BT-Drucksache 17/14368

Arbeitsbedingungen und Arbeitsbelastungen im Einzelhandel

Vom 11. Juli 2013


Deutscher Bundestag Drucksache 17/14368
17. Wahlperiode 11. 07. 2013

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Sabine Zimmermann, Jutta Krellmann, Diana Golze,
Matthias W. Birkwald, Heidrun Dittrich, Werner Dreibus, Klaus Ernst,
Katja Kipping, Yvonne Ploetz, Harald Weinberg, Jörn Wunderlich
und der Fraktion DIE LINKE.

Arbeitsbedingungen und Arbeitsbelastungen im Einzelhandel

Kürzlich teilte die Bundesregierung mit, dass drei von zehn Beschäftigten im
Einzelhandel zu einem Niedriglohn arbeiten und die Löhne im Handel insge-
samt mit jährlich 1,5 Mrd. Euro ergänzenden Hartz-IV-Leistungen aufgestockt
werden (vgl. Bundestagsdrucksache 17/13647). In der öffentlichen Debatte wird
häufig übersehen, dass – neben der oft schlechten Bezahlung – die Beschäftigten
mit erschwerten Arbeitsbedingungen und -belastungen konfrontiert sind. In den
vergangenen Jahren wurden die Ladenöffnungszeiten immer mehr ausgedehnt
und mit ihnen die Arbeitszeiten am Abend, am Wochenende und an Feiertagen.
Dazu wurde die Arbeitszeit immer mehr flexibilisiert. Viele Beschäftigte arbei-
ten mit geringen Stundenkontingenten „auf Abruf“, müssen ihr privates Leben
komplett den Erfordernissen der Unternehmen unterordnen.

Spricht man mit Beschäftigten und ihren Interessensvertretungen wird deutlich:
die Arbeit der Beschäftigten, ihre besondere Belastung wird in der Öffentlichkeit
kaum wertgeschätzt. Nun wollen die Arbeitgeber des Einzelhandels mit der Kün-
digung der Manteltarifverträge die Arbeitszeit noch stärker als bisher flexibili-
sieren und Zuschläge für Spät-, Wochenend- und Feiertagsarbeit streichen. Be-
triebsräte, die sich für familien- und gesundheitsfreundliche Arbeitszeitregelun-
gen einsetzen, werden von Unternehmensleitungen unter Druck gesetzt. Beson-
ders drastisch geht derzeit der Modekonzern „H&M“ vor, der wiederholt
versucht, einen engagierten Betriebsrat aus Trier zu kündigen (www.einzelhandel.
verdi.de/unternehmen/hennes_mauritz/). Dabei ist bekannt, dass es dort, wo
keine Betriebsräte auf die Überwachung von Arbeitsschutzgesetze achten, diese
oft nicht eingehalten werden und es zu einer verstärkten Belastung der Beschäf-
tigten kommt.

Es stellt sich die Frage, welche Erkenntnisse die Bundesregierung zu den Ar-
beitsbelastungen im Einzelhandel hat, und was sie tun kann und will, um darauf
im Sinne der Beschäftigten Einfluss zu nehmen sowie die Beschäftigten und
ihre betrieblichen Interessensvertretungen in ihren Bemühungen um bessere
Arbeitsbedingungen zu unterstützen.
Im Folgenden wird in der Regel nach der Situation im Einzelhandel gefragt.
Soweit dazu keine Zahlen bzw. Erkenntnisse vorliegen, bitte entsprechend mit
Daten für den gesamten Handel antworten.

Drucksache 17/14368 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über besondere Arbeitsbe-
lastungen im Einzelhandel, und inwiefern ergibt sich daraus ein besonderer
politischer Handlungsbedarf?

2. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über die Zunahme von
psychischen Belastungen bei der Arbeit im Bereich des Einzelhandels?

3. Inwiefern erfährt nach Ansicht der Bundesregierung die Arbeit der Be-
schäftigten im Einzelhandel in der Öffentlichkeit genug Wertschätzung,
und inwiefern ist es nach ihrer Ansicht notwendig, mehr für die Aufwer-
tung dieses Berufes zu tun?

Plant die Bundesregierung dazu konkrete Maßnahmen?

4. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung darüber, wie die Beschäftig-
ten im Einzelhