BT-Drucksache 17/1737

Qualitätsoffensive für die Lehre starten - Einheit von Forschung und Lehre

Vom 18. Mai 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/1737
17. Wahlperiode 18. 05. 2010

Antrag
der Abgeordneten Nicole Gohlke, Dr. Petra Sitte, Agnes Alpers, Dr. Rosemarie
Hein, Inge Höger, Cornelia Möhring, Yvonne Ploetz, Dr. Ilja Seifert, Kathrin Vogler,
Harald Weinberg und der Fraktion DIE LINKE.

Qualitätsoffensive für die Lehre starten – Einheit von Forschung und Lehre
sichern

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Das Besondere einer akademischen Ausbildung besteht in der Anbindung an
den Prozess der Wissenserarbeitung. Das Ziel der Einheit von Lehre und For-
schung kann nur erreicht werden, wenn an den Hochschulen sowohl die Leh-
renden als auch die Lernenden zugleich Forschende sind. Dies ist eine wichtige
Voraussetzung für gute Lehre. Die Lehrenden benötigen dafür gesicherte Ar-
beitsverhältnisse und Zeit für die eigene Forschung. Die Studierenden sind auf
geeignete Lehr- und Lernformen angewiesen, die sie an die Forschungsarbeit
ihrer Dozentinnen und Dozenten heranführen und ihnen die Verfolgung eigener
Forschungsprojekte ermöglichen. Diese Lehr- und Lernformen setzen ein deut-
lich günstigeres Zahlenverhältnis von Lehrpersonal zu Studierenden voraus.

Trotz der besonderen Bedeutung der Qualität von Lehre für den Studienerfolg
spielt die Lehre in den bisherigen hochschulpolitischen Debatten und Reform-
bemühungen eine untergeordnete Rolle. Zwar leitete der Bologna-Prozess an
den Hochschulen eine grundlegende Veränderung der Studienstruktur ein. Die
Hoffnungen auf neuere Lehr- und Lernformen wie etwa ein selbstbestimmtes
Projektstudium, forschendes Lernen, die Anerkennung und Integration von un-
abhängigen Lerngruppen in den Lehrbetrieb, E-Learning etc. wurden bislang
allerdings nur in sehr seltenen Fällen erfüllt. Fragen der Personalausstattung
und der Arbeitsbedingungen und Arbeitsplatzsicherheit für das Lehrpersonal an
den Hochschulen wurden nicht berührt.

Die Ursachen für die schlechte Qualität der Lehre und hohe Abbrecherquoten
liegen maßgeblich in der Jahrzehnte währenden Unterfinanzierung der Hoch-
schulen begründet, die sich durch die Umstellung auf die neue Studienstruktur
Bachelor und Master während des laufenden Betriebes noch verschärfte. In den
vergangenen 15 Jahren wurden trotz steigender Studierendenzahlen rund 1 500
Professuren abgewickelt. Der so genannte Betreuungsschlüssel bezogen auf
Hochschullehrerinnen und -lehrer je Studierende hat sich von 1:40 auf heute

1:60 dramatisch verschlechtert. Währenddessen sind die Ausgaben pro eine
Million Studierender von 0,55 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) im Jahr
1990 auf 0,42 Prozent im Jahr 2004 gesunken. Durch den prognostizierten zu-
sätzlichen Anstieg der Studierendenzahlen um 275 000 aufgrund geburtenstar-
ker und doppelter Jahrgänge, wird sich die Situation noch dramatisch verschär-
fen. Statt die Hochschulen deutlich besser mit Grundmitteln auszustatten,
antworten einige Länder mit Studiengebühren und prekären Arbeits- und Be-

Drucksache 17/1737 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

schäftigungsbedingungen für die Lehrenden. In Hessen ist derzeit ein millio-
nenschweres Kürzungsprogramm geplant, das zusätzlich die Qualität der Lehre
bedrohen wird. Dies zeigt, dass es nicht ausreichend ist, es den Ländern zu
überlassen, für ausreichend Studienplätze und mehr Qualität der Lehr- und
Lernbedingungen an den Hochschulen zu sorgen. Die föderalen Zuständigkei-
ten verhindern oder erschweren langfristige Finanzierungskonzepte. Das Ko-
operationsverbot im Bildungsbereich verhindert, dass Bund und Länder auch
im Hochschulbereich vernünftig zusammenarbeiten können und muss unver-
züglich abgeschafft werden.

