BT-Drucksache 17/14721

Aktuelle Fragen zum Ausmaß staatlicher und privater Videoüberwachung

Vom 6. September 2013


Deutscher Bundestag Drucksache 17/14721
17. Wahlperiode 06. 09. 2013

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Jan Korte, Ulla Jelpke, Jens Petermann,
Kathrin Senger-Schäfer, Dr. Petra Sitte, Frank Tempel, Halina Wawzyniak
und der Fraktion DIE LINKE.

Aktuelle Fragen zum Ausmaß staatlicher und privater Videoüberwachung

Wie aus einer Pressemitteilung des Bundesministeriums des Innern (BMI) her-
vorgeht, haben das Bundesministerium und die Deutsche Bahn AG (DB AG)
kürzlich eine Grundsatzvereinbarung zu Ausbau und Modernisierung der Video-
überwachung und -aufzeichnung an Bahnhöfen abgeschlossen. Demnach sollen
in den kommenden sechs Jahren „rund 36 Millionen Euro in das gemeinsame
Programm fließen. Darüber hinaus werden weitere Mittel von etwa 24 Millionen
Euro von der Bahn in die Weiterentwicklung der 3-S-Zentralen, die für Sicher-
heit, Sauberkeit und Service stehen, und damit in die Sicherheit der Bahnhöfe
investiert […]“ (Pressemitteilung des BMI vom 30. August 2013).

Jüngste Erhebungen in Bayern, Niedersachsen und Bremen zeigen, dass das
Ausmaß der Videoüberwachung in den Bundesländern stetig zunimmt. In den
meisten Ballungsgebieten gehören Kameras an öffentlichen Plätzen mittlerweile
zum Alltag. Datenschützer warnen vor einer rasanten Zunahme der Überwa-
chung vor allem im privaten Bereich, zum Beispiel in Unternehmen oder Ge-
schäften. So kommt in der Stadt Bremen mit ihren rund 550 000 Einwohnern ak-
tuell auf 5 140 Einwohner bereits eine Überwachungskamera im öffentlichen
Raum (vgl. dpa vom 17. Juli 2013). Nach einer Aufstellung der bayerischen
Staatsregierung setzten inzwischen 2 200 bayerische Kommunen auf die Video-
überwachung öffentlicher Plätze und Einrichtungen und hätten nach Angaben
des Landesdatenschutzbeauftragten Dr. Thomas Petri zurzeit 17 000 Überwa-
chungskameras im öffentlichen Raum installiert. Dr. Thomas Petri, der derzeit
im Auftrag der Staatsregierung stichprobenartig die kommunale Videoüberwa-
chung überprüft, erklärte, dass etliche kommunale Überwachungskonzepte ge-
gen Bestimmungen des Bayerischen Datenschutzgesetzes verstießen (vgl. dpa
vom 8. Juli 2013). Bereits im Jahr 2010 kam eine Studie des niedersächsischen
Landesdatenschutzbeauftragten zu dem Ergebnis, dass beim Betrieb der Über-
wachungskameras fast alle Behörden und Kommunen massiv gegen den Daten-
schutz verstoßen. Damals boten 99 Prozent von 3 345 in Niedersachsen über-
prüften Geräten Anlass zur Kritik. Auch drei Jahre später bestünden zahlreiche
Mängel fort, kritisierte kürzlich Niedersachsens oberster Datenschützer Joachim
Wahlbrink (vgl. dpa vom 17. Juli 2013).
Nach Angaben der Bundesregierung betreibt die DB AG bundesweit rund 5 700
Personenbahnhöfe, von denen derzeit 495 Bahnhöfe mit rund 3 800 Videokame-
ras ausgestattet sind, die von der Bundespolizei (mit-)genutzt werden. Dabei
würden an 141 Bahnhöfen Videobilder aufgezeichnet. Die Auswahl der
141 Bahnhöfe mit Videoaufzeichnung berücksichtige unter anderem Kriminali-
tätsraten und Anschlagsrelevanz und decke – „gemessen an den Reisendenzah-
len der jeweiligen Bahnhöfe – bereits einen großen Teil des Reiseverkehrs über

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die Bahnanlagen der Eisenbahnen des Bundes ab“ (Antwort der Bundesregie-
rung auf die Kleine Anfrage der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Bun-
destagsdrucksache 17/12318). Wenngleich die Bundesregierung eine „Auswei-
tung der Videoüberwachung und Videoaufzeichnung auf alle Bahnhöfe der
Eisenbahnen des Bundes“ derzeit „mit Blick auf polizeifachliche Überlegungen,
aber auch aufgrund haushalterischer und datenschutzrechtlicher Aspekte“ für
„nicht angezeigt“ hält, arbeiten Bundespolizei und DB AG seit Jahren an Kon-
zeptpapieren zu einer Ausweitung der Videoüberwachung von Bahnhöfen und
in Zügen. Der in der „BILD Zeitung“ vom 19. Dezember 2012 erwähnte bislang
geheim gehaltene interne Bericht der Bundespolizei, wonach die Ausstattung al-
ler deutschen Bahnhöfe mit Videoaufzeichnung „mehrere Milliarden Euro“ kos-
ten würde, sei nach Angaben der Bundesregierung „ein inzwischen überholtes
polizeifachliches Konzeptpapier der Bundespolizei aus dem Jahr 2007“, aus
dem mittlerweile einzelne Vorschläge „umgesetzt und konkrete Maßnahmen an
ausgewählten Schwerpunktbahnhöfen veranlasst“ worden seien (Bundestags-
drucksache 17/12318). Laut BMI soll die Installation der neuen Videotechnik
von der Bundespolizei und der DB AG gemeinsam geplant werden: „Die kon-
krete Umsetzung des Programms erarbeiten DB und Bundespolizei in den kom-
menden Monaten gemeinsam. Die dafür infrage kommenden Bahnhöfe werden
derzeit gemeinsam anhand polizeilicher und bahnbetrieblicher Kriterien ausge-
wählt und anschließend priorisiert und projektiert“ (Pressemitteilung des BMI
vom 30. August 2013). Anzunehmen ist, dass dabei aufgrund einer Gefähr-
dungsanalyse der Bundespolizei, die alle Bahnhöfe in die Risikoklassen 1 bis 4
einstuft, vorgegangen wird. Um ein möglichst präzises Bild von der tatsächli-
chen Praxis und den darauf aufbauenden Ausbauplänen zu bekommen, sind eine
ganze Reihe von Nachfragen zur letzten, nach Auffassung der Fragesteller in
Teilen unzulänglich beantworteten Kleinen Anfrage der Fraktion DIE LINKE.
auf Bundestagsdrucksache 17/13071 notwendig.

Die parlamentarische und öffentliche Bewertung sowohl der aktuellen Praxis
der Videoüberwachung als auch der immer wieder bekannt werdenden Pläne
oder gezielten Ankündigung zur Ausweitung und Intensivierung solcher Maß-
nahmen wird darüber hinaus bisher auch erschwert oder sogar unmöglich ge-
macht durch die Auskunftsverweigerung der Bundesregierung. So will sie bis-
her Zahlen zur Verteilung der Überwachungsmaßnahmen auf die Länder nur in
der Geheimschutzstelle und damit für öffentliche Diskussionen unbrauchbar be-
kanntgeben. Begründung: eine Veröffentlichung hätte Auswirkungen auf die
Planbarkeit und Vorhersehbarkeit polizeilichen Handelns und würde so das
Staatswohl gefährden (Bundestagsdrucksache 17/2750).

Wir fragen die Bundesregierung:

Risikoklassen

1. Stimmt die Annahme, wonach die Bundespolizei bei der Beurteilung des
„Gefährdungspotentials“ von Bahnhöfen diese in vier unterschiedliche Risi-
koklassen einstuft?

2. Nach welchen Kriterien wird die Einstufung eines Bahnhofs in eine der Risi-
koklassen vorgenommen?

3. In welcher Form (Richtlinie, Weisung o. Ä.) sind diese Richtlinien manifes-
tiert und nachvollziehbar?

4. Durch wen und wann wurden Klassifizierung und Klassifizierungskriterien
entwickelt und festgelegt?

5. Welche Bahnhöfe sind jeweils in welche Risikoklasse eingestuft?
6. Wo lässt sich die Begründung für die jeweiligen Einstufungen nachvollzie-
hen?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/14721

7. Wird die Einstufung in Risikoklassen evaluiert bzw. einer Neubewertung
unterzogen?

Wenn ja, wer führt die Evaluation in welchen zeitlichen Abständen durch?

Wenn nein, warum nicht?

8. In welchem Umfang ist der Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die
Informationsfreiheit in dieses System der Risikoklasseneinstufungen (mit
den entsprechenden Konsequenzen der Einführung und Fortführung von Vi-
deoüberwachungsanlagen) eingebunden worden?

9. Wie häufig und in welchen Zusammenhängen wurden aufgrund von Über-
prüfungen der Einstufungen Bahnhöfe in eine niedrigere Risikoklasse ein-
gestuft?

10. In wie vielen dieser Fälle hat das zu einem Abbau bzw. einer Reduzierung
des Umfangs von Videoüberwachungsmaßnahmen geführt?

Ausstattung deutscher Bahnhöfe mit mehr Videoüberwachungstechnik

11. Welche deutschen Bahnhöfe sind von der angekündigten Ausweitung von
Videoüberwachung an diesen Orten im Einzelnen konkret betroffen?

12. Wie viele neue Kameras sollen nach aktuellem Stand der Planungen ange-
schafft werden (bitte nach Orten und Datum der vollzogenen bzw. geplanten
Installation auflisten)?

