BT-Drucksache 17/146

Zusätzliche private Absicherung des Erwerbsminderungsrisikos

Vom 2. Dezember 2009


Deutscher Bundestag Drucksache 17/146
17. Wahlperiode 02. 12. 2009

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Klaus Ernst, Heidrun Dittrich,
Diana Golze, Katja Kipping, Jutta Krellmann, Cornelia Möhring, Jörn Wunderlich,
Sabine Zimmermann und der Fraktion DIE LINKE.

Zusätzliche private Absicherung des Erwerbsminderungsrisikos

Laut Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP will die neue Bundes-
regierung prüfen, „ob und wie die Absicherung gegen das Erwerbsminderungs-
risiko in der staatlich geförderten Vorsorge kostenneutral verbessert werden
kann“.

Bis 2000 war das Risiko der Erwerbsminderung in der gesetzlichen Rentenver-
sicherung – GRV – weitgehend abgesichert. Private Zusatzvorsorge war nicht
notwendig. Der Aufbau einer privaten Altersvorsorge wurde nötig, um den von
rot-grün beschlossenen Leistungsabbau in der GRV zu kompensieren. Dieser
reduziert auch die Leistung bei Erwerbsminderung. Wie bei der Altersvorsorge
wird nun auch erwogen, das Risiko der Erwerbsminderung zusätzlich privat
abzusichern. Dies soll allerdings „kostenneutral“ erfolgen, so dass sich die
Frage stellt, welchen Nachteil die Versicherten durch die zusätzliche Risiko-
absicherung entweder im Beitrags- oder im Leistungsbereich haben.

Des Weiteren stellt sich die Frage, welche zusätzlichen Risiken und Kosten sich
für die Versicherten allein daraus ergeben, dass die zusätzliche Absicherung des
Erwerbsminderungsrisikos über ein Kapital gedecktes System erfolgt. Die
internationale Finanzmarktkrise hat einmal mehr gezeigt, dass private Kapital-
märkte gravierende Unsicherheiten in sich bergen, die zu hohen Verlusten füh-
ren können. Private Vorsorge ist zudem kostenträchtiger, da im Gegensatz zum
gesetzlichen Umlagesystem auch die Gewinne der Versicherungsindustrie
finanziert werden müssen.

Die anhaltende Debatte um die Rentabilität der Riester-Renten hat gezeigt, dass
sich diese Produkte häufig nur aufgrund der staatlichen Zulagen überhaupt
noch rentieren (vgl. Bundestagsdrucksachen 16/10501, 16/11103 und 16/12774).
Hierbei stellt sich die Frage, inwiefern die Höhe der privaten Altersvorsorge
durch die zusätzliche Absicherung des Erwerbsminderungsrisikos negativ be-
einflusst wird. Es ergibt sich dann die Gefahr, dass das Gesamtrentenniveau aus
gesetzlicher und privater Vorsorge weiter sinken wird.

Bei der Absicherung gegen Erwerbsminderung stellen sich darüber hinaus

weitere Fragen. So ist der Beitrag zu Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsversiche-
rungen in der privaten Versicherungsbranche regelmäßig von Alter, Beruf oder
Gesundheitszustand abhängig. Anders als in der gesetzlichen Rentenversiche-
rung findet also eine individuelle Risikoprüfung und Prämienberechnung statt.
Auch besteht üblicherweise kein Kontrahierungszwang, so dass die Versiche-
rung einzelne Kunden und Kundinnen auch ablehnen könnte. Es gäbe also Per-
sonen, die eine Versicherung entweder nur zu sehr hohen Beiträgen oder über-

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haupt nicht abschließen könnten. Hier ist also zu klären, wie das Risiko der
Erwerbsminderung in die bestehenden privaten Vorsorgeprodukte integriert
werden soll.

Ingo Nürnberger (DGB) kommt in der Zeitschrift „Soziale Sicherheit“ 3/2009
weitgehend aus den genannten Gründen zu folgendem Schluss: „Da eine
flächendeckende und solidarische Lösung über die zweite und dritte Säule aus
meiner Sicht realistisch gesehen nicht erreicht werden kann, sind Lösungen in
der gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) zu suchen.“

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Hat die Bundesregierung bereits begonnen, den Prüfauftrag aus dem Koali-
tionsvertrag umzusetzen?

Wenn ja, welches Ministerium ist hierfür zuständig?

2. Bis wann soll der im Koalitionsvertrag festgelegte Prüfauftrag beendet
sein?

Wann wird die Öffentlichkeit über den vollständigen Inhalt und insbeson-
dere die Ergebnisse dieses Auftrages informiert?

3. Besteht aus Sicht der Bundesregierung die Notwendigkeit zu prüfen, ob
und wie das Risiko der Erwerbsminderung im Rahmen der geförderten pri-
vaten Vorsorge verbessert werden kann?

Aus welchem Grund ist diese Prüfung aus Sicht der Bundesregierung not-
wendig?

4. Wieso wird der Prüfauftrag darauf beschränkt, Verbesserungen bei der Ab-
sicherung gegen das Erwerbsminderungsrisiko über private Versicherun-
gen zu regeln?

Wieso beinhaltet der Prüfauftrag nicht auch Optionen zur Verbesserung in-
nerhalb der gesetzlichen Rentenversicherung?

5. Wieso wird der Prüfauftrag zusätzlich auf die bereits bestehende staatlich
geförderte Vorsorge begrenzt?

6. Was erwartet sich die Bundesregierung davon, die Prüfung auf „kostenneu-
trale“ Möglichkeiten zu beschränken?

7. Wie und für wen soll die „Absicherung gegen das Risiko der Erwerbsmin-
derungsrisiko“ kostenneutral umgesetzt werden?

Für wen wären die avisierten Verbesserungen tendenziell mit Mehrkosten
oder geringerer Leistung verbunden, und für wen mit tendenziell geringen
Kosten oder höheren Leistungen (bitte auch nach Geschlecht, Einkommen
und höchstem Bildungsabschluss differenzieren)?

8. Würde nach Auffassung der Bundesregierung die Absicherung des Risikos
der Erwerbsminderung im Rahmen der staatlich geförderten Vorsorge leis-
tungs- oder beitragsorientiert erfolgen müssen (bitte begründen)?

9. Wie hoch wäre der durchschnittlich erforderliche Beitrag für eine private
Erwerbsminderungsversicherung, die die Leistungsrückgänge in der GRV
seit dem Jahr 2000 (u. a. Einführung von Abschlägen und Senkung des
allgemeinen Rentenniveaus) für Personen, die vor dem 60. Lebensjahr
erwerbsgemindert werden, kompensieren würde, wenn die Versicherungen
keine individuelle Risikoprüfung durchführen würden?

10. Wie hoch läge das notwendige Leistungsniveau (in Prozent des erwerbsle-
bensdurchschnittlichen Einkommens) der zusätzlichen privaten Absiche-

rung in den Jahren 2010, 2015, 2020 und 2030, wenn zusammen mit der

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gesetzlichen Erwerbsminderungsrente in dem jeweiligen Jahr ein Niveau
erreicht werden soll, welches demjenigen Leistungsniveau der GRV aus
dem Jahr 2000 entspricht?

11. Welche Auswirkungen auf die bisherigen Annahmen der Bundesregierung
bei Riester-Rentenverträgen, unter anderem eine Rendite von 4 Prozent,
hätte eine kostenneutrale Absicherung des Erwerbsminderungsrisikos in-
nerhalb dieser geförderten Vorsorgeprodukte (bitte begründen)?

12. Würde die Bundesregierung die Auffassung teilen, dass, sofern weder die
Beiträge noch die staatlichen Zuschüsse zur staatlich geförderten Vorsorge
erhöht werden würden, eine zusätzliche Absicherung gegen das Risiko der
Erwerbsminderung innerhalb der staatlich geförderten privaten Altersvor-
sorgeprodukte (beispielsweise Riester-Renten) die zu erwartende Alters-
rente aus diesen Produkten verglichen mit der Variante ohne zusätzliche
Absicherung des Erwerbsminderungsrisikos sinken würde?

13. Wie hoch schätzt die Bundesregierung den gesamten finanziellen Aufwand
(Kalkulation, Rückversicherung, Werbung etc.) für die Versicherung ein,
der direkt und indirekt durch die zusätzliche Aufnahme der Absicherung
gegen das Erwerbsminderungsrisiko in die staatlich geförderten Vorsorge-
produkte entsteht?

Wie sähe dieser Aufwand bei klassischen Rentenversicherungen, bei
Fondssparplänen, bei fondsgebundenen Rentenversicherungen sowie bei
Banksparplänen aus?

14. Welche Berufsgruppen schließen nach Kenntnis der Bundesregierung über-
durchschnittlich häufig private Erwerbs- oder Berufsunfähigkeitsversiche-
rungen ab, und welche Gründe sind der Bundesregierung hierzu bekannt?

15. Welche Unterschiede bestehen bei privaten Erwerbsminderungs- und Be-
rufsunfähigkeitsrenten zwischen den Verträgen in Abhängigkeit vom Ge-
schlecht (Abschlussquoten, Prämienhöhe, Leistungsumfang, Kündigung
etc.), und wie gestaltet sich hierbei der Vergleich zur gesetzlichen Renten-
versicherung?

16. Welche Einkommensstruktur verglichen mit den Versicherten der GRV ha-
ben die Personen, die eine private Erwerbsunfähigkeitsversicherung abge-
schlossen haben (mit und ohne Selbstständige und Beamte)?

17. Welche Möglichkeiten stehen Personen mit einem anerkannten Grad der
Behinderung von 50 Prozent oder höher tatsächlich offen, sich privat gegen
Erwerbsunfähigkeit zu versichern?

Wenn sie eine Versicherung abschließen würden, wie hoch läge die durch-
schnittliche Prämie bei einer vereinbarten Erwerbsunfähigkeitsrente von
500 Euro und von 1 000 Euro bei einer Person im Alter von 20, 30, 40 und
50 Jahren?

18. Gibt es nach Kenntnis der Bundesregierung Berufsgruppen, die kaum oder
gar keine private Versicherung gegen Erwerbs- (oder Berufs-)unfähigkeit
abschließen, und wenn ja, welche Gruppen sind dies?

Wie hoch ist die durchschnittliche Prämie für diese Berufsgruppen, wenn
sie solche Verträge abschließen/abschließen würden?

19. Zieht die Bundesregierung in Erwägung, alle rentenversicherungspflichtig
Beschäftigten zum Abschluss einer privaten ergänzenden Erwerbsminde-
rungs- und/oder Berufsunfähigkeitsversicherung zu zwingen?

Wenn ja, wie soll dies ausgestaltet werden?
20. Würde die Bundesregierung die Auffassung teilen, dass bei einer freiwilli-
gen zusätzlichen privaten Absicherung des Erwerbsminderungsrisikos da-

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mit zu rechnen sei, dass Personengruppen mit einem besonderen Erwerbs-
minderungsrisiko bevorzugt solche Versicherungen abschließen würden
(bitte begründen)?

21. Wäre es nach Auffassung der Bundesregierung als Ausgleich für die Leis-
tungseinschnitte bei der gesetzlichen Erwerbsminderungsrente geboten,
dass die Beiträge zur privaten ergänzenden Absicherung der Erwerbsmin-
derung risikounabhängig berechnet werden, ähnlich wie bei den staatlich
geförderten Riester-Renten (bitte begründen)?

Wäre es ferner sinnvoll, eine Risikoprüfung vor Vertragsabschluss auszu-
schließen (bitte begründen)?

22. Wäre es nach Auffassung der Bundesregierung als Ausgleich für die Leis-
tungseinschnitte bei der gesetzlichen Erwerbsminderungsrente sinnvoll,
dass für die private ergänzende Absicherung der Erwerbsminderung ein
Kontrahierungszwang für die Versicherungen eingeführt wird (bitte be-
gründen)?

23. Wäre es nach Auffassung der Bundesregierung als Ausgleich für die Leis-
tungseinschnitte bei der gesetzlichen Erwerbsminderungsrente geboten,
dass die private ergänzende Absicherung der Erwerbsminderung verpflich-
tend wäre (bitte begründen)?

24. Was spräche nach Auffassung der Bundesregierung dagegen, zumindest
sofern sie dazu aufruft oder gar den Abschluss einer die Leistung der ge-
setzlichen Rentenversicherung ergänzenden privaten Versicherung gegen
das Erwerbsminderungsrisiko abzuschließen obligatorisch macht, dass die
privaten Versicherungsträger und die gesetzliche Rentenversicherung eine
gemeinsame Entscheidung über die Anerkennung der Erwerbsminderung
träfen, die dann selbstverständlich bindend wäre, um zu vermeiden, dass
Versicherte im Zweifelsfalle nur von einem der Träger eine Erwerbsminde-
rungsrente ausgezahlt bekäme, die dann voraussichtlich nicht Existenz si-
chernd sein dürfte?

Wäre es angesichts der bereits etablierten Praxis dann nicht am tauglichs-
ten, die privaten Versicherungen an die ohne hin durchzuführende Prüfung
und Entscheidung der gesetzlichen Rentenversicherung zu binden?

25. Müssten nach Auffassung der Bundesregierung bei einer Pflicht, eine er-
gänzende private Erwerbsminderungsversicherung abzuschließen, Be-
standteil dieser Versicherungen auch Leistungen zur Rehabilitation und
Wiedereingliederung sein, und inwiefern müssten diese mit den Leistungen
und Angeboten der gesetzlichen Rentenversicherung abgestimmt sein?

26. Plant die Bundesregierung als Ausgleich für das bereits gesunkene und
weiter sinkende Leistungsniveau der gesetzlichen Rentenversicherung
auch bei Erwerbsminderungsrenten eine Pflicht zum Abschluss einer priva-
ten Erwerbsminderungsrente, und müsste diese aus rationalen Erwägungen
nicht sowohl risikounabhängig ausgestaltete Prämienzahlungen, einen
Kontrahierungszwang für die Versicherungen als auch an die Entscheidung
der Rentenversicherung gebundene Leistungsgewährung beinhalten (bitte
begründen)?

Wäre es dann nach Auffassung der Bundesregierung nicht effizienter, diese
Absicherung gleich in der gesetzlichen Rentenversicherung zu gewährleis-
ten, da so weder ein weiterer Verwaltungsapparat (der der privaten Ver-
sicherungen) noch ein die Rendite schmälerndes Gewinninteresse die Bei-
träge zum Nachteil der Versicherten unnötig in die Höhe treiben würden?

27. Schließt die Bundesregierung aus den Aussagen im Koalitionsvertrag der

CDU, CSU und FDP, dass zukünftig alle Versicherten gezwungen werden

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könnten, im Rahmen ihrer Riester-Renten und/oder ihrer Betriebsrenten
nicht nur eine Altersvorsorge zu betreiben, sondern zusätzlich auch noch
das Risiko der Erwerbsminderung abzusichern?

Welche Konsequenzen ergeben sich hierbei für die Absicherung der Per-
sonen im Falle einer Erwerbsminderung aus der Tatsache, dass der
Abschluss einer Erwerbsminderungsversicherung im Rahmen einer frei-
willigen (Alters-)Vorsorge verpflichtend sein soll?

28. Kann aus dem Wort „kostenneutral“ geschlossen werden, dass für die zu-
sätzliche Vorsorge keine zusätzlichen Beiträge erhoben und/oder zusätz-
lichen Zuschüsse vom Staat gezahlt werden sollen, und hätte dies zur
Folge, dass die individuell zu erwartende monatliche Rentenzahlung im
Alter deutlich niedriger ausfallen dürfte?

29. Ist es aus Sicht der Bundesregierung volkswirtschaftlich sinnvoll, eine ob-
ligatorische und umfassende Lebensstandard sichernde Versicherung gegen
Erwerbsunfähigkeit, unter anderem zur besseren Risikostreuung und zum
solidarischen Ausgleich, kollektivvertraglich in einer gesetzlichen Ver-
sicherung zu verankern (bitte begründen und angeben auf welche makro-
ökonomische Theorie und empirische Belege sich die Bundesregierung
hierbei stützt)?

30. Welche Einnahmen aus Beiträgen, Gebühren, Provisionen und aus der
Überschussbeteiligung (wenn von dieser 30 Prozent bei der Versicherung
verbleiben) erwartet die Bundesregierung für die privaten Versicherungs-
unternehmen und -makler bis zum Jahr 2030, wenn eine, die gesetzliche
Rentenversicherung ergänzende, private Absicherung des Erwerbsminde-
rungsrisikos für alle rentenversicherungspflichtig Beschäftigten ab dem
1. Januar 2011 obligatorisch werden würde?

Berlin, den 2. Dezember 2009

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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