BT-Drucksache 17/1557

Entwurf eines ... Gesetzes zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes (Bleiberechtsregelung und Vermeidung von Kettenduldungen)

Vom 4. Mai 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/1557
17. Wahlperiode 04. 05. 2010

Gesetzentwurf
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Sevim Dag˘delen, Wolfgang Neskovic,
Petra Pau, Jens Petermann, Raju Sharma, Frank Tempel, Halina Wawzyniak und der
Fraktion DIE LINKE.

Entwurf eines … Gesetzes zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes
(Bleiberechtsregelung und Vermeidung von Kettenduldungen)

A. Problem

Das Problem der über Jahre andauernden so genannten Kettenduldungen besteht
ungeachtet der gesetzlichen Altfallregelung vom August 2007 und ungeachtet
zweier Beschlüsse der Innenministerkonferenz vom November 2006 und 2009
fort. Zum Stichtag 31. Dezember 2009 hielten sich fast 57 000 geduldete Per-
sonen bereits seit mehr als sechs Jahren in Deutschland auf. Der Anteil der lang-
jährig Geduldeten ist mit 64 Prozent an allen Geduldeten (89 498 Personen) so
hoch wie seit Jahren nicht mehr.

Ein maßgeblicher Grund für die große Zahl der langjährig geduldeten Menschen
ist, dass die Bleiberechtsregelungen der letzten Jahre viel zu restriktiv gefasst
waren: Durch Stichtagsregelungen, strenge Ausschlussgründe und das zentrale
Erfordernis eines eigenständigen Einkommens zur Absicherung des Lebens-
unterhalts wurden viele Geduldete von vornherein ausgeschlossen.

Ein weiterer Grund für die fortgesetzte Praxis der Kettenduldungen ist die unzu-
reichende Ausgestaltung des § 25 Absatz 5 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG).
Die Systematik und der Wortlaut dieser Regelung sind ungeeignet, um das vor-
gebliche Ziel der Vermeidung von Kettenduldungen erreichen zu können. Dies
hat nicht zuletzt die Praxis gezeigt. Insbesondere das Anknüpfen an den Begriff
der Unmöglichkeit der „Ausreise“ – statt Abschiebung – sorgt für eine sehr res-
triktive Rechtsanwendung.

Für die Betroffenen bedeutet die Duldung über Jahre hinweg eine enorme
psychische Belastung und Ausgrenzung in nahezu allen gesellschaftlichen Be-
reichen. Die Beschränkungen des lediglich geduldeten Aufenthalts haben eine
systematische Desintegration zur Folge – mit schwerwiegenden negativen Fol-
gen für das Leben und die persönliche Zukunft der Betroffenen, aber auch für die
Aufnahmegesellschaft.
B. Lösung

Alle bisherigen Lösungsversuche waren unzureichend und bloßes Stückwerk. Es
bedarf klarer, wirksamer und großzügiger gesetzlicher Regelungen, um weitere
Kettenduldungen in großer Zahl ausschließen zu können. Die nachfolgenden
Änderungen sind an diesem Ziel ausgerichtet und bauen aufeinander auf.

Drucksache 17/1557 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Das Aufenthaltsgesetz wird so ausgestaltet, dass statt einer Duldung sofort eine
Aufenthaltserlaubnis erteilt werden kann, wenn die Abschiebung rechtlich oder
tatsächlich unmöglich ist. Eine Aufenthaltserlaubnis soll erteilt werden, wenn
die Abschiebung seit mindestens 18 Monaten aus objektiven Gründen ausgesetzt
ist. Schließlich ist aus Gründen der Persönlichkeitsrechte, der Rechtsstaatlichkeit
und Verhältnismäßigkeit ein dauerhaftes Bleiberecht zu gewähren, wenn die Be-
troffenen seit fünf Jahren in Deutschland leben und nicht abgeschoben werden
konnten. Für Familien mit minderjährigen Kindern, unbegleitete Minderjährige
und besonders schutzbedürftige Personen gelten kürzere Fristen.

Die unzureichende gesetzliche Altfallregelung nach §§ 104a und 104b AufenthG
wird aufgehoben, bereits erteilte Aufenthaltserlaubnisse gelten ohne die Bedin-
gungen einer eigenständigen Lebensunterhaltssicherung fort.

Subsidiär Schutzberechtigten ist entsprechend dem europäischen Recht eine
Aufenthaltserlaubnis zu erteilten.

