BT-Drucksache 17/1829

Schnittstellenprobleme und koordinierte Maßnahmen für wohnungslose Kinder und Jugendliche

Vom 25. Mai 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/1829
17. Wahlperiode 25. 05. 2010

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Katja Dörner, Markus Kurth, Kai Gehring, Monika Lazar
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Schnittstellenprobleme und koordinierte Maßnahmen für wohnungslose
Kinder und Jugendliche

Die Altersstruktur der Wohnungslosen hat sich deutlich verändert. Der Anteil
junger Erwachsener – insbesondere bis 24 Jahre – nimmt überproportional zu.
Zunehmend mehr Minderjährige leben in Obdachloseneinrichtungen für Er-
wachsene. Nach Angaben der Organisation Off Road Kids geraten in Deutsch-
land jährlich rund 2 500 Kinder und Jugendliche ab 12 Jahre auf die Straße. Etwa
300 davon werden zu Straßenkindern, die vor Vernachlässigung, Misshandlung
und Missbrauch geflohen sind und ihr Überleben mit Bettelei, Prostitution,
Drogenhandel oder Kleindiebstahl sichern müssen. Hinzu kommen noch Kinder
und Jugendliche, die zwar nicht die ganze Zeit, so doch aber überwiegend auf der
Straße leben. Im ersten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung
wird von einer Zahl von insgesamt 7 000 Kindern und Jugendlichen gesprochen.
Eine Stichprobe von terre des hommes im Jahr 2007 ergab, dass ca. 2,5 Prozent
der betreuten Personen in „Straßenkinderprojekten“ in Deutschland unter
14 Jahre alt sind, 20 Prozent im Alter zwischen 14 und 16 Jahren, 27,5 Prozent
zwischen 16 und 18 Jahren und gut die Hälfte inzwischen volljährig. Diese
Gruppe der Volljährigen ist besonders schwer zu integrieren, hat besonders
problematische Straßenkarrieren hinter sich und lebt häufig in zerrütteten Fami-
lienverhältnissen.

Als ein Grund für die „Verjüngung“ von Obdachlosigkeit sind die Schnittstellen-
probleme zwischen dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) und dem
SGB VIII zu sehen. So überschneiden sich beispielsweise Hilfen der Jugend-
sozialarbeit (§ 13 SGB VIII) mit den möglichen Hilfen durch SGB-II- und
SGB-III-Träger. Sehr viele junge Menschen in schwierigen Lebenssituationen
(z. B. psychische Erkrankungen, Schulverweigererinnen und Schulverweigerer,
kriminelle, drogen- und suchtmittelabhängige junge Menschen, Schulden- und
Wohnungsproblematik, junge Alleinerziehende) sind mit steigender Zahl im
SGB-II-Bezug vertreten. Ein Teil dieser jungen Menschen wird entweder nach
dem SGB II oder dem SGB VIII betreut. Bei einer nicht geringen Anzahl wäre
eine Doppelbetreuung erforderlich. Diese Schnittstelle macht eine Kooperation
von SGB II und Jugendhilfe unbedingt notwendig.
Darüber hinaus führen die unterschiedlichen Logiken der Unterstützung von jun-
gen Menschen in den Systemen SGB II, SGB III und SGB VIII an vielen Stellen
zur Inkompatibilität. Mit der Zielrichtung der Integration in den Arbeitsmarkt
erfordert das SGB II eine Anpassung an die Angebote und Regeln seines Sys-
tems. Die hoch belasteten, z. T. psychisch kranken Jugendlichen jedoch sind zu
diesen Anpassungsleistungen häufig nicht in der Lage. Dies führt häufig zu
Sanktionen, die junge Menschen in die Obdachlosigkeit treiben. Das SGB VIII

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verfolgt den Anspruch, die Jugendlichen in ihrer spezifischen Lebenssituation zu
erreichen und sie von dort aus zu fordern und zu fördern. Die starren Anforderun-
gen der Arbeitsagenturen/Jobcenter an die Jugendlichen werden – außer bei
stationärer Unterbringung – auch beim Leistungsbezug nach dem SGB VIII
aufrechterhalten. Aus diesen Umständen resultieren häufig Konflikte bei der Ge-
währung von Hilfe und Unterstützung.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie groß ist nach Erkenntnissen der Bundesregierung die Zahl der so-
genannten Straßenkinder und -jugendlichen, differenziert nach Geburtsjahr-
gang und Geschlecht?

