BT-Drucksache 17/1910

Bilanz der Bleiberechts- bzw. Altfallregelung (Nachfrage zu Bundestagsdrucksache 17/1539)

Vom 3. Juni 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/1910
17. Wahlperiode 03. 06. 2010

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Sevim Dag˘delen, Wolfgang Neskovic,
Petra Pau, Jens Petermann, Raju Sharma, Halina Wawzyniak und der Fraktion
DIE LINKE.

Bilanz der Bleiberechts- bzw. Altfallregelung (Nachfrage zu Bundestags-
drucksache 17/1539)

Aus der Antwort der Bundesregierung auf Bundestagsdrucksache 17/1539 zu
den Fragen 6 und 7) geht hervor, dass die gesetzliche „Altfallregelung“ nach
§ 104 a/b des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) die an sie gestellten Erwartungen
nicht erfüllen konnte: Die Bilanz zum 31. März 2010 ergibt, dass nach Angaben
des Ausländerzentralregisters nur etwa 6 500 Personen eine Aufenthaltserlaub-
nis im Rahmen der „Altfallregelung“ erhielten, nachdem sie eine vollständige
Lebensunterhaltssicherung durch Erwerbstätigkeit nachweisen konnten. Wei-
tere knapp 1 000 Personen bekamen eine Aufenthaltserlaubnis aufgrund von
Sonderregelungen für Minderjährige. Und etwa 5 000 Menschen konnten ihre
Aufenthaltserlaubnis „auf Probe“ als „reguläre“ Aufenthaltserlaubnis verlän-
gern, weil sie zum Jahreswechsel 2009/2010 eine wenigstens „überwiegende“
Lebensunterhaltssicherung durch eigene Erwerbstätigkeit nachweisen konnten.
Eine spätere Verlängerung all dieser Aufenthaltserlaubnisse ist im Falle eines
Jobverlusts allerdings gefährdet.

Die Zahl von etwa 12 500 nach der „Altfallregelung“ erteilten Aufenthalts-
erlaubnissen weicht erheblich von der im Gesetzgebungsverfahren genannten
Zahl von möglicherweise bis zu 60 000 Bleibeberechtigen ab. Zu hohe gesetz-
liche Hürden und die Auswirkungen der Finanz- bzw. Wirtschaftskrise auf den
Arbeitsmarkt dürften hierfür ursächlich sein.

Das absehbare Scheitern der „Altfallregelung“ vor Augen wurde auf der Stän-
digen Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder (IMK) im
Dezember 2009 eine Anschlussregelung beschlossen. Eine Bewertung dieser
Regelung fällt schwer, da bis Ende April 2010 nur drei Bundesländer dem Bun-
desministerium des Innern Zahlen zur Umsetzung des IMK-Beschlusses gemel-
det hatten, die in der Tendenz jedoch auf eine sehr positive Umsetzungspraxis
hindeuten (vgl. Bundestagsdrucksache 17/1539). Indirekt lässt sich aus der seit
Dezember 2009 erheblich gestiegenen Zahl von Aufenthaltserlaubnissen nach
§ 23 Absatz 1 AufenthG ableiten, dass bis Ende März 2010 etwa 18 500 Auf-
enthaltserlaubnisse nach dem IMK-Beschluss vom Dezember 2009 erteilt wor-

den sein könnten – häufig erneut nur „auf Probe“. Somit befinden sich vermut-
lich weit über 10 000 Menschen, die im Rahmen der gesetzlichen „Altfallrege-
lung“ eine Aufenthaltserlaubnis „auf Probe“ erhalten hatten, trotz der IMK-Re-
gelung weiter in der aufenthaltsrechtlichen Schwebe oder sogar bereits ohne
Aufenthaltstitel in Deutschland.

Drucksache 17/1910 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

An dem allseits kritisierten Problem verbreiteter Kettenduldungen konnten we-
der die „Altfallregelung“ noch der IMK-Beschluss substantiell etwas ändern,
vor allem wegen des Stichtags 1. Juli 2007, zu dem die zeitlichen Vorausset-
zungen für ein Bleiberecht erfüllt sein mussten. Ende März 2010 wurden immer
noch knapp 88 000 Menschen lediglich geduldet, über 56 000 von ihnen, obwohl
sie bereits länger als sechs Jahre in Deutschland lebten. Der Anteil der langjährig
geduldeten Personen an allen Geduldeten ist mit 64 Prozent so hoch wie nie
zuvor.