Von Bundesseite stehen lediglich zeitlich begrenzte Kofinanzierungen wie etwa
der Hochschulpakt oder Forschungswettbewerbe wie die Exzellenzinitiative
zur Verfügung. Diese gleichen eine absinkende Grundfinanzierung weder quan-
titativ noch qualitativ aus. Der Hochschulpakt zur Schaffung zusätzlicher Stu-
dienplätze von Bund und Ländern war von Anfang an unterfinanziert, denn die
tatsächlichen Kosten für einen Studienplatz waren und sind deutlich zu niedrig
angesetzt. Um die Lehr- und Lernbedingungen an den Hochschulen grundle-
gend verbessern zu können, sind mehr und kontinuierliche Mittel notwendig.
Es bedarf mehr Personal, gesicherter Arbeitsverhältnisse, Qualifizierungsmög-
lichkeiten für die Lehrenden und Freiraum, um innovative Lehr- und Lernkon-
zepte zu verwirklichen. Die Hochschulrektorenkonferenz hat den Finanzie-
rungsbedarf für den Ausbau der Hochschulen bereits 2008 auf zusätzliche
3 Mrd. Euro jährlich beziffert. Der Wissenschaftsrat hat ein Konzept zur Ver-
besserung der Qualität der Lehr- und Lernbedingungen vorgelegt und empfiehlt
an den Hochschulen alleine dafür zusätzlich rund 1,1 Mrd. Euro jährlich in die
Hand zu nehmen. Die Vorschläge von der Bundesministerin für Bildung und
Forschung, Dr. Annette Schavan, bis 2020 rund 2 Mrd. Euro zur Verfügung zu
stellen, greifen deutlich zu kurz und sind nur ein Tropfen auf den heißen Stein.

Die nachhaltige Entwicklung von Qualität in Studium und Lehre ist nur bei
einem hohen Anteil verlässlicher Grundfinanzierung möglich. Ein Wettbewerb
wie die Exzellenzinitiative prekarisiert sowohl die Finanzierungsbedingungen
der erfolgreichen wie der erfolglosen Hochschulen. Insbesondere im Zusam-
menspiel mit so genannten leistungsorientierten Finanzierungssystemen wirkt
die Orientierung auf Drittmittelstärke negativ auf den Bereich Studium und
Lehre, indem die grundständigen Bereiche immer weiter zugunsten temporärer
Projektstrukturen ausgezehrt werden.

Die Qualität von Lehre und Studium ist untrennbar mit guten Arbeits- und
Beschäftigungsbedingungen für das Personal verknüpft. Ohne hervorragende
Arbeitsbedingungen wird es keine hervorragende Lehre geben. Die Arbeits-
und Beschäftigungsbedingungen sind an den Hochschulen jedoch besonders
unterhalb der Professur denkbar prekär. Den dramatischen Abbau von qualifi-
zierten Dauerstellen kompensieren zunehmend Lehrbeauftragte, die dafür eine
geringfügige Entschädigung erhalten. Die eigentliche Funktion von Lehrauf-
trägen, gezielt das grundständige Angebot an Lehre durch Expertisen aus der
Praxis zu ergänzen, wird damit ad absurdum geführt, wenn sie flächendeckend
eingesetzt werden, um den laufenden Lehrbetrieb aufrechtzuerhalten. Stattdes-
sen unterläuft diese Praxis seitens der Hochschulleitungen tarifrechtliche Rege-
lungen im Wissenschaftsbereich. Aus Sicht der Studierenden bedeutet die
inflationäre Vergabe von Lehraufträgen zudem, dass notwendige Prüfungen
aufgrund fehlender Prüfungsberechtigungen nicht absolviert werden können
und die Lehrenden schlecht in den regulären Forschungs- und Lehrbetrieb ein-
gebunden sind. Hinzu kommt, dass auch reguläre Stellen verstärkt befristet und
geteilt vergeben werden, bei immer kürzeren Laufzeiten. Drei Viertel aller wis-
senschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an Hochschulen sind nach
Angaben des Statistischen Bundesamtes befristet beschäftigt, die Hälfte davon

in Teilzeit. Dieser Trend reicht bis zu den Professuren, die 2008 zu 16 Prozent
befristet waren gegenüber von 5 Prozent zehn Jahre zuvor. Diese Entwicklun-