Sozialrechtliche Freibeträge zur Förderung der Erwerbstätigkeit sollen generell
nicht dazu führen, dass sich das zur Erlangung eines Aufenthaltstitels gegebe-
nenfalls nachzuweisende Einkommen weiter erhöht.

Schließlich werden Änderungen infolge des Gesetzes zur Umsetzung aufent-
halts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union rückgängig ge-
macht, mit denen eine Aufenthaltsverfestigung aus humanitären Gründen
erschwert bzw. rechtsstaatswidrige Überraschungsabschiebungen ermöglicht
wurden.

C. Alternativen

Beibehaltung der jetzigen Regelungen oder nur geringfügige Gesetzesänderun-
gen, wodurch die inakzeptable Praxis der Kettenduldung jedoch in weitem Um-
fang fortgeführt würde.

D. Finanzielle Auswirkungen und Bürokratiekosten

Es wird mit Einsparungen gerechnet, die nur schwer genau zu beziffern sind.
Kosten in unbekannter Höhe sind mit der Gewährung von Sozialleistungen im
Falle der Bedürftigkeit verbunden, jedoch entstünden diese Kosten im Regelfall
auch ohne die vorgesehenen Gesetzesänderungen, da es um Personen geht, die
zumeist ohnehin nicht abgeschoben werden können. Da eine Arbeitsaufnahme
mit einer bloßen Duldung erheblich erschwert wird, erhöht sich durch die er-
leichterte Aufenthaltsgewährung die Chance, dass die Betroffenen eine Beschäf-
tigung finden und unabhängig von öffentlichen Leistungen leben können. Hier-
durch kommt es mittel- und langfristig zu Einsparungen.

Einsparungen sind wegen der Vermeidung aufwändiger Behörden- und Gerichts-
verfahren zu erwarten, die sich aus der derzeitigen vielfach unklaren Gesetzes-
lage ergeben.

8. Die §§ 104a und 104b werden aufgehoben.

den, wenn die Abschiebung seit mindestens 18
Monaten ausgesetzt ist, es sei denn, die Person weigert
sich, zumutbare Anforderungen zur Beseitigung des
Abschiebungshindernisses zu erfüllen.“

5. Nach § 25 wird folgender § 25a eingefügt:

Artikel 2

Inkrafttreten
Dieses Gesetz tritt am Tag nach der Verkündung in Kraft.
Entwurf eines … Gesetzes zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes
(Bleiberechtsregelung und Vermeidung von Kettenduldungen)

Vom …

Der Bundestag hat mit Zustimmung des Bundesrates das
folgende Gesetz beschlossen:

Artikel 1

Änderung des Aufenthaltsgesetzes

Das Aufenthaltsgesetz vom 30. Juli 2004 (BGBl. I
S. 1950), in der Fassung …, das zuletzt durch … (BGBl. I S. …)
geändert worden ist, wird wie folgt geändert:

1. In der Inhaltsübersicht wird nach der Angabe zu § 25 fol-
gende Angabe eingefügt:

„§ 25a Aufenthaltserlaubnis bei längerfristigem Aufent-
halt“.

2. In § 2 Absatz 3 werden in Satz 2 nach dem Wort „Eltern-
geld“ folgende Wörter eingefügt:

„, Freibeträge im Zweiten Buch Sozialgesetzbuch, die
eine Erwerbstätigkeit fördern sollen,“.

3. In § 5 Absatz 3 erster Halbsatz wird vor der Angabe „so-
wie § 26 Abs. 3“ die Angabe „, § 25a“ eingefügt.

4. § 25 wird wie folgt geändert:

a) Absatz 3 wird wie folgt geändert:

aa) In Satz 1 wird das Wort „soll“ durch das Wort
„wird“ ersetzt, das Wort „werden“ gestrichen und
nach dem Wort „Aufenthaltserlaubnis“ werden die
Wörter „für mindestens ein Jahr“ eingefügt.

bb) In Satz 2 werden die Wörter „die Ausreise in einen
anderen Staat möglich und zumutbar ist, der Aus-
länder wiederholt oder gröblich gegen entspre-
chende Mitwirkungspflichten verstößt oder“ ge-
strichen.

b) In Absatz 4 Satz 1 werden die Wörter „nicht vollzieh-
bar ausreisepflichtigen“ gestrichen.

c) Absatz 5 wird wie folgt gefasst:

„(5) Einer ausreisepflichtigen Person kann abwei-
chend von § 10 Absatz 3 und § 11 Absatz 1 eine Auf-
enthaltserlaubnis erteilt werden, wenn die Abschie-
bung aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen un-
möglich ist. Eine Aufenthaltserlaubnis soll erteilt wer-