Aus der Antwort der Bundesregierung auf Bundestagsdrucksache 17/1539 geht
zudem hervor, dass es noch eine weitere große Personengruppe gibt, die in der
bisherigen Bleiberechtsdebatte noch gar keine Berücksichtigung gefunden hat,
für die aber vergleichbare Lösungen wie für die Gruppe der langjährig Gedulde-
ten gefunden werden müssen. Es geht um fast 70 000 ausreisepflichtige Men-
schen, die nicht einmal über eine Duldung verfügen können, obwohl 53 000 von
ihnen bereits länger als sechs Jahre in Deutschland leben (vgl. auch Süddeutsche
Zeitung vom 7. Mai 2010: „Leben auf dem Koffer“). Damit erhöht sich die Zahl
der Personen, die trotz langjährigem Aufenthalt ohne rechtmäßigen Aufenthalts-
titel in Deutschland leben, auf etwa 109 000. Der Gesetzesänderungsbedarf ist
damit noch größer als bislang gedacht.

Die Fraktion DIE LINKE. hat bereits entsprechende Gesetzesänderungen vorge-
schlagen, um für die Betroffenen eine sichere Bleiberechtsperspektive zu schaf-
fen (vgl. Bundestagsdrucksache 17/1557).

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie viele Personen (Familien) haben bis zum 31. März 2010 (bzw. bis Ende
Mai 2010) nach Angaben der Bundesländer eine Verlängerung ihrer
Aufenthaltserlaubnis „auf Probe“ im Rahmen des IMK-Beschlusses vom
4. Dezember 2009 bzw. der „Altfallregelung“ beantragt (bitte nach Bundes-
ländern differenzieren, soweit Angaben aus den fünf bevölkerungsreichsten
Bundesländern noch nicht vorliegen sollten, wird hiermit vorsorglich eine
längere Zeit zur Beantwortung der Anfrage eingeräumt), und falls diese
Angaben immer noch nicht vollständig vorliegen sollten, was ist der Grund
dafür, dass die Bundesländer die vom Bundesinnenministerium erbetenen
Daten nicht zeitnah zur Verfügung stellen, und was unternimmt die Bundes-
regierung diesbezüglich?

2. Wie viele der in Frage 1 benannten Anträge wurden nach Angaben der Bun-
desländer bis zum 31. März 2010 (bzw. bis Ende Mai 2010) noch nicht ent-
schieden, wie viele wurden abgelehnt (welche genaueren Erkenntnisse gibt
es zu den Gründen der Ablehnung in welchem Umfang?), und wie viele Per-
sonen erhielten

a) eine Aufenthaltserlaubnis infolge des IMK-Beschlusses von Ende 2009
nach § 23 Absatz 1 Satz 1 AufenthG wegen nachgewiesener oder glaub-
haft gemachter Halbtagsbeschäftigung,

b) eine Aufenthaltserlaubnis infolge des IMK-Beschlusses von Ende 2009
nach § 23 Absatz 1 Satz 1 AufenthG wegen (voraussichtlich) erfolgreicher
Schul- oder Berufsausbildung,

c) eine Aufenthaltserlaubnis infolge des IMK-Beschlusses von Ende 2009
„auf Probe“ nach § 23 Absatz 1 Satz 1 AufenthG wegen nachgewiesener
Bemühungen um eine eigenständige Lebensunterhaltssicherung,

d) eine Aufenthaltserlaubnis nach § 104a Absatz 5 bzw. 6 AufenthG (bitte
differenzieren),

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/1910

e) eine Aufenthaltserlaubnis aus sonstigem Grunde/auf sonstiger Rechts-
grundlage und welche genaueren Angaben lassen sich hierzu machen

(bitte jeweils nach Bundesländern differenzieren und Prozentangaben im
Vergleich zur Zahl der Anträge machen)?

3. Gibt es weitere Daten und Informationen, die im Zusammenhang der Altfall-
bzw. Bleiberechtsregelung von den Bundesländern bzw. der Bundesregie-
rung erfasst werden, und wenn ja, welche?