13. Wie hoch sind die Kosten für die Anschaffung neuer Videoüberwachungs-
kameras und für die dazugehörige Infrastruktur in diesem Zusammenhang
veranschlagt (bitte für jeden Ort aufschlüsseln)?

14. Durch wen bzw. welche Kostenstelle werden die Kosten für die Anschaf-
fung von Kameras samt Infrastruktur getragen?

15. Wer wird für den technischen Betrieb dieser neuen Überwachungskameras
jeweils zuständig sein?

16. Wie hoch sind die erwarteten zusätzlichen Betriebskosten für die in diesem
Rahmen neu angeschaffte Videoüberwachungstechnik?

17. Wer wird diese Betriebskosten nach derzeitigem Stand der Dinge tragen?

18. Wird in diesem Zusammenhang mittlerweile über die Anschaffung, den
Betrieb oder die Ausweitung von Videoüberwachungssystemen mit verhal-
tensauswertenden oder -erkennenden Fähigkeiten nachgedacht?

19. In welchem Umfang ist die von der Bundespolizei verantwortete oder mit-
genutzte Videoüberwachungstechnik bereits heute (und unabhängig von der
geplanten Ausweitung von Videoüberwachungsanlagen an Bahnhöfen) mit
Bilderkennungs- und/oder Videoüberwachungsauswertungssystemen ausge-
stattet, die Merkmale oder Anteile einer Verhaltensauswertung oder -erken-
nung beinhalten?

20. Betreibt die Bundespolizei (an Bahnhöfen oder anderswo) neben Video-
überwachungs- auch Audioüberwachungsanlagen?

Wenn ja, in welchem Umfang, wo, in welchen Zusammenhängen, und auf-
grund welcher Rechtsgrundlage?

Drucksache 17/14721 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
Nachfragen zur Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage „Ausmaß
staatlicher und privater Videoüberwachung“ (Bundestagsdrucksache 17/13071)

21. Wie steht die Bundesregierung zur Einführung und Verankerung erweiterter
Sanktionsmöglichkeiten in das Bundesdatenschutzgesetz (Nachfrage zur
Antwort der Bundesregierung zu Frage 4)?

22. Wie erklärt die Bundesregierung ihre Antwort zu Frage 10, dass es in
Deutschland mit Absehen von Tunnelabschnitten keine dauerhafte Video-
überwachung von Autobahnen gäbe vor dem Hintergrund, dass es nach
Informationen der Fragesteller entlang eines mehrere Kilometer langen
Abschnitts der A 7 nördlich vom Autobahndreieck Walsrode eine flächen-
deckend angebrachte Installation von Videoüberwachungsanlagen gibt,
oder dass nach Informationen der Fragesteller in Bayern zum Teil stationär
installierte Anlagen zum Scanning von Kfz-Kennzeichen genutzt werden,
und welche weiteren Fälle sind der Bundesregierung mittlerweile bekannt
geworden?

23. Wieso unterstützt die Bundesregierung mittels nationaler Forschungspro-
gramme Videoüberwachungssysteme mit der Fähigkeit zur Identifizierung
von Menschen und/oder zur Verhaltenserkennung oder -analyse von Men-
schen, wenn es – wie geantwortet – keine Überlegungen zum Einsatz dieser
Technik gibt (Nachfrage auf die Antworten der Bundesregierung zu den
Fragen 11 und 12)?

24. Wie kann die Bundesregierung, angesichts ihrer Unkenntnis über die Kos-
ten der von ihr verantworteten Videoüberwachungsmaßnahmen, fehlender
Informationen zu Zugriffen der Strafverfolgungs- oder Ermittlungsbehör-
den auf deren Bilder und Daten und, wie oft diese Videoüberwachungsanla-
gen zur Durchführung von Ermittlungs- oder Strafverfahren bzw., wie oft
die Anlagen konkret zur Verurteilung von Straftätern beigetragen haben, be-
haupten, diese Videoüberwachungsmaßnamen seien notwendig, nützlich
und verhältnismäßig (bitte begründen, Nachfrage auf die Antworten der
Bundesregierung zu den Fragen 14, 16, 18 und 19)?

25. Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass sich eine statistisch erfass-
bare „wesentliche“ Kausalität zwischen einer Videoüberwachungsmaß-
nahme und der Verhinderung einer Straftat bzw. der Aufdeckung einer ter-
roristischen Aktivität nicht nachweisen lässt?

Wenn ja, wie gedenkt sie, dies der Öffentlichkeit mitzuteilen, und welchen
Einfluss wird dies auf künftige Verlautbarungen zu Nutzen und Verhältnis-
mäßigkeit von Videoüberwachungsmaßnahmen haben?

Wenn nein, warum nicht, und in welchen Fällen war dies nach Auffassung
der Bundesregierung jeweils aus welchen Gründen der Fall?

Berlin, den 6. September 2013

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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