BT-Drucksache 17/1559

Von der Konfrontation zur Kooperation - Deutsch-russische Beziehungen verbessern

Vom 4. Mai 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/1559
17. Wahlperiode 04. 05. 2010

Antrag
der Abgeordneten Wolfgang Gehrcke, Paul Schäfer (Köln), Jan van Aken,
Sevim Dag˘delen, Dr. Diether Dehm, Annette Groth, Heike Hänsel, Inge Höger,
Andrej Hunko, Harald Koch, Stefan Liebich, Niema Movassat, Thomas Nord,
Alexander Ulrich, Katrin Werner und der Fraktion DIE LINKE.

Von der Konfrontation zur Kooperation – Deutsch-russische Beziehungen
verbessern

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Das Verhältnis zwischen Deutschland und Russland war über Jahrzehnte und
ist bis heute ausschlaggebend für Frieden, Sicherheit und Stabilität in Europa.
In diesem Jahr unterstreichen drei Jahrestage diese Feststellung: der 65. Jah-
restag der Befreiung vom Faschismus, der 35. Jahrestag der Helsinki-Konfe-
renz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) und der 20. Jah-
restag der deutschen Vereinigung:

a) Am 8. Mai 2010 jährt sich zum 65. Mal der Tag der Befreiung vom Fa-
schismus. Befreit wurde die Welt von einem verbrecherischen System, das
die Verantwortung für Millionen Tote als Opfer des Krieges, insbesondere
des Vernichtungskrieges im Osten, des Mordens in den Konzentrations-
lagern, in Zuchthäusern und Gefängnissen und in den damals von der
deutschen Wehrmacht besetzten Gebieten trug. Der Holocaust, das
Menschheitsverbrechen der industriellen Vernichtung der Jüdinnen und
Juden, ist deutsche Verantwortung. Vom Faschismus befreit wurde die
Welt durch die Antihitlerkoalition. Die Sowjetunion hat den wesentlichen
Teil zur Befreiung Europas vom Faschismus geleistet. 27 Millionen Bür-
gerinnen und Bürger der Sowjetunion verloren ihr Leben zwischen dem
Juni 1941 und dem Mai 1945. Die Erinnerung und die Lehren aus diesem
Menschheitsverbrechen dürfen nicht aus dem Bewusstsein der Menschen
in beiden Ländern verdrängt werden.

b) Nach 1945 prägte der Kalte Krieg mit seinen konkurrierenden Militär-
bündnissen, der Hochrüstung, den gegenseitigen Feindbildern und einem
beiderseitigen Gefühl von Bedrohung das Bewusstsein in der Sowjetunion
und den beiden deutschen Staaten. Während sich das Verhältnis zur DDR
völlig anders entwickelte, geriet die Versöhnung in der BRD in den Hinter-

grund. Erst die Verträge von Moskau und Warschau Anfang der 70er-Jahre
sowie die „Schlussakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammen-
arbeit in Europa“ 1975 leiteten auch zwischen diesen beiden Staaten eine
Entspannungspolitik ein. Das Vertragswerk der KSZE und die ihm zu-
grunde liegende politische Philosophie sind auch heute noch Beispiel
gebend für die Lösung politischer Konflikte.

Drucksache 17/1559 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

c) Die Vereinigung Deutschlands, der Abzug sowjetischer/russischer Trup-
pen aus Deutschland und anderen europäischen Ländern, der Zwei-plus-
Vier-Vertrag und weitere Vertragssysteme wären ohne Russland nicht
möglich geworden. Die NATO-Osterweiterung, die Pläne für die Statio-
nierung eines Raketenabwehrsystems, einseitige Schuldzuweisungen im
Georgienkonflikt und die Erfahrungen der Balkankriege waren zumindest
aus russischer Sicht gegen Geist und zum Teil auch gegen Buchstabe der
Verträge gerichtet. Festzuhalten ist aber: in Europa kann Sicherheit effek-
tiv nur mit und nicht gegen Russland erreicht werden. Die Europäische
Union und Deutschland müssen dabei eine Partnerschaft mit Russlands
anstreben, die an friedlichen, gutnachbarschaftlichen Beziehungen und
beiderseitigen Interessen orientiert ist. Diese Partnerschaft, wenn sie denn
gewollt ist, ist für beide Seiten von Vorteil und kann dazu beitragen, Spal-
tungen in Europa zu überwinden.

