BT-Drucksache 17/1558

BAföG ausbauen - Gute Bildung für alle

Vom 4. Mai 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/1558
17. Wahlperiode 04. 05. 2010

Antrag
der Abgeordneten Nicole Gohlke, Agnes Alpers, Dr. Rosemarie Hein, Dr. Petra Sitte,
Dr. Martina Bunge, Yvonne Ploetz, Dr. Ilja Seifert, Kathrin Senger-Schäfer
und der Fraktion DIE LINKE.

BAföG ausbauen – Gute Bildung für alle

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Bildung ist ein Menschenrecht, dessen Verwirklichung oberste Priorität haben
muss. Diesem Ziel stehen Gebühren für Bildung entgegen. Deshalb strebt die
Fraktion DIE LINKE. an, die Unentgeltlichkeit von Bildung im Grundgesetz zu
verankern. Das deutsche Bildungssystem ist ungerecht und grenzt Kinder und
Jugendliche mit Behinderung sowie aus einkommensschwachen und bildungs-
fernen Elternhäusern aus; sie können aufgrund ihrer sozioökonomischen
Herkunft deutlich seltener ihre gewünschten Ausbildungswege realisieren. Die
Ausbildungsförderung wurde 1971 mit folgendem Ziel eingeführt: „Der soziale
Rechtsstaat, der soziale Unterschiede durch eine differenzierte Sozialordnung
auszugleichen hat, ist verpflichtet, durch Gewährung individueller Ausbildungs-
förderung auf eine berufliche Chancengleichheit der jungen Menschen hinzu-
wirken.“ Damit die Ausbildungsförderung tatsächlich in die Lage versetzt wird,
Benachteiligungen im Bildungssystem wirksam auszugleichen, muss sie grund-
legend reformiert werden.

Die Bildungsbenachteiligungen beginnen bereits sehr früh. Schülerinnen und
Schüler aus bildungsbenachteiligten Schichten müssen früh und durchgängig
gefördert werden. Um berufliche Chancengleichheit zu gewährleisten, müssen
auch die finanziellen Voraussetzungen geschaffen werden. Deshalb soll das
Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) für Schülerinnen und Schüler in
der Oberstufe allgemeinbildender Schulen wieder vollständig eingeführt wer-
den. Auch die Förderung für Auszubildende in vollzeitschulischen Ausbil-
dungsgängen muss ausgebaut werden, so dass auch Schülerinnen und Schüler
unterstützt werden, die weiter bei ihren Eltern wohnen oder auch ohne Ehe und/
oder Kinder einen eigenen Haushalt gründen. Gleichermaßen muss im Rahmen
der Arbeitsförderung ermöglicht werden, dass Auszubildende in betrieblichen
oder außerbetrieblichen Berufsausbildungen Berufsausbildungsbeihilfe auch
dann erhalten, wenn sie ungezwungenermaßen sowie ohne Ehe bzw. Kinder aus
dem Haus ihrer Eltern ausziehen.
Eine Reform der Ausbildungsförderung muss eine soziale Öffnung der Hoch-
schulen ermöglichen. Aktuell haben längst nicht alle Studienberechtigten die
Möglichkeit, unabhängig von ihrer sozialen Herkunft ein Studium aufzuneh-
men, das ihren Wünschen und Vorstellungen entspricht. 77 Prozent der „Stu-
dienberechtigten ohne Studienabsicht“ geben das Fehlen der finanziellen Vor-
aussetzungen als Grund für ihren Studienverzicht an; 73 Prozent wollen sich
nicht mit BAföG-Darlehen oder Krediten verschulden; bei 69 Prozent würden

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Studiengebühren – die in fünf Bundesländern zu entrichten sind – die finanziel-
len Möglichkeiten übersteigen (vgl. HIS 2009 – Hochschul-Informations-Sys-
tem GmbH). Die soziale Zusammensetzung der Studierenden an den Hochschu-
len ist ein weiterer Beleg für die Mängel der aktuellen Ausbildungsfinanzierung.
Laut der 18. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks nehmen 83 Prozent
aller Akademikerkinder, aber nur 17 Prozent aller Arbeiterkinder ein Studium
auf.

Die Bundesregierung setzt zunehmend auf den Weg der Privatisierung von Aus-
bildungskosten. Mit der Einführung eines sogenannten Zukunftskontos sollen
Eltern angehalten werden, nach dem Vorbild des Bausparens oder der Riester-
Rente für die Ausbildung ihrer Kinder privat die nötigen Mittel anzusparen. Die-
ses Modell wirkt bildungspolitisch selektiv und ist sozial ungerecht. Eine Priva-
tisierung der Kosten kann nicht zu einer steigenden Bildungsbeteiligung beitra-
gen, sondern wirkt im Gegenteil als Anreiz, auf Bildung zu verzichten. Die
Förderung privaten Sparens ist nur für finanzstarke Haushalte attraktiv, sozial
schlechter Gestellte dagegen haben kaum die Möglichkeit, sich an entsprechen-
den Modellen überhaupt zu beteiligen.

Im Hochschulbereich fördert die Bundesregierung massiv den Ausbau privater
Stipendien, wie etwa das geplante Nationale Stipendiensystem und installiert pa-
rallel zur bestehenden Ausbildungsförderung ein Kreditsystem, das ein hohes
Verschuldungsrisiko mit sich bringt. Hierdurch werden weitere soziale Hürden
geschaffen, vor denen insbesondere junge Menschen aus einkommensschwachen
und bildungsfernen Elternhäusern zurückschrecken. Eine Untersuchung der
Hochschul-Informations-System GmbH (HIS 2009) hat ergeben, dass zwei
Drittel der von den Begabtenförderungswerken geförderten Studierenden aus
Akademikerfamilien stammen. Zudem droht durch die Einführung des Natio-
nalen Stipendienprogrammes neues Chaos an den Hochschulen, denn für den
personellen und organisatorischen Mehraufwand (Bewerbungs- und Auswahl-
prozess sowie Einwerbung und Pflege von Stipendiengeberinnen und Stipen-
diengebern) sind keine zusätzlichen Mittel vorgesehen. Struktur- und wirtschafts-
schwache Regionen sind darüber hinaus durch das „Erbetteln“ bei Unternehmen
zum einen im Nachteil und zum anderen ist die Unabhängigkeit der Hochschu-
len in Gefahr. Es ist nicht ausgeschlossen, dass Unternehmen vorgeben, in wel-
chen Bereichen sie Bedarf haben.

Im Vergleich zu ihren Bemühungen in diesen Bereichen behandelt die Bundes-
regierung das BAföG vergleichsweise nachlässig. Die vergangenen BAföG-No-
vellen in 2001 und 2008 blieben hinter den notwendigen Anforderungen für eine
bedarfsdeckende Ausbildungsfinanzierung deutlich zurück. Überfällige Erhö-
hungen der Bedarfssätze wurden lange verschleppt und fielen zu gering aus. Die
bisherige Darlehenskomponente im BAföG verunsichert darüber hinaus viele
Studierende und schreckt insbesondere Schülerinnen und Schüler aus finanz-
schwachen Schichten vor der Aufnahme einer Ausbildung an einer Hochschule,
Akademie oder höheren Fachschule ab. Diese Politik wird nun fortgesetzt, in-
dem die Bundesregierung vorschlägt, die Bedarfssätze um lediglich 2 Prozent
und die Einkommensfreibeträge nur um 3 Prozent anzuheben; an der Darlehens-
komponente hält sie weiterhin fest. Die BAföG-Zuschüsse und Einkommens-
freibeträge müssen um jeweils 10 Prozent erhöht werden. Damit soll eine
Annäherung der Bedarfssätze und Freibeträge an die tatsächlichen, durch-
schnittlichen Kosten von Studium und Ausbildung gewährleistet sowie zudem
eine deutliche Ausweitung des Berechtigtenkreises bewirkt werden. Im Gegen-
zug muss das geplante Nationale Stipendienprogramm, das die öffentliche Hand
mindestens 300 Mio. Euro zuzüglich einer unbestimmten Summe aus steuer-
lichen Absetzungen kosten wird, zugunsten dieser BAföG-Erhöhung gestoppt
werden.