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/1737

gen sind weder für die Studierenden, die auf gute Lehr- und Lernbedingungen
angewiesen sind, noch die betroffenen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaft-
ler akzeptabel und zielführend. Lehrende müssen Forschung betreiben können,
damit sie überhaupt die Möglichkeit haben, Studierende in ihre Forschungspro-
jekte praktisch einzubeziehen, um so eine Einheit von Lehre und Forschung
herzustellen. Nur wenn Studierende von Beginn an unmittelbar an der For-
schung beteiligt werden und selbst forschen, können sie praktisches wissen-
schaftliches Arbeiten erlernen. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler brau-
chen darüber hinaus klare und transparente (Übernahme-)Perspektiven.

Vielerorts haben Studierende und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler
einen Teil ihrer Mitbestimmungsrechte eingebüßt. Stattdessen entscheiden
legislativ gestärkte Hochschulleitungen und extern besetzte Hochschulräte in
immer stärkerem Maße über Haushalte, Personalfragen und wissenschaftliche
Schwerpunkte. Demokratische Mitbestimmung ist Voraussetzung und Bedin-
gung für gute Lehre. Um Studienqualität zu ermöglichen, müssen die Reformen
von allen Hochschulmitgliedern gemeinsam getragen werden. Es bedarf der
Demokratisierung durch starke, viertelparitätisch besetzte Hochschulgremien.
Qualität ist ein partizipativer Prozess.

Die Umsetzung des Bologna-Prozesses führte an vielen deutschen Hochschulen
zu einer massiven Zunahme des Präsenzstudiums, starren Studienabläufen und
einer hohen Prüfungsdichte. Die starren Studienstrukturen, Anwesenheitspflich-
ten, strikte Abgabe- und Meldefristen etc. erschweren zudem das Studium ins-
besondere für Studierende mit Behinderung oder chronischen Erkrankungen,
die an den Hochschulen ohnehin unterrepräsentiert sind. Wenn sich Studium
und Lehre stärker auf deren Bedürfnisse einstellen, bedeutet dies eine Verbesse-
rung von Studium und Lehre für alle Studierenden und eine damit einherge-
hende bessere Studierbarkeit. Insbesondere im Rahmen der Umsetzung der UN-
Behindertenrechtskonvention und des darin enthaltenen Rechts auf inklusive
Bildung (Artikel 24 der UN-Behindertenrechtskonvention) ist eine Überarbei-
tung und Flexibilisierung der Studienstruktur, die Schaffung von Nachteilsaus-
gleichen u. a. bei Prüfungen, Arbeitsbelastung sowie Abgabe- und Meldefristen,
die Abschaffung von Anwesenheitspflichten sowie eine verbesserte Teilzeitstu-
dierbarkeit dringend notwendig. Von einer barrierefreien Hochschule profitieren
nicht zuletzt auch die Lehrenden und Mitarbeiterinnen/Mitarbeiter mit Behinde-
rung. Die aktuelle Debatte zur Umsetzung des Rechts auf inklusive Bildung bie-
tet die Gelegenheit, die Chancengleichheit und Belange von Studierenden mit
Behinderung/chronischer Erkrankung systematisch zu verwirklichen.

Für eine bessere Betreuung und deutlich höheren Anteil von Menschen mit Stu-
dienabschluss müssen die öffentlichen Bildungsausgaben deutlich steigen. Da-
mit Hochschulen für einkommensschwache Schichten sowie beruflich Quali-
fizierte wirklich geöffnet werden, muss das Studium gebührenfrei und die
Zulassung bundesweit und ohne individuelle Auswahlverfahren durch Hoch-
schulen geregelt sein. Es darf keine Zugangshürden zum Masterstudium geben
und eine reduzierte Prüfungsdichte im Bachelorstudium muss wieder ein
selbstbestimmtes Studium möglich machen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

gemeinsam mit den Ländern

1. die Rahmenbedingungen für eine bessere Finanzierung der Hochschulen
grundsätzlich zu verbessern, indem eine Gemeinschaftsaufgabe Bildung im
Grundgesetz verankert wird, und das sogenannte Kooperationsverbot unver-
züglich aufzuheben;