㤠25a
Aufenthaltserlaubnis bei längerfristigem Aufenthalt

(1) Einer ausreisepflichtigen Person, die sich seit min-
destens fünf Jahren im Bundesgebiet aufhält, wird abwei-
chend von § 10 Absatz 3 und § 11 Absatz 1 eine Aufent-
haltserlaubnis erteilt. Von der Voraussetzung eines fünf-
jährigen Aufenthaltes wird in Härtefällen abgesehen. Ein
Härtefall liegt insbesondere vor, wenn die Person

1. zum Zeitpunkt der Erteilung einer Aufenthaltserlaub-
nis nach Satz 1 in einer familiären Beziehung mit ei-
nem ledigen Kind lebt und sich seit mindestens drei
Jahren im Bundesgebiet rechtmäßig oder geduldet auf-
hält,

2. unbegleitet minderjährig in das Bundesgebiet einge-
reist oder nach einer Einreise minderjährig ohne Be-
gleitung zurückgelassen worden ist und sich seit min-
destens zwei Jahren im Bundesgebiet rechtmäßig oder
geduldet aufhält,

3. als Opfer einer im Ausland erlittenen Gewalttat oder
kriegerischer Auseinandersetzungen traumatisiert ist
oder

4. während des Aufenthaltes im Bundesgebiet Opfer ei-
ner Gewalttat geworden ist.

(2) Dem Ehegatten oder der Ehegattin und dem ledigen
Kind einer Person, der nach Absatz 1 eine Aufenthaltser-
laubnis erteilt wird, wird eine Aufenthaltserlaubnis erteilt.

(3) Die Aufenthaltserlaubnis nach den Absätzen 1
und 2 berechtigt zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit.“

6. In § 60a wird Absatz 5 wie folgt geändert:

a) In Satz 3 wird das Wort „unverzüglich“ gestrichen.

b) Satz 4 wird wie folgt gefasst:

„Wurde die Abschiebung länger als ein halbes Jahr
ausgesetzt, ist eine bevorstehende Abschiebung min-
destens einen Monat vorher anzukündigen; die Ankün-
digung ist zu wiederholen, wenn die Aussetzung für
mehr als insgesamt ein halbes Jahr erneuert wurde.“

7. In § 101 wird nach Absatz 3 folgender Absatz 4 angefügt:

„(4) Eine Aufenthaltserlaubnis, die nach den bis …
[einsetzen: Datum des Inkrafttretens dieses Gesetzes] gel-
tenden § 104a oder § 104b erteilt wurde, gilt als Aufent-
haltserlaubnis nach § 25a fort.“
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/1557
Berlin, den 4. Mai 2010

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Die systematische Desintegration von Personen, die über (vgl. Bundestagsdrucksachen 16/8321 und 17/642, jeweils

viele Jahre hinweg oder sogar dauerhaft – wenn auch nur ge-
duldet – in Deutschland leben, verstößt nicht nur gegen die
persönlichen Interessen und Rechte der Betroffenen. Eine

die Antwort zu Frage 12), d. h. jährlich wurde rein rechne-
risch nur etwa 2 300 geduldeten Personen auf dieser Rechts-
grundlage ein rechtmäßiger Aufenthalt neu ermöglicht (Aus-
Drucksache 17/1557 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Begründung

A. Allgemeiner Teil

Zum Stichtag 31. Dezember 2009 hielten sich fast 57 000 ge-
duldete Personen bereits seit mehr als sechs Jahren in
Deutschland auf, ebenso lange lebten zudem 3 731 Asyl-
suchende hier. Der Anteil der langjährig Geduldeten an allen
Geduldeten ist mit 64 Prozent (von 89 498 Personen) so hoch
wie seit Jahren nicht mehr. Betroffen sind vor allem Personen
mit ungeklärter Staatsangehörigkeit sowie von den deut-
schen Behörden nicht anerkannte Flüchtlinge aus Serbien
(inklusive Kosovo), der Türkei, dem Irak, Syrien, Libanon
und China, d. h. aus Ländern mit bekannt schwieriger Men-
schenrechtslage (vgl. Antwort der Bundesregierung auf die
Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE., auf Bundestags-
drucksache 17/642, Fragen 13 und 14). Eine besonders res-
triktive ausländerrechtliche Praxis mit einem überdurch-
schnittlich hohen Anteil langjährig Geduldeter (über 64 Pro-
zent) weisen die Bundesländer Bremen, Niedersachsen,
Nordrhein-Westfalen, Bayern und Baden-Württemberg auf
(vgl. Bundestagsdrucksache 17/764, Antwort zu Frage 5).

Zu der Zahl der langjährig Geduldeten kommen noch einmal
fast 53 000 ausreisepflichtige Personen ohne eine Duldung
hinzu, die ebenfalls bereits länger als sechs Jahre in Deutsch-
land leben (vgl. Bundestagsdrucksache 17/1539, Antwort zu
Frage 10). Da eine schriftliche Duldung erteilt werden muss,
wenn die „Ausreisepflicht […] nicht ohne Verzögerung
durchgesetzt werden kann“ (vgl. Urteil des Bundesverwal-
tungsgerichts 1 C 3.97 vom 25. September 1997), dürfte
einer Mehrzahl der Betroffenen die Duldung zu Unrecht ver-
weigert worden sein. Die vorgeschlagenen Regelungen
knüpfen deshalb maßgeblich an der Ausreisepflicht an, um
auch diese faktisch geduldeten Personen, bei denen derselbe
Handlungsbedarf besteht, mit einzubeziehen.

Zwei Beschlüsse der Innenministerkonferenz vom Novem-
ber 2006 und 2009 und die gesetzliche Altfallregelung vom
August 2007 änderten nur wenig an diesem beklagenswerten
Zustand. Eine grundsätzliche Lösung war zum einen von
vornherein nicht das Ziel der Regelungen, lediglich der
Gruppe der zu einem bestimmten Stichtag lange in Deutsch-
land lebenden Geduldeten sollte die Möglichkeit eines regu-
lären Aufenthaltstitels eröffnet werden. Zum anderen knüpf-
ten sich neben dem Stichtag zahlreiche weitere Bedingungen
an die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis im Rahmen der
verschiedenen Altfallregelungen. Nach jahrelangem weit-
gehenden Arbeitsverbot, weitgehenden Bewegungsein-
schränkungen im Rahmen der Residenzpflicht und der Un-
terbringung in Sammelunterkünften sollten sie nun plötzlich
in der Lage sein, ein ausreichendes eigenes Einkommen vor-
zuweisen. Diese Hürde erwies sich vorhersehbar als zu hoch.
Zahlreiche weitere Restriktionen sorgten dafür, dass ansons-
ten gut integrierte Familien vom Zugang zum Bleiberecht
ausgeschlossen blieben.

öffentlichen Interesse. So führt die dauerhafte Ausgrenzung
unter anderem zu (rassistischer) Stigmatisierung, weil die
Mehrheitsbevölkerung den Betroffenen diese Ausgrenzung
und ihre Folgen (dauerhafter Bezug von Sozialleistungen,
Ausweichen in informelle ökonomische Sektoren etc.) zu-
rechnet und nicht den ausgrenzenden gesetzlichen Regelun-
gen.

Der neue § 25a AufenthG sieht deshalb eine permanente
Bleiberechtsregelung aus humanitären Gründen vor. Wenn
eine Abschiebung über einen längeren Zeitraum hinweg
nicht möglich war, soll den Betroffenen ein dauerhaftes Blei-
berecht gewährt werden. Der staatliche Anspruch auf Durch-
setzung der Ausreisepflicht tritt in diesen Fällen angesichts
der Verfassungsgrundsätze des Schutzes der Menschenwür-
de und freien Entfaltung der Persönlichkeit und des Verhält-
nismäßigkeitsgebots allen staatlichen Handelns hinter dem
individuellen Interesse an einem sicheren Aufenthalt und
einer berechenbaren Zukunftsperspektive zurück.

Mit dieser Regelung werden Forderungen der außerparla-
mentarischen Bleiberechtsbewegung, von PRO ASYL und
Flüchtlingsräten aufgegriffen und umgesetzt. Kirchen, Wohl-
fahrtsverbände, Gewerkschaften, zahlreiche Verbände und
Einzelpersonen haben sich ebenfalls seit Jahren für eine
großzügige Bleiberechtsregelung ohne Stichtage eingesetzt.
Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen
(Vertretung für Deutschland und Österreich) forderte in
einem Eckpunktepapier zum Flüchtlingsschutz vom Oktober
2009 die Bundesregierung und den Bundestag auf, „zu be-
rücksichtigen, dass von Personen nach beispielsweise fünf-
jährigem Auslandsaufenthalt eine Rückkehr in ihr Her-
kunftsland auf Grund der zwischenzeitlich eingetretenen
faktischen Verwurzelung in Deutschland häufig nur schwer-
lich erwartet werden kann“ (S. 9). Die neue Regelung in
§ 25a AufenthG entspricht im Wesentlichen dem Gesetzent-
wurf auf Bundestagsdrucksache 16/369, dem auch die Frak-
tion der FDP zustimmte, da er „in die richtige Richtung“
einer Vermeidung unerwünschter Kettenduldungen gehe
(Bundestagsdrucksache 16/2563, S. 5).

Kettenduldungen abzuschaffen war ein vorgebliches Ziel der
Neufassung des humanitären Aufenthaltsrechts im neu ge-
schaffenen Aufenthaltsgesetz. Der Wortlaut und die Syste-
matik des § 25 Absatz 5 AufenthG haben sich aber in der Pra-
xis als ungeeignet erwiesen, einen Beitrag zu Abschaffung
der Kettenduldungen zu leisten. Dies bestätigte auch die Eva-
luation der Regelung, die das Bundesministerium des Innern
im Jahr 2006 vornahm. Heute ist die Zahl der langjährig Ge-
duldeten in etwa so hoch wie während des Gesetzgebungs-
verfahrens zum Zuwanderungsgesetz.

Die Zahl der Personen mit einer Aufenthaltserlaubnis nach
§ 25 Absatz 5 AufenthG erhöhte sich im Zeitraum von Ende
2006 bis Ende 2009 um lediglich 6 900 auf knapp 48 000
solche Ausgrenzungspolitik ist angesichts ihrer destruktiven
gesamtgesellschaftlichen Folgewirkungen auch nicht im

reisen und Aufenthaltsverfestigungen sind hierbei nicht be-
rücksichtigt).

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/1557

Das Scheitern des Ansatzes des § 25 Absatz 5 AufenthG hat
verschiedene Gründe. Erstens nimmt er das Bestehen von
Ausreisehindernissen in den Blick, statt die Unmöglichkeit
der Abschiebung. Von Betroffenen wird also die Ausreise
verlangt, obwohl sie zugleich nicht abgeschoben werden
können. Da eine Ausreise so gut wie immer möglich und
nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts
sogar dann zumutbar sein kann, wenn für das betreffende
Herkunftsland ein Abschiebestopp gilt, ist der Anwendungs-
bereich der Vorschrift erheblich eingeschränkt. Mit dem Ur-
teil des Bundesverwaltungsgerichts 1 C 14/05 vom 27. Juni
2006 wurde einem irakischen Flüchtling eine Aufenthaltser-
laubnis versagt, obwohl er zum Zeitpunkt der Entscheidung
bereits seit sieben Jahren in Deutschland lebte und obwohl
nicht einmal die Behörden von einer Abschiebungsmöglich-
keit in absehbarer Zeit ausgingen.

Künftig wird vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen bei der
Aufenthaltsgewährung nach § 25 Absatz 5 AufenthG wieder
vorrangig an die Frage der Möglichkeit oder Unmöglichkeit
einer Abschiebung angeknüpft. Bereits im bis zum 1. Januar
2005 geltenden Ausländergesetz bestand die Möglichkeit
einer Aufenthaltserteilung bei unverschuldeten Abschie-
bungshindernissen nach zwei Jahren und zwar unabhängig
von der Frage der „freiwilligen“ Ausreisemöglichkeit (vgl.
§ 30 Absatz 4 des Ausländergesetzes – AuslG). Diese Ermes-
sensvorschrift wurde in der Praxis nur sehr restriktiv genutzt,
weshalb die vorgeschlagene Gesetzesänderung sich im Wort-
laut an § 30 Absatz 4 AuslG a. F. anlehnt, jedoch als Soll-Vor-
schrift ausgestaltet ist. Auf die in der Praxis nur schwierig und
letztlich auch nur subjektiv zu beantwortende Frage, unter
welchen Umständen eine „freiwillige“ Ausreise „zumutbar“
ist oder nicht, soll es unter anderem aus Gründen der Verhält-
nismäßigkeit und Rechtsklarheit nicht ankommen.