2. Die Zusammenarbeit mit Russland ist unverzichtbar zur Lösung wichtiger
europäischer und weltweiter Probleme. Dazu gehören unter anderem: die Ab-
rüstung und die Rüstungskontrolle einschließlich des Kampfes gegen die
Weiterverbreitung von ABC-Waffen sowie die diplomatische und zivile Be-
arbeitung und Beilegung von Konflikten.

3. Die mittelfristige Abhängigkeit Deutschlands und der EU von energetischen
Rohstoffen aus Russland ist wechselseitiger Natur. Ebenso wie Europa ist
Russland auf eine stabile Energiepartnerschaft angewiesen, die auch die
Möglichkeit einer Zusammenarbeit für einen Ausstieg aus der Abhängigkeit
von fossilen und atomaren Brennstoffen fördert. Diese Kooperation muss die
Frage der Energieversorgung für Polen, die Ukraine, Tschechien und der Slo-
wakei sowie für die baltischen Staaten einschließen. Sie darf nicht durch
kurzsichtige, konjunkturelle bzw. politische Interessen beeinträchtigt wer-
den. Energiepartnerschaft bedingt Ökologiepartnerschaft. Das würde ein mo-
dernes Konzept werden.

4. Russland hat weitreichende Pläne zur Modernisierung seiner Wirtschaft,
Technologie und Wissenschaft. Die intensive wirtschaftliche Verflechtung,
globale Abhängigkeit und Vernetzungen erfordern gemeinsame Ansätze und
internationale Kooperation im gegenseitigen Interesse. Dabei ist es Russ-
lands legitimes Recht, den eigenen Markt und die umfangreichen Naturres-
sourcen des Landes vor den negativen Auswirkungen einer unkontrollierten
neoliberalen Marktöffnung zu schützen. Russland will Standort industrieller
Produktion bleiben und nicht nur Lieferant von Rohstoffen sein. Die wirt-
schaftliche Zusammenarbeit muss soziale Dimensionen wie Arbeitnehmer-
rechte, soziale Partnerschaft, Vereinigungsfreiheit in Gewerkschaften und
Verbänden, die Sicherheit von Löhnen und Renten beinhalten.

5. Zwischen den Zivilgesellschaften in Russland und in Deutschland gibt es
vielfältige Beziehungen. Aussöhnung und Zusammenarbeit sind nicht nur
staatliche Aufgaben, sondern wachsen von unten. Kultur und Wissenschafts-
austausch, gemeinsame Geschichtsforschung, Kooperation von Verbänden
und Gewerkschaften, antifaschistischen Organisationen, der Friedensbewe-
gungen, von Frauenvereinigungen, Austausch von Erfahrungen auf nationa-
ler und regionaler Ebene, Städtepartnerschaften und weiteres mehr schaffen
Netzwerke lebendiger Verbindungen von aktiven Menschen. Die Beziehun-
gen vieler Menschen zueinander sollen durch die Regierungen besonders ge-
fördert werden.

6. Partnerschaftliche Beziehungen dürfen nicht konjunkturell in Frage gestellt
werden. Vorurteilen und antirussischen Ressentiments muss widersprochen,
sie dürfen nicht hingenommen werden. Sachlichkeit ist nicht Kritiklosigkeit.

Partnerschaftliche Beziehungen schließen Kritik, auch zum Stand der Ver-
wirklichung von Menschenrechten, der Meinungs- und Pressefreiheit, ein.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/1559

Die Freiheit und Sicherheit von journalistischer Arbeit ist für Russland un-
verzichtbar und soll gefördert werden.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. die Vorschläge des russischen Präsidenten Dmitri Medwedew für einen
neuen Vertrag über europäische Sicherheit ernsthaft zu prüfen und darüber
sowohl bilaterale als auch unter Einbindung der Organisation für Sicherheit
und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und in der Europäischen Union mul-
tilaterale Verhandlungen zu führen. Diese Verhandlungen haben das Ziel
einer Prioritätenverschiebung weg von Militärbündnissen und hin zu vertrag-
lichen Formen gegenseitiger Sicherheitsverpflichtungen;

2. dafür einzutreten, dass in Europa keine Raketenabwehrsysteme installiert
werden, die die Sicherheit der Partner direkt oder indirekt untergraben;

3. den Abzug aller Atomwaffen aus Deutschland so schnell wie möglich ein-
zuleiten. Die aus Deutschland abzuziehenden Atomwaffen sollen dabei nicht
in anderen europäischen Staaten stationiert werden;