4. Wie viele in Deutschland lebende Personen verfügten nach Angaben des
Ausländerzentralregisters zum Stand 31. Mai 2010 über eine Aufenthaltser-
laubnis nach § 23 Absatz 1 i. V. m. § 104a oder 104b AufenthG (bitte – auch
im Folgenden – nach Bundesländern differenzieren)?

a) Wie viele von ihnen haben eine Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Absatz 1
Satz 1 i. V. m. § 104a AufenthG erhalten, weil der Lebensunterhalt voll-
ständig durch Erwerbstätigkeit gesichert war?

b) Wie viele von ihnen haben eine Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Absatz 1
Satz 1 i. V. m. § 104a Absatz 5 bzw. 6 AufenthG (bitte differenzieren) als
Verlängerung ihrer ursprünglich nach § 104a Absatz 1 Satz 1 AufenthG
erteilten Aufenthaltserlaubnis „auf Probe“ erhalten (vgl. Bundestags-
drucksache 17/1539, Frage 7)?

c) Wie viele von ihnen haben eine Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Absatz 1
Satz 1 i. V. m. § 104a Absatz 2 Satz 1 AufenthG als bei der Einreise noch
minderjährige, inzwischen aber volljährige Kinder erhalten?

d) Wie viele von ihnen haben eine Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Absatz 1
Satz 1 i. V. m. § 104a Absatz 2 Satz 2 AufenthG als unbegleitete Minder-
jährige erhalten?

e) Wie viele von ihnen haben eine Aufenthaltserlaubnis nach § 104b i. V. m.
§ 23 Absatz 1 Satz 1 AufenthG als Minderjährige unter der Bedingung der
Zusage einer Ausreise der Eltern erhalten?

5. Wie viele Menschen befanden sich zum 31. Mai 2010 in Deutschland, deren
Aufenthalt lediglich geduldet oder gestattet wurde oder die ohne Duldung
ausreisepflichtig waren (bitte differenzieren), und wie viele von ihnen lebten
länger als sechs Jahre in Deutschland, wie viele von ihnen waren unter 18
Jahre alt (bitte nach den zehn wichtigsten Herkunftsländern und den Bundes-
ländern differenzieren und jeweils die Quote der länger als sechs Jahre hier
Lebenden an der Gesamtzahl der Geduldeten bzw. Gestatteten bzw. Ausrei-
sepflichtigen ohne Duldung in Prozent angeben)?

6. Wie vielen Personen, deren Aufenthalt lediglich geduldet oder gestattet
wurde oder die ohne Duldung ausreisepflichtig waren (bitte differenzieren),
wurde durch die Bundesagentur für Arbeit aus welchen Gründen bzw. auf
welcher Rechtsgrundlage eine Zustimmung zur oder ein Verbot der Beschäf-
tigung/Ausbildung erteilt (bitte auch nach Bundesländern differenzieren,
Angaben für das Jahr 2009 bzw. zum letztmöglichen Stichtag machen)?

7. Wie viele Personen lebten zum 31. Mai 2010 mit einer Aufenthaltserlaubnis
nach § 23 Absatz 1 Satz 1 AufenthG in Deutschland (bitte auch nach Bundes-
ländern differenzieren und die Quote der länger als sechs Jahre hier Lebenden
nennen)?

8. Wie bewertet es die Bundesregierung, dass statt der im Gesetzgebungsver-
fahren in Aussicht gestellten bis zu 60 000 möglichen Profiteure der gesetz-
lichen „Altfallregelung“ nur etwa 12 500 Menschen eine Aufenthaltserlaub-
nis im Rahmen der gesetzlichen „Altfallregelung“ erhalten haben (siehe Vor-
bemerkung), hält sie die Altfallregelung (nicht die IMK-Regelung) in ande-

ren Worten für einen Erfolg, und wie begründet sie ihre Auffassung?

Drucksache 17/1910 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

9. Wie bewertet es die Bundesregierung und wie erklärt sie es sich, dass offen-
bar nur gut 5 000 Personen ihre Aufenthaltserlaubnis nach § 104a Absatz 5
und 6 AufenthG verlängern konnten, obwohl es beispielsweise nach einer
Stichprobenerhebung mehr als drei mal so viele hätten sein müssen (vgl.
Bundestagsdrucksache 16/14088, Antwort zu Frage 13: 54 Prozent der Per-
sonen mit einer Aufenthaltserlaubnis „auf Probe“ bezogen keine oder nur
geringfügige Leistungen nach SGB II, zum 30. Oktober 2009 gab es 30 704
Personen mit einer solchen Aufenthaltserlaubnis)?

10. Wie bewertet die Bundesregierung die ersten praktischen Erfahrungen mit
dem IMK-Beschluss vom Dezember 2009, und wie bewertet sie insbeson-
dere die Differenz zwischen der Zahl von Ende 2009 über 30 000 Personen
mit einer Aufenthaltserlaubnis „auf Probe“ und der Zahl derjenigen, die eine
Aufenthaltserlaubnis im Rahmen des IMK-Beschlusses beantragt bzw. er-
halten haben?