§ 25 Absatz 4 Satz 1 AufenthG sollte nach der ursprüng-
lichen Begründung des Zuwanderungsgesetzes in dringen-
den humanitären Fällen oder im persönlichen oder öffentli-
chen Interesse eine Aufenthaltserteilung – statt einer Dul-
dung – ermöglichen. Mit dem Gesetz zur Umsetzung aufent-
halts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen
Union wurde diese Vorschrift jedoch erheblich einge-
schränkt, denn „vollziehbar ausreisepflichtige Ausländer“
können sich seitdem nicht mehr auf sie berufen. Diese Ver-
schärfung wird mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wieder
rückgängig gemacht, da auch sie Kettenduldungen befördert.

Mit dem EU-Richtlinienumsetzungsgesetz wurde auch die
Pflicht zur Ankündigung einer Abschiebung erheblich einge-
schränkt. Das Oberverwaltungsgericht Hamburg hat jedoch
bereits 1997 ausgeführt (Bs VI 25/97; B.v. 24. Juni 1997, in:
InfAuslR 11-12/97, 460 ff.), dass es selbst bei feststehender
Rechtmäßigkeit einer Abschiebungsandrohung die Rechts-
wegegarantie des Grundgesetzes (Artikel 19 Absatz 4 des
Grundgesetzes – GG) gebietet, eine beabsichtigte Abschie-
bung „dem Antragsteller so rechtzeitig anzukündigen, dass er
noch in der Lage ist, gerichtlichen Rechtsschutz zu erlan-
gen“. Auf diese „Warnfunktion“ der Abschiebungsankün-
digungspflicht wurde auch in der Anhörung zum EU-Richt-
liniengesetz hingewiesen (vgl. Stellungnahme von Dr. Ruth
Weinzierl, Ausschussdrucksache 16(4)209 J, S. 12). Die Ab-
schiebungsankündigungspflicht soll aus Gründen der
Rechtsstaatlichkeit und zur Vermeidung von Überraschungs-

Infolge des Urteils des Bundesverwaltungsgerichts vom
26. August 2008 (BVerwG 1 C 32.07) zur Berechnung des im
Aufenthaltsrecht nachzuweisenden Einkommens haben sich
die Hürden zur Erlangung eines Aufenthaltstitels erhöht.
Diese vom Gesetzgeber nicht beabsichtigte negative Folge-
wirkung einer Regelung zur Begünstigung der Erwerbstätig-
keit auf das Aufenthaltsrecht (vgl. auch Siebter Bericht über
die Lage der Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland,
Bundestagsdrucksache 16/7600, S. 108 f.) soll mit der vorge-
schlagenen Änderung ausgeschlossen werden.

Zugleich wird ein Widerspruch zur Familienzusammenfüh-
rungsrichtlinie der Europäischen Union 2003/86/EG und zur
Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (Urteil vom
4. März 2010 in der Rechtssache Chakroun – C-578/08) ver-
mieden. Demnach ist die Befugnis zur Einschränkung des
Rechts auf Familienzusammenleben nach Artikel 7 Absatz 1
Buchstabe c der Richtlinie in Anbetracht von Artikel 8 der
Europäischen Menschenrechtskonvention – EMRK und Ar-
tikel 7 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union
eng auszulegen. Eine negative aufenthaltsrechtliche Berück-
sichtigung sozialrechtlicher Freibeträge beeinträchtigt das
Richtlinienziel einer Begünstigung der Familienzusammen-
führung und ist mit dem Urteil vom 4. März 2010 nicht
vereinbar (vgl. insbesondere Rn. 52). Überdies darf nach
Auffassung des Europäischen Gerichtshofs die Unterschrei-
tung eines bestimmten Richtbetrages nicht automatisch zur
Ablehnung des beantragten Aufenthaltstitels führen, da Arti-
kel 17 der Richtlinie eine individualisierte Prüfung der An-
träge auf Familienzusammenführung verlangt.

B. Einzelbegründung

Zu Artikel 1

Zu Nummer 1 (Inhaltsübersicht)

Bei der Ergänzung der Inhaltsübersicht handelt es sich um
eine Folgeänderung zur Einfügung des neuen § 25a in das
Aufenthaltsgesetz.

ZuNummer 2 (§ 2)

Mit der Änderung wird auf das Urteil des Bundesverwal-
tungsgerichts vom 26. August 2008 (BVerwG 1 C 32.07)
reagiert. Von einer Lebensunterhaltssicherung ist auch dann
auszugehen, wenn ein Anspruch auf Leistungen nach dem
Zweiten Buch Sozialgesetzbuch infolge der Freibetragsrege-
lungen zur Förderung der Arbeitsaufnahme (vgl. § 11 Ab-
satz 2 Satz 1 Nummer 6 i. V. m. § 30 SGB II bzw. § 11 Ab-
satz 2 Satz 2 SGB II) entsteht und diese in Anspruch genom-
men werden.