4. am KSZE-Prozess und den in der Charta von Paris beschriebenen Sicher-
heitsoptionen anzuknüpfen. Die OSZE kann zu einer regionalen Organisation
im Sinne der Charta der Vereinten Nationen mit eigener Völkerrechtssubjek-
tivität, ausgebaut werden, sofern sie sich weiterhin auf die zivile Konflikt-
bearbeitung beschränkt und auf Maßnahmen und Kapazitäten zur Friedens-
erzwingung verzichtet;

5. aktiv für Abrüstung zu wirken. Hierzu gehört insbesondere:

a) die russische Duma und den US-amerikanischen Kongress aufzufordern,
den von ihren Regierungen am 8. April 2010 unterzeichneten START-Ver-
trag zeitnah zu ratifizieren;

b) taktische Atomwaffen kurzer Reichweite (bis 500 km) in Abrüstungsver-
einbarungen einzubeziehen. Eine Art Short-range-nuclear-forces-Abkom-
men für Europa würde einen großen friedenspolitischen Fortschritt bedeu-
ten. Auf alle Fälle muss verhindert werden, dass eine Welle von
Modernisierungen taktischer Atomwaffen zu neuen Gefährdungspoten-
tialen in Europa führt;

c) die Fortsetzung bzw. Wiederaufnahme der Abrüstung konventioneller
Waffensysteme und die Reduzierung der Truppenstärken der Streitkräfte
voranzutreiben. Die Ratifizierung des angepassten Vertrages über konven-
tionelle Streitkräfte in Europa (A-KSE) durch Mitgliedsländer der Nord-
atlantischen Vertragsorganisation (NATO) muss erreicht werden, um die
vollständige Erosion des A-KSE zu verhindern. Hier ist höchst dringlich
verantwortungspolitisches Handeln der Bundesregierung und des Deut-
schen Bundestages gefordert. Deutschland muss friedenspolitisch voran-
gehen. Die Bundesregierung muss dem Deutschen Bundestag den A-KSE-
Vertrag zur Ratifizierung vorlegen und die anderen NATO-Staaten auffor-
dern, ebenfalls den A-KSE-Vertrag zu ratifizieren. Darüber hinaus muss
eine nächste Phase der Abrüstung konventioneller Waffensysteme und be-
gleitender vertrauensbildender Maßnahmen eingeleitet werden;

d) gegenüber Russland und den Vereinigten Staaten von Amerika für ein
atomwaffenfreies Mitteleuropa einzutreten;

6. die Strukturen der Zusammenarbeit mit Russland auf allen zivilen politi-
schen, ökonomischen und gesellschaftlichen Ebenen zu intensivieren, ins-
besondere Russland eine deutsche Mitwirkung an der Modernisierung der

russischen Wirtschaft, des Bildungssystems, der Staatsverwaltung anzubie-
ten. Geeignet dafür wären vertragliche Vereinbarungen über stabile Energie-

Drucksache 17/1559 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
versorgung, die Forschung und Förderung regenerativer Energiegewinnung,
gemeinsame Wirtschafts-, Sozial- und Kulturprojekte sowie eine engere Zu-
sammenarbeit zur Erforschung tiefgreifender geschichtlicher Ereignisse.
Weitere Freizügigkeiten im Reiseverkehr, unter anderem durch gegenseitige
Visabefreiung, sind im Interesse der großen Mehrheit der Bevölkerungen in
Deutschland und Russland;

7. gemeinsam mit Russland und im Rahmen der Europäischen Union antirussi-
sche Ängste auch in Osteuropa ernst zu nehmen und durch vertrauensbil-
dende Maßnahmen abzubauen und alle Schritte zu unterstützen, die zu einer
Verbesserung der Beziehungen zwischen Russland und den ehemaligen Staa-
ten des Warschauer Vertrages, die inzwischen EU-Mitgliedstaaten sind, bei-
tragen. Das Beispiel der russisch-polnischen Zusammenarbeit mit dem Ziel,
die Verbrechen von Katyn aufzuarbeiten und die Tatsache, dass Russland und
Polen sich in der Trauer um die Opfer des Flugzeugabsturzes von Smolensk
vereinten, haben Türen für eine neue Etappe des Umgangs mit Russland in
Osteuropa geöffnet und können dazu beitragen, auch das Verhältnis zu ande-
ren osteuropäischen Staaten zu verbessern;

8. den 65. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus zum Anlass zu nehmen, Ge-
schichtsrevisionismus, Rechtsextremismus und Antisemitismus in Deutsch-
land, aber auch in Russland, entschlossen abzulehnen und jeglicher Form der
Relativierung der Verbrechen der SS, der Waffen SS – auch der sogenannten
Freiwilligen Verbände – und der Wehrmacht entgegenzutreten.

Berlin, den 4. Mai 2010

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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