2. im Rahmen des Hochschulpaktes ein umfangreiches Paket zu vereinbaren,

das zur Verbesserung der Betreuungsrelation die Schaffung von zusätzlichen
Professuren, dauerhaften Stellen im wissenschaftlichen Mittelbau und die

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Schaffung von Qualifizierungszentren zur Verbesserung der Lehre vorsieht.
Der hierfür notwendige jährliche Finanzbedarf beläuft sich nach Angaben
des Wissenschaftsrates auf mindestens 1,1 Mrd. Euro. Der insgesamt not-
wendige bedarfsgerechte Ausbau der Hochschulen kostet nach Angaben der
Hochschulrektorenkonferenz 3 Mrd. Euro jährlich. Um die Anbindung der
Lehre an die Forschung zu sichern, wird bei der Schaffung zusätzlicher Stel-
len auf die Einrichtung von Personalkategorien mit einseitiger Schwerpunkt-
setzung auf Lehre oder Forschung verzichtet. Es muss für die Beschäftigten
einen Anspruch auf unbefristete, sozialversicherte Beschäftigungsverhält-
nisse geben. Zudem müssen die Studienplatzkosten an die tatsächlichen
Kosten differenziert nach Fächergruppen pro Studienplatz angepasst und um
einen Zuschuss zur Verbesserung der Betreuungssituation ergänzt werden.
Außerdem sollte die Förderdauer der tatsächlichen durchschnittlichen Stu-
diendauer angepasst und die Anzahl der Studierenden im ersten Fachsemes-
ter zur Grundlage gemacht werden, um Masterstudiengänge in die Förde-
rung einzubeziehen;

3. im Zuge der Neuauflage des Hochschulpaktes neben der Schaffung von Stu-
dienplätzen auch qualitative Förderkriterien wie beispielsweise die Förde-
rung von Frauen in der Wissenschaft, die Zulassung von Menschen ohne Abi-
tur sowie die Abschaffung von Studiengebühren zusätzlich zu honorieren;

4. ein Bundesgesetz für den Hochschulzugang zu erarbeiten, das sowohl den
Zugang zu grundständigen Bachelor- als auch zu weiterführenden Master-
studiengängen verbindlich regelt. Dabei sollte eine Öffnung für Menschen
mit beruflicher Qualifikation und ein offener Zugang zum Masterstudium
ohne weitere Hürden verankert werden;

5. eine Vereinbarung im Rahmen des Hochschulpaktes mit den Ländern zu
treffen, um das Kapazitätsrecht zu erhalten mit dem Ziel, eine ausschöp-
fende Nutzung der Kapazitäten zu sichern. Als Ziel muss eine möglichst
bundeseinheitliche und transparente Regelung zur Absicherung des Studien-
angebots im Mittelpunkt stehen.

III. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

auf die Länder einzuwirken, um gemeinsam mit ihnen

6. in allen Bundesländern eine gleichberechtigte Beteiligung von Studieren-
den, Lehrenden und Beschäftigten in allen Hochschulgremien und den Qua-
litätssicherungsverfahren (Akkreditierungsrat, Agenturen etc.) zu sichern
sowie die studentische Selbstverwaltung gesetzlich zu verankern;

7. Aktionspläne zu erarbeiten, welche die Chancengleichheit und Belange von
Studierenden mit Behinderung/chronischer Erkrankung in Studium, Lehre
und Forschung problematisieren und eine inklusive Bildung gemäß Artikel 24
der UN-Behindertenrechtskonvention verbindlich ermöglichen;

8. Konzepte zu erarbeiten und zu finanzieren, um den Anteil von Frauen auf al-
len Ebenen der Hochschulbildung sicherzustellen und Studentinnen zur Auf-
nahme einer wissenschaftlichen Karriere zu ermutigen;

9. die wissenschaftliche Attraktivität und Kapazität der ostdeutschen Hoch-
schulstandorte zu steigern, indem ein Sonderprogramm zur Förderung der
Grundlagenforschung für die Hochschullandschaft Ost aufgelegt wird. Die-
ses sollte eine Höhe von 20 Prozent des finanziellen Volumens der Exzellenz-
initiative umfassen.

Berlin, den 18. Mai 2010

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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