11. Wie erklärt die Bundesregierung, dass zum Stichtag 31. März 2010 fast
70 000 ausreisepflichtige Menschen ohne eine Duldung in Deutschland leb-
ten, obwohl ihnen nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts
(Urteil vom 25. September 1997, 1 C 3.97) eine schriftliche Duldung zu-
steht, wenn ihre Ausreisepflicht nicht ohne Verzögerung durchgesetzt wer-
den kann, wovon bereits angesichts einer Gesamtzahl von ca. 8 000 Ab-
schiebungen im Jahr 2009 in den meisten aller Fälle auszugehen ist (bitte
ausführlich begründen)?

a) Wie bewertet sie rechtlich die Praxis der Verweigerung von Duldungen
angesichts des oben genannten Urteils des Bundesverwaltungsgerichts,
nach dem eine stillschweigende Aussetzung der Abschiebung rechtswid-
rig ist und eine (auch faktische) Duldung der Schriftform bedarf?

b) Was ist der Bundesregierung über die ausländerbehördliche Praxis der
Erteilung von „Grenzübertrittsbescheinigungen“, „Passeinzugsbeschei-
nigungen“,„Bescheinigungen“, „Zettelduldungen“ und ähnlichen ge-
setzlich nicht vorgesehenen Bescheinigungen anstelle von Duldungen
bekannt (bitte soweit möglich nach Bundesländern differenzieren), wie
bewertet sie dies inhaltlich und rechtlich, und wie bewertet sie insbeson-
dere die Praxis, für solche Bescheinigungen vorzugsweise auf DIN A4
Papier selbst kreierte Formate und Formulare (behördenintern auch als
„Format WORD“ bezeichnet) zu nutzen, anstelle der in der Aufenthalts-
verordnung vorgesehenen amtlichen Vordrucke der Bundesdruckerei?

c) Welchen gesetzgeberischen oder sonstigen Handlungsbedarf sieht die
Bundesregierung bezüglich der Duldungsverweigerungspraxis gegen-
über Ausreisepflichtigen, deren Abschiebung nicht ohne Verzögerung
durchgesetzt werden kann, und welche diesbezüglichen Maßnahmen
wird sie ergreifen, auch in Zusammenarbeit mit den Bundesländern?

d) Inwiefern teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass es für die
53 000 ausreisepflichtigen Personen ohne Duldung, die sich bereits län-
ger als sechs Jahre in Deutschland aufhalten, ähnlicher Lösungen bedarf
wie für die langjährig geduldeten Personen, und welche Schlussfolgerun-
gen zieht sie hieraus (bitte begründen)?

e) Wie hoch ist die Zahl der bundesweit in Abschiebungs-, Untersuchungs-
oder Strafhaft oder Maßregelvollzug inhaftierten Ausländerinnen und
Ausländer, und wie hoch ist bzw. schätzt die Bundesregierung jeweils die
Zahl der Ausreisepflichtigen unter ihnen, und erhalten diese Duldungen
oder andere Bescheinigungen auf welcher Rechtsgrundlage (bitte nach
Haftformen und Bundesländern differenzieren)?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/1910

12. Wie begründet die Bundesregierung ihre Auffassung, dass gesetzliche
Änderungen zur Lösung des Problems verbreiteter Kettenduldungen so-
lange nicht ergriffen werden sollen, wie die Regelung der IMK vom Dezem-
ber 2009 läuft, d. h. bis Ende 2011, angesichts des Umstands, dass

a) die IMK-Regelung einen Stichtag bezüglich der nachzuweisenden Auf-
enthaltsdauer vorsieht (1. Juli 2007), der auf die im Jahr 2007 beschlos-
sene Altfallregelung zugeschnitten war, der aber Personen, die alle übri-
gen Bedingungen seit dem 1. Juli 2007 erfüllen, von einem Bleiberecht
ausschließt, obwohl sich ihr persönliches Schicksal in keiner Weise von
dem Personenkreis unterscheidet, für den allgemein ein Handlungs-
bedarf gesehen wurde;

b) ungeachtet zweier IMK-Beschlüsse und einer gesetzlichen Altfallreg-
lung in den Jahren 2006 bis 2009 immer noch über 56 000 Menschen
langjährig geduldet und weitere 53 000 Ausreisepflichtige ohne Duldung
langjährig in Deutschland leben, so dass offenkundig weiterhin Hand-
lungsbedarf besteht?

Berlin, den 3. Juni 2010

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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