BT-Drucksache 17/19

Für ein umfassendes Bleiberecht

Vom 10. November 2009


Deutscher Bundestag Drucksache 17/19
17. Wahlperiode 10. 11. 2009

Antrag
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Sevim Dag˘delen, Wolfgang Neskovic,
Petra Pau, Jens Petermann, Raju Sharma, Frank Tempel, Halina Wawzyniak und
der Fraktion DIE LINKE.

Für ein umfassendes Bleiberecht

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Der Bleiberechtsbeschluss der Innenministerkonferenz vom November 2006
und die gesetzliche Altfallregelung vom August 2007 waren wegen ihrer
restriktiven Ausgestaltung nicht dazu geeignet, die weithin kritisierte Praxis
der „Kettenduldungen“ wirksam zu beenden. Dies belegt die anhaltend hohe
Zahl langjährig in der Bundesrepublik Deutschland geduldeter Personen.

2. Beide Regelungen weisen aufgrund des zentralen Kriteriums der eigenstän-
digen Lebensunterhaltssicherung keinen „humanitären“ Gehalt auf, denn hu-
manitäre Härtefälle, wie z. B. alte und kranke Menschen, die auf dem Ar-
beitsmarkt keine Chance haben, werden vom Bleiberecht gerade ausge-
schlossen. Die Auswirkungen der Finanzkrise und die Rechtsprechung zur
Berechnung des nachzuweisenden Einkommens haben die Hürden für ein
Bleiberecht zusätzlich erhöht.

3. Die Ursache dafür, dass viele Menschen über Jahre und Jahrzehnte hinweg in
einem unsicheren Aufenthaltsstatus leben müssen, ist die mangelhafte ge-
setzliche Regelung bei längerfristigen Abschiebungshindernissen. Hier be-
darf es grundlegender Korrekturen.

4. Mit der im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP getroffenen Ver-
einbarung, wonach zum Bleiberecht „zeitgerecht“ eine „angemessene Rege-
lung gefunden“ werden soll, wird eine Lösung des Problems ohne konkrete
inhaltliche Vorgaben verschoben. Dies ist angesichts der existenziellen
Ängste der Betroffenen und der drängenden Handlungsbedürftigkeit völlig
unzureichend.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

sofort einen Gesetzentwurf vorzulegen, der vorsieht,
1. die im Rahmen der jüngsten Bleiberechtsregelungen erteilten Aufenthaltser-
laubnisse unabhängig vom Nachweis eigenständigen Einkommens über den
31. Dezember 2009 hinaus zu verlängern;

2. dass eine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird, wenn eine Abschiebung aus
rechtlichen oder tatsächlichen Gründen in absehbarer Zeit nicht möglich ist;
nach spätestens fünfjähriger Aufenthaltsdauer wird ein dauerhaftes Bleibe-

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recht gewährt, bei Familien mit Kindern nach drei Jahren und bei besonders
schutzbedürftigen Personen noch früher;

3. dass bei der Berechnung des nachzuweisenden Einkommens im Aufenthalts-
recht sozialrechtliche Freibeträge, die gering verdienende Personen zur
Arbeitsaufnahme bewegen sollen, nicht negativ im Sinne der Betroffenen be-
rücksichtigt werden.

Berlin, den 10. November 2009

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Begründung

Die Bundesregierung und der Bundestag sind dazu verpflichtet, das umfassend
kritisierte Problem der Kettenduldungen endlich nach menschenrechtlichen und
humanitären Gesichtspunkten zu lösen. Eine solche wirksame Bleiberechtsrege-
lung wird seit Jahren von Flüchtlingsgruppen und Selbstorganisationen, unter-
schiedlichsten gesellschaftlichen Initiativen, Wohlfahrtsverbänden, Kirchen,
Gewerkschaften und kommunalen politischen Vertretungen mit Nachdruck ge-
fordert. Auch die Fraktion DIE LINKE. hat im Deutschen Bundestag mit
eigenen Gesetzentwürfen konkrete Vorschläge zur Verbesserung der Lebens-
situation der Betroffenen vorgelegt (vgl. Bundestagsdrucksachen 16/369 und
16/12415).