2. Warum hat die Bundesregierung in ihrem 3. Armuts- und Reichtumsbericht
2008 im Gegensatz zu früheren Berichten keine Daten zu Straßenkindern
veröffentlicht bzw. erhoben?

3. Ist eine Erhebung und Veröffentlichung solcher Daten für den kommenden
Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung geplant?

Wenn nein, warum nicht?

4. Welche Maßnahmen ergreift die Bundesregierung, um die Angebote insbe-
sondere für junge Wohnungslose geschlechts- und altersspezifisch auszu-
richten?

5. Wie viele minderjährige Wohnungslose leben aus Mangel an Alternativen in
Einrichtungen der Obdachlosenhilfe für Erwachsene, und wie gehen nach
Ansicht der Bundesregierung die Jugendämter mit diesem Problem um?

6. Plant die Bundesregierung Maßnahmen zu Unterstützung und Hilfe von
wohnungslosen Kindern und Jugendlichen?

7. Wie viele psychisch kranke Jugendliche (unter 25) werden von der Bundes-
agentur für Arbeit bzw. den Jobcentern betreut?

Wie viele davon sind wohnungslos?

8. Hat die Bundesregierung Kenntnis davon, wie viele junge Menschen
(unter 25) von Sanktionen betroffen sind?

Wenn nein, warum nicht?

9. Welche wissenschaftlichen Erkenntnisse bezüglich der Wirksamkeit von
Sanktionen im Rahmen des SGB II bei jungen Menschen liegen vor?

10. Teilt die Bundesregierung die Ansicht, dass Maßnahmen des SGB II die so
genannten Straßenkinder nicht erreichen und daher wenig erfolgreich sind?

11. Wenn nein, aufgrund welcher Erkenntnisse hat die Bundesregierung eine
gegenteilige Auffassung?

12. Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass Systembrüche zwischen
dem SGB VIII und dem SGB II zu Verlust von Kooperationspotenzialen,
unzureichendem Informationsaustausch und wenig zielführenden Maß-
nahmen führen?

13. Wenn ja, inwiefern plant die Bundesregierung hier Veränderungen?

Wenn nein, worauf gründet sich die gegenteilige Auffassung der Bundes-
regierung?

14. Plant die Bundesregierung die Umwandlung der Sanktionsmechanismen
(SGB II) für psychisch kranke Jugendliche und für Jugendliche mit erhöhten
sozialpädagogischem Förderbedarf in eine Ermessensvorschrift, so dass die

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Unterstützungs- und Förderangebote (SGB VIII) greifen können und letzt-
lich damit die gesellschaftlichen Teilhabechancen erhöht werden?

Wenn nein, warum nicht?

15. Welche konkreten Maßnahmen ergreift die Bundesregierung, um die Arbeit
der Jobcenter mit der Jugendhilfeplanung zu vernetzen, um insbesondere
Jugendliche mit sozialpädagogischem Förderbedarf zu erreichen?

16. Sind diesbezüglich Programme, Projekte oder gesetzliche Änderungen
geplant?

Wenn nein, warum nicht?

17. Inwiefern plant die Bundesregierung eine engere institutionalisierte Vernet-
zung zwischen Kinder- und Jugendpsychiatrie, SGB VIII und SGB II?

18. Wie bewertet die Bundesregierung die Notwendigkeit der Ausweitung des
§ 13 SGB VIII (Jugendsozialarbeit) auf Hilfen zur Überwindung sozialer
und individueller Beeinträchtigung für Fälle, in denen die Vermittlung in
Ausbildung oder Arbeit (noch) nicht im Vordergrund steht?

19. Wie bewertet die Bundesregierung die Möglichkeit der Schaffung eines
eigenen Antragsrechts im SGB VIII für Kinder und Jugendliche, die dauer-
haft oder überwiegend auf der Straße leben, damit sinnvolle Maßnahmen im
Interesse der Kinder und Jugendlichen nicht an deren Eltern scheitern?

20. Plant die Bundesregierung eine Überführung der Kompetenzagenturen, die
derzeit bis 2011 modellhaft gefördert werden, in die Regelförderung?

Wenn ja, wann und mit welchen Schwerpunkten und welcher Zielrichtung?

Wenn nein, warum nicht?

21. Inwiefern sieht die Bundesregierung Möglichkeiten zur Weiterentwicklung
der Unterstützung wohnungsloser Kinder und Jugendlicher im Rahmen der
Anregungsfunktion des Kinder- und Jugendplans?

Berlin, den 21. Mai 2010

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

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