ausgestaltung
seiner Entwicklungszusammenarbeit einen der wichtigen Schlüssel für eine
nachhaltige Befriedung Afghanistans und die Stärkung der Menschenrechte im
Land in der Hand. Zur Erreichung seiner Ziele muss Deutschland stark auf das
Engagement von Nichtregierungsorganisationen und eine intensive Kooperation
mit der afghanischen Zivilgesellschaft setzen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. die fraktionsübergreifende Initiative zur wissenschaftlichen Evaluation der
deutschen Beteiligung an ISAF und des deutschen und internationalen Enga-
gements für den Wiederaufbau Afghanistans zügig umzusetzen und dem
Bundestag vor der nächsten Verlängerung des ISAF-Mandats vorzulegen;

2. die partnerschaftliche Kooperation mit Nichtregierungsorganisationen in der
Entwicklungszusammenarbeit allein daran auszurichten, wie die Ziele zur
Entwicklung Afghanistans und seiner Gesellschaft am besten erreicht werden
können. Suchen Nichtregierungsorganisationen aus begründeter Sorge
Distanz zu den Militärs, um ihren Status der Neutralität in den Augen der
Bevölkerung nicht zu verlieren, ist dies zu respektieren. Darüber hinaus ist
sicherzustellen, dass Projekte der Entwicklungszusammenarbeit – insbeson-
dere multilaterale – über die Nordregion und den Raum Kundus hinaus wei-
terhin gefördert werden können – allein ausgerichtet an den Erfordernissen
der Hilfe und nicht an der Präsenz deutscher ISAF-Truppen;

3. die Geberkoordination umgehend zu verbessern und zu prüfen, ob eine
Konzentration einzelner Staaten auf einzelne Ministerien durch die Über-
nahme einer Patenschaft für ein Ressort der afghanischen Regierung zu
besseren Ergebnissen führt;

4. die Entwicklungsarbeit verstärkt auf die überwiegend ländlichen Regionen
Afghanistans auszurichten, dabei alle lokalen Bevölkerungsteile und zivil-
gesellschaftlichen Akteure zu integrieren und dazu beizutragen, dass das
zivilgesellschaftliche Engagement gestärkt und wirksame Mechanismen für
den Schutz von zivilgesellschaftlich engagierten Menschen entwickelt und
umgesetzt werden;

5. für Afghanistan einen Friedens- und Wiederaufbaufonds nach dem Beispiel
des durch die Bundesrepublik Deutschland initiierten und finanzierten Frie-

densfonds in der DR Kongo einzurichten. Durch aus diesem Fonds finanzierte
Projekte, die in Zusammenarbeit mit der lokalen Bevölkerung und den Orga-

Drucksache 17/1965 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

nisationen der Zivilgesellschaft deren konkreten Bedürfnissen entsprechen
und gleichzeitig Arbeitsplätze schaffen, erlangt die afghanische Bevölke-
rung eine direkte Friedensdividende. Ein solcher Fonds soll aus der für
Afghanistan zugesagten Mittelaufstockung des BMZ finanziert werden;

6. über Projektmittel zur Verbesserung der Menschenrechtslage in Afghanis-
tan beizutragen, das zivilgesellschaftliche Engagement zu fördern und wirk-
same Mechanismen für den Schutz von zivilgesellschaftlich engagierten
Menschen zu entwickeln und umzusetzen;

7. im Rahmen der Geberkoordinierung Landwirtschaft und ländliche Entwick-
lung verstärkt zu fördern;

8. den Aufbau einer stabilen Wirtschaft und Gesellschaft in Afghanistan da-
durch zu verstärken, dass mehr Investitionsmittel in die Bereiche Infrastruk-
tur und natürliche Ressourcen, Bildung, Gesundheit und Sozialfürsorge,
Privatwirtschaft, effiziente Regierungsführung und Korruptionsbekämp-
fung gelenkt werden;

9. eine kohärente Strategie zur Einbeziehung der Nachbarn Afghanistans vor-
zulegen und diese Länder, vor allem Pakistan, entsprechend bei der Umset-
zung zu unterstützen;

10. einen Aktionsplan der Bundesregierung zur Förderung der Frauen und ihrer
Rechte und zur Umsetzung der Nationalen Afghanischen Entwicklungs-
strategie ANDS (Afghanistan National Development Strategy) in Bezug auf
die Umsetzung der Gender Equity Strategy und des Nationalen Aktions-
plans für die Frauen Afghanistans NAPWA (National Action Plan for the
Women of Afghanistan) vorzulegen. Dieser Aktionsplan muss eine Evalu-
ierung des bisher Erreichten ebenso enthalten wie klare zeitliche, qualitative
und quantitative Zielvorgaben sowie nachprüfbare Kriterien für die Umset-
zung. Dieser Aktionsplan ist vor der Kabul Konferenz vorzulegen;

11. einen erheblichen Teil der von der Bundesregierung zugesagten zusätz-
lichen Mittel für den zivilen Aufbau Afghanistans in die Förderung des
afghanischen Frauenministeriums MOWA (Ministry of Women’s Affairs)
und die Umsetzung des NAPWA, der konkrete Zielvorgaben insbesondere
in den Bereichen Alphabetisierung, Bildung und Gesundheit aufweist, und
der ANDS und ihrer Ziele bereitzustellen und diese auch personell zu unter-
stützen. Hierbei müssen sich Deutschland und die internationale Gemein-
schaft für strukturelle Verbesserungen im staatlichen Gesundheitswesen
einsetzen, damit Frauen einen besseren Zugang zur medizinischen Versor-
gung und angemessene Behandlung erhalten;

12. die medizinische Grundversorgung der Menschen in Afghanistan, insbeson-
dere auch in ländlichen Regionen, weiter zu verbessern und Programme zu
initiieren und zu unterstützen, die helfen, die Müttersterblichkeit und Kin-
dersterblichkeit signifikant zu senken und sich auch der Traumabekämp-
fung widmen;

13. dafür Sorge zu tragen, dass Frauen und Frauenorganisationen aus Afghanis-
tan bei allen nationalen und internationalen Konferenzen zur weiteren Ent-
wicklung Afghanistans gleichberechtigt beteiligt werden und mit der
afghanischen Regierung verbindlich zu vereinbaren, dass Frauen in die
Planung und Umsetzung eines sogenannten Friedens- und Reintegrations-
programmes und der Entwicklung der nationalen Sicherheitsstrategie
gleichberechtigt einbezogen werden. Auch bei der Weiterentwicklung tradi-
tioneller Konfliktbeilegungsinstrumente (sog. Friedens Jirgas) ist darauf zu
achten und hinzuwirken, dass Frauen gleichberechtigt beteiligt und ihre
Rechte gewahrt werden;

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/1965

14. sich dafür einsetzen, dass die afghanische Regierung das Gesetz zur Elimi-
nierung von Gewalt gegen Frauen und Mädchen umsetzt. Die afghanische
Regierung soll mit Unterstützung der internationalen Geber eine groß ange-
legte Kampagne starten, die klarstellt, dass Vergewaltigung und jede Form
sexueller Gewalt eine Straftat ist und die das entsprechende Bewusstsein bei
den Exekutivorganen (Richter, Beamte) und der afghanischen Öffentlich-
keit schafft. Die afghanische Regierung soll stärker aufgefordert werden,
die staatliche Registrierung von Ehen leichter zugänglich und obligatorisch
zu machen.

Berlin, den 8. Juni 2010

Dr. Frank-Walter Steinmeier und Fraktion

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