Bereits die damalige rot-grüne Bundesregierung wollte das Problem der Ketten-
duldungen vorgeblich beseitigen. Der Wortlaut des entsprechenden § 25 Absatz 5
Satz 3 des Aufenthaltsgesetzes („Eine Aufenthaltserlaubnis darf nur erteilt wer-
den, wenn der Ausländer unverschuldet an der Ausreise gehindert ist.“) begüns-
tigte allerdings eine sehr restriktive Rechtsprechung und Rechtsanwendung. Im
bis zum 1. Januar 2005 geltenden Ausländergesetz bestand zumindest noch die
Möglichkeit einer Beendigung der Kettenduldung und Aufenthaltserteilung bei
unverschuldeten Abschiebungshindernissen nach zwei Jahren – unabhängig von
der Frage der „freiwilligen“ Ausreisemöglichkeit (§ 30 Absatz 4 des Ausländer-
gesetzes). Die jetzige Regelung verlangt von den Betroffenen hingegen grund-
sätzlich eine „Beseitigung der Ausreisehindernisse“ im zumutbaren Rahmen.
Aus Gründen der Menschenwürde und der Rechtsklarheit sollte bei der Aufent-
haltserteilung bei längerfristigen Abschiebungshindernissen jedoch maßgeblich
an die Dauer des bisherigen Aufenthalts angeknüpft werden. Auch der Hohe
Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (Vertretung für Deutschland und
Österreich) forderte in seinem Eckpunkte-Papier zum Flüchtlingsschutz vom
Oktober 2009 die Bundesregierung und den Bundestag auf „zu berücksichtigen,
dass von Personen nach beispielsweise fünfjährigem Auslandsaufenthalt eine
Rückkehr in ihr Herkunftsland auf Grund der zwischenzeitlich eingetretenen
faktischen Verwurzelung in Deutschland häufig nur schwerlich erwartet werden
kann“ (S. 9).

Der Bleiberechtsbeschluss der Innenministerkonferenz vom November 2006
und die gesetzliche Altfallregelung vom August 2007 waren von vornherein
nicht dazu geeignet, Kettenduldungen wirksam zu beenden. Stichtagsregelun-
gen sorgen dafür, dass immer wieder neue humanitäre Härtefälle entstehen, die
sich in keiner Weise von jenen unterscheiden, für die ein Handlungsbedarf gese-
hen wurde. Zudem begrenzten weitgehend unbestimmte Ausschlusskriterien
(Täuschung der Behörden, Verhinderung der Abschiebung) und zusätzliche
Auflagen (insbesondere die Bedingung einer eigenständigen Lebensunterhalts-
sicherung) die Wirksamkeit der beiden Bleiberechtsregelungen. Das von politi-

schen Akteuren mit der gesetzlichen „Altfallregelung“ verfolgte Ziel, bis zu
60 000 Menschen eine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis zu verschaffen, wurde

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bei weitem verfehlt. Ende August 2009 lebten zudem 59 286 Menschen länger
als sechs Jahre geduldet in Deutschland, das sind 63 Prozent der insgesamt
94 026 zu diesem Zeitpunkt geduldeten Personen (zu den Daten siehe Bundes-
tagsdrucksache 16/14088, Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage
der Fraktion DIE LINKE. zur Bilanz der gesetzlichen „Altfallregelung“).