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Eine Ausweitung des BAföG ist mithin eine entscheidende Voraussetzung dafür,
dass sich junge Menschen unabhängig von ihrer sozialen Herkunft für einen
ihren Interessen entsprechenden Beruf entscheiden und eine qualifizierte Aus-
bildung abschließen können, dass mehr Schülerinnen und Schüler eine Hoch-
schulzugangsberechtigung erwerben sowie dafür, dass sie unabhängig von ihrer
sozialen Herkunft ein Studium aufnehmen und erfolgreich zu Ende führen
können. Nur wenn viel mehr junge Menschen aus einkommensschwachen Haus-
halten und der so genannten unteren Mittelschicht ein Studium aufnehmen, wird
die Studierendenquote steigen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. die Bedarfssätze und Freibeträge zum 1. Oktober 2010 um jeweils 10 Prozent
anzuheben. Zudem muss auf die Einführung von Bildungssparmodellen so-
wie auf das geplante Nationale Stipendienprogramm zugunsten des Ausbaus
der öffentlichen Ausbildungsförderung verzichtet werden;

2. die Ausbildungsförderung auch für Lernende an Hochschulen, Akademien
und höheren Fachschulen umgehend wieder auf ein Vollzuschusssystem um-
zustellen;

3. zu gewährleisten, dass das Studium wieder in allen Bundesländern gebühren-
frei wird. Die Bundesregierung muss endlich den ratifizierten Sozialpakt der
Vereinten Nationen durchsetzen und dafür sorgen, dass Studiengebühren und
Gebühren für berufliche Ausbildungen abgeschafft werden. Bis dies erreicht
ist, sollte zumindest die Vergabe von Fördermitteln des Bundes an die Länder
an die Gebührenfreiheit der geförderten Angebote geknüpft werden;

4. die Ausbildungsförderung von Schülerinnen und Schülern an weiterführen-
den allgemeinbildenden Schulen in der Oberstufe, Berufsfachschulen sowie
Fach- und Fachoberschulklassen wiederherzustellen, auch dann, wenn die
Schülerinnen und Schüler bei den Eltern wohnen oder ungezwungenermaßen
sowie ohne Ehe oder Kinder einen eigenen Haushalt gründen;

5. die Berufsausbildungsbeihilfe entsprechend der Ausbildungsförderung für
schulische Berufausbildungen auszubauen, so dass Lernende in betrieblichen
sowie außer- und überbetrieblichen Ausbildungen bei individuellem Bedarf
auch unterstützt werden können, wenn sie ungezwungenermaßen sowie ohne
Ehe oder Kinder einen eigenen Haushalt gründen, bis durch geeignete Maß-
nahmen in diesen Bereichen der Berufsausbildung eine angemessene Ausbil-
dungsvergütung sichergestellt ist;

6. Vorschriften für eine automatische jährliche Dynamisierung der Förderbe-
träge und Freibeträge aufzunehmen, damit sich die tatsächlichen Lebenshal-
tungskosten nicht erneut von der Höhe der Förderbeträge entfernen können;

7. die Fördermöglichkeiten durch einen Verzicht auf Höchstaltersgrenzen auch
über das 30. Lebensjahr hinaus zu öffnen. So kann der Heterogenität von
Lebens- und Bildungswegen Rechnung getragen werden. Dies eröffnet auch
nach einer Familienphase oder nach einer Berufstätigkeit die Aufnahme eines
Studiums bzw. einer Ausbildung;

8. alle Masterstudiengänge fachrichtungsunabhängig zu fördern und auf beson-
dere Voraussetzungen für die Förderung eines Masterstudiums zu verzichten;

9. die Förderungshöchstdauer für Studierende nicht länger an der administrativ
festgelegten Regelstudienzeit zu bemessen. Vielmehr muss dem kausalen Zu-
sammenhang zwischen langen Studienzeiten und unterfinanzierten Hoch-
schulen Rechnung getragen werden, indem sie sich fachspezifisch an den tat-
sächlichen durchschnittlichen Studienzeiten orientieren;

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10. für Studierende mit Behinderung eine bedarfsgerechte Assistenz beim
Besuch der Hochschule (Leistungen der Eingliederungshilfe nach § 54 Ab-
satz 1 Nummer 2 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch) auch über den
ersten berufsqualifizierenden Abschluss hinaus als Nachteilsausgleich ein-
kommens- und vermögensunabhängig zu gewähren;

11. eine grundlegende Strukturreform der Ausbildungsförderung einzuleiten,
die die Perspektive einer elternunabhängigen Förderung für alle Volljäh-
rigen, die sich in Ausbildung befinden, bei jeweils individuellem Bedarf
eröffnet. Die Bundesregierung wird insbesondere damit beauftragt, die
Weiterentwicklung zu einem „Zwei-Körbe-Modell“ zu prüfen:

1. Der erste Korb soll hierbei aus einem einheitlichen Sockelbetrag für alle
sich in Ausbildung befindlichen Erwachsenen bestehen. Dieser wird
direkt an die Studierenden, Schülerinnen und Schüler fließen. Er ersetzt
die bisherigen an die Eltern von volljährigen in Ausbildung befindlichen
Kindern geleisteten kindbezogenen steuerlichen Entlastungen im Rah-
men des Familienleistungsausgleichs. Die Überführung der steuerlichen
Entlastungen in eine Sockelförderung erkennt zum einen an, dass voll-
jährige Lernende als erwachsene Menschen unabhängig von ihren Eltern
über ihren Bildungsweg entscheiden können sollten. Die Vereinheit-
lichung des Sockelbetrags würde zum anderen die Bevorzugung von
Eltern mit höheren Einkommen durch die Ausschöpfung von Kinderfrei-
betrag und Freibetrag für Betreuung und Erziehung oder Ausbildung
beenden.

2. Der Aufstockungsbetrag (zweite Korb) soll aus einem – in einem ersten
Schritt elternabhängigen – Zuschussteil bestehen, der schrittweise hin
zur Elternunabhängigkeit ausgebaut wird. Die Bedarfssätze für Schüle-
rinnen, Schüler und Studierende sollen dabei bedarfsdeckend ausgestal-
tet werden. Sie müssen so bemessen sein, dass keine Auszubildende und
kein Auszubildender durch den Übergang vom BAföG auf das Zwei-
Körbe-Modell schlechter gestellt wird. Die fiskalische Gegenfinanzie-
rung muss zulasten überdurchschnittlicher Einkommen und Vermögen
gehen und gleichzeitig umgesetzt werden;

12. dem Deutschen Bundestag einen Vorschlag zu unterbreiten, wie die Aus-
bildungsförderung mittelfristig zu einer elternunabhängigen Förderung aus-
gebaut werden kann ohne neue soziale Benachteiligungen entstehen zu las-
sen. Auszubildende müssen über ihren Bildungsweg auch finanziell
unabhängig von ihren Eltern entscheiden können. Eine entsprechende
Reform der Ausbildungsförderung muss so ausgestaltet sein, dass sozial
schlechter gestellte Haushalte entlastet werden und finanzstarke Haushalte
etwa über erhöhte Einkommens-, Vermögens- und Erbschaftssteuern wei-
terhin ihren gesellschaftlichen Beitrag zur Ausbildung junger Menschen
leisten.

Berlin, den 4. Mai 2010

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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