ZuNummer 3 (§ 5)

Hiermit wird klargestellt, dass es bei der Anwendung der
Bleiberechtsregelung nach § 25a (neu) nur auf die dort ge-
nannten Kriterien ankommen soll und nicht auf die Frage ei-
nes Passbesitzes oder der ökonomischen Situation der Be-
troffenen.

ZuNummer 4 (§ 25)

Zu Buchstabe a
abschiebungen künftig bereits nach einer sechsmonatigen
Aussetzung der Abschiebung gelten.

Nach Artikel 18 bzw. Artikel 24 Absatz 2 der Richtlinie
2004/83/EG werden subsidiär Schutzberechtigten ein

Drucksache 17/1557 – 6 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Schutzstatus und ein mindestens einjähriger Aufenthaltstitel
zuerkannt. Die bisherige Soll-Vorschrift in § 25 Absatz 3
wird dieser verpflichtenden Vorgabe nicht gerecht. Ebenso
ist die bisherige Einschränkung in Satz 2 durch den Verweis
auf einen dritten Staat oder bei mangelnder Mitwirkung nicht
mit der Richtlinie vereinbar. Die vorgesehenen Gesetzesän-
derungen entsprechen den Empfehlungen des Hohen Flücht-
lingskommissars der Vereinten Nationen (vgl. dessen Stel-
lungnahme, Ausschussdrucksache 16(4)209 G, S. 21 ff.).

Zu Buchstabe b

Hierdurch wird eine Änderung durch das Gesetz zur Umset-
zung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europä-
ischen Union wieder rückgängig gemacht. Eine Aufenthalts-
erlaubnis nach § 25 Absatz 4 Satz 1 soll künftig wieder auch
bei vollziehbar Ausreisepflichtigen möglich sein. Diese Aus-
legung entspricht dem ursprünglichen Zuwanderungsgesetz
und der sich hierauf beziehenden Rechtsprechung und Kom-
mentarliteratur.

Zu Buchstabe c

Der Absatz 5 des § 25 AufenthG wird entsprechend des
Grundsatzes der Vermeidung weiterer Kettenduldungen neu
gefasst. Dabei wird insbesondere eine Bezugnahme auf die
Begriffe „Ausreise“ bzw. „Ausreisehindernisse“ vermieden
und nur noch auf den Begriff bzw. den Vorgang der Abschie-
bung abgestellt. Satz 1 ermöglicht die sofortige Erteilung ei-
ner Aufenthaltserlaubnis, wenn eine Abschiebung unmög-
lich ist. Satz 2 stellt in Anlehnung an die bisherige Regelung
klar, dass spätestens nach 18 Monaten eine Aufenthaltser-
laubnis erteilt werden soll, wenn eine Abschiebung unmög-
lich ist; die Regelung der Ausnahmefälle entspricht dem
Wortlaut des § 30 Absatz 4 des bis zum 31. Dezember 2004
geltenden Ausländergesetzes.

ZuNummer 5 (§ 25a)

Die Vorschrift stellt eine Anspruchsgrundlage für die Ertei-
lung einer Aufenthaltserlaubnis im Falle eines mindestens
fünfjährigen Aufenthaltes bzw. bei Vorliegen weiterer Vo-
raussetzungen auch bei einem kürzeren Aufenthalt dar. Für
Fälle eines längerfristigen Aufenthalts bedarf es einer Rege-
lung, bei der es nicht mehr auf die Zurechenbarkeit von Ab-
schiebungshindernissen ankommt, sondern dem Integra-
tionsinteresse sowohl der Betroffenen als auch der Gesell-
schaft Vorrang vor dem Grundsatz der Aufenthaltsbeendi-
gung einzuräumen ist.

Zu Absatz 1

Satz 1 enthält die allgemeine Regelung, dass eine ausreise-
pflichtige Ausländerin oder ein ausreisepflichtiger Auslän-
der, die oder der sich zum Zeitpunkt der Entscheidung über
einen Antrag mindestens fünf Jahre lang im Bundesgebiet
aufgehalten hat, einen Anspruch auf Erteilung einer Aufent-
haltserlaubnis hat. In diesen Fällen ist die bereits erfolgte
faktische Integration in die Gesellschaft von einem so großen
Gewicht, dass für die Ausübung von Ermessen im Regelfall
kein Raum mehr bleibt. Im Fall einer früher erfolgten Aus-
weisung, die aber nicht auf dem Weg der Abschiebung durch-
gesetzt werden konnte, soll nicht mehr der Zwang zur vor-

AufenthG getroffen. Ähnliches gilt für die Fälle des § 10 Ab-
satz 3 AufenthG.

Satz 2 sieht eine Ausnahme von der Voraussetzung des fünf-
jährigen Aufenthaltes in Härtefällen vor. Beispiele für solche
Härtefälle werden in Satz 3 aufgeführt, damit ist aber keine
abschließende Definition eines Härtefalles nach dieser Vor-
schrift verbunden. Satz 3 listet Fallkonstellationen auf, in de-
nen schon bei kürzerem Aufenthalt von einer faktischen Inte-
gration in die deutsche Gesellschaft (etwa bei Familien mit
Kindern, die seit drei Jahren hier leben, oder bei unbegleite-
ten Minderjährigen) bzw. von einer Unzumutbarkeit der Aus-
reise oder gar Abschiebung (vor allem bei Opfern von Ge-
walttaten) auszugehen ist.

Zu Absatz 2

Bei Ehegatten und ledigen Kindern einer Ausländerin oder
eines Ausländers, die oder der eine Aufenthaltserlaubnis
nach Absatz 1 erhält, soll es nicht noch einmal gesondert auf
die Erfüllung der in Absatz 1 genannten Voraussetzungen
ankommen. Diese sollen vielmehr entsprechend dem Grund-
satz des Schutzes von Ehe und Familie (Artikel 6 GG, Arti-
kel 8 EMRK) sofort eine Aufenthaltserlaubnis erhalten.

Zu Absatz 3

Der Systematik des Aufenthaltsgesetzes entsprechend wird
die Zulassung zur Erwerbstätigkeit, zu der auch die selbstän-
dige Beschäftigung gehört (vgl. § 2 Absatz 2 AufenthG),
direkt im Gesetz angeordnet. Eine direkte Anordnung im
Gesetz trägt zur Vermeidung überflüssigen Verwaltungsauf-
wandes bei.

ZuNummer 6 (§ 60a)

Hiermit wird die Einschränkung der Ankündigungspflicht
der Abschiebung nach länger geduldetem Aufenthalt durch
das Gesetz zur Umsetzung asyl- und aufenthaltsrechtlicher
Richtlinien der Europäischen Union wieder rückgängig ge-
macht. Die Neuregelung soll vor allem rechtsstaatlichen Er-
fordernissen gerecht werden und unangekündigte „Überra-
schungsabschiebungen“ verhindern.

Personen, deren Abschiebung bereits länger als sechs Mona-
te ausgesetzt wurde, muss eine konkret beabsichtigte Ab-
schiebung mindestens einen Monat vorher schriftlich ange-
kündigt werden, damit die Gelegenheit besteht, zwischen-
zeitlich entstandene Abschiebungshindernisse oder andere
Gründe, die gegen eine Abschiebung sprechen, rechtzeitig
vorbringen und gegebenenfalls auch gerichtlich überprüfen
lassen zu können. Dabei kommt es nicht auf die Dauer des
formellen Besitzes einer Duldung, sondern auf die Dauer der
faktischen Aussetzung der Abschiebung an, auch nach einer
Duldung mit sechsmonatiger Dauer ist eine Abschiebungs-
ankündigung deshalb obligatorisch.

ZuNummer 7 (§ 101)

Durch ein Fortgelten der erteilten Aufenthaltserlaubnisse
nach der gesetzlichen Altfallregelung als Aufenthaltserlaub-
nisse nach § 25a werden die Mängel der gesetzlichen Altfall-
regelung behoben und eine Gleichbehandlung zwischen
herigen Ausreise nach § 11 Absatz 1 AufenthG bestehen; inso-
weit wird hier eine Regelung analog zu § 23a Absatz 1 Satz 1

Bleiberechtigten nach der Altfallregelung bzw. nach der neu-
en Bleiberechtsregelung nach § 25a hergestellt.

Deutscher Bundestag – 17. rucksache 17/1557
Wahlperiode – 7 – D

ZuNummer 8 (§§ 104a und 104b)

Die gesetzliche Altfallregelung ist zum 31. Dezember 2009
ausgelaufen, die Regelung kann deshalb gestrichen werden.
Bereits erteilte Aufenthaltserlaubnisse sollen nach § 25a wei-
tergelten.

ZuArtikel 2

Die Vorschrift regelt das Inkrafttreten des Gesetzes.

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