Die Zahl der langjährig geduldeten Menschen wird sich zum 1. Januar 2010
noch einmal drastisch erhöhen. Denn knapp 31 000 der bis Ende August 2009
erteilten gut 38 000 Aufenthaltserlaubnisse nach der „Altfallregelung“ wurden
nur „auf Probe“ gewährt, weil die Betroffenen das geforderte Einkommen
(noch) nicht nachweisen konnten. Mehr als die Hälfte von ihnen sind Flücht-
linge aus Serbien/Kosovo, darunter vermutlich Tausende Roma. Soweit Stich-
probenerhebungen Prognosen zulassen, wird etwa die Hälfte dieser 31 000
Menschen nach jetziger Gesetzeslage selbst bei einer großzügigen Rechtsan-
wendung zum Jahreswechsel wieder in die Duldung zurückfallen – obwohl sie
dann bereits seit mindestens achteinhalb bzw. zehneinhalb Jahren in Deutsch-
land leben. Die Finanz- und Wirtschaftskrise verschlechterte die Chancen der
jahrelang vom Arbeitsmarkt ausgeschlossenen, ehemals geduldeten Flüchtlinge
auf einen existenzsichernden Arbeitsplatz erheblich. Hinzu kam die faktische
Erhöhung des nachzuweisenden Einkommens um bis zu 30 Prozent infolge
eines Grundsatzurteils des Bundesverwaltungsgerichts vom August 2008 zur
Anrechnung sozialrechtlicher Freibeträge. Selbst die Beauftragte der Bundes-
regierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, Dr. Maria Böhmer, meldete
diesbezüglich „integrationspolitische Bedenken“ an, die „ohne gesetzliche Än-
derungen nicht ausgeräumt werden“ könnten (Bundestagsdrucksache 16/14088,
S. 17). Eine solche gesetzliche Klarstellung, wonach sich sozialrechtliche Frei-
beträge im aufenthaltsrechtlichen Kontext nicht negativ auswirken dürfen, ist
umso wichtiger, als im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP verein-
bart wurde, „Hinzuverdienstregelungen in der Grundsicherung für Arbeitsu-
chende deutlich [zu] verbessern“. Dies würde nach der Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts zu einer weiteren Verschärfung nicht nur der gesetz-
lichen Altfallregelung, sondern auch des übrigen Aufenthaltsrechts führen, so-
weit es auf die Berechnung der eigenständigen Lebensunterhaltssicherung an-
kommt.

Die im Koalitionsvertrag zum Thema Bleiberecht getroffene Verabredung zu
einer „zeitgerechten“ und „angemessenen Regelung“ ist völlig unzureichend. Es
muss sofort eine gesetzliche Änderung in die Wege geleitet werden, um einen
Rückfall Zehntausender in die Duldung zum Jahresende zu verhindern und um
den Betroffenen die Angst zu nehmen. Die Bundesregierung und der Bundestag
dürfen auch nicht darauf vertrauen, dass die Länderinnenminister Anfang
Dezember 2009 per Beschluss eine Übergangsregelung, deren Inhalt und
Reichweite sie nicht bestimmen können, schaffen werden. Zugleich fehlt
im Koalitionsvertrag jegliche Vereinbarung zu einer effektiven Regelung im
Aufenthaltsgesetz, mit der vermieden wird, dass es immer wieder zu neuen Ket-
tenduldungen kommt.

In einem sozialen Rechtsstaat muss nach einem langjährigen Aufenthalt ein dau-
erhaftes Bleiberecht ohne die Bedingung der eigenständigen Lebensunterhalts-
sicherung gewährt werden. Der frühere Vizepräsident des Bundesverfassungs-
gerichts, Gottfried Mahrenholz, wies darauf hin, „dass der Wunsch des Staates,
Sozialkosten zu sparen, nicht gegen den Schutz der Menschenwürde ausgespielt
werden darf“. Im Konfliktfalle rangiere „immer die Achtung der Menschen-
würde an erster Stelle“ (Hannoversche Allgemeine vom 18. Februar 2009). Das
Bündnis „Hier geblieben!“ vom Förderverein PRO ASYL e. V., dem Flücht-
lingsrat Berlin, von „Jugendliche ohne Grenzen e. V.“, der Gewerkschaft Erzie-
hung und Wissenschaft Berlin und dem GRIPS Theater Berlin fordert deshalb

zu Recht „das ganze“ – und nicht nur „ein bisschen“ – Bleiberecht (vgl. http://
www.hier.geblieben.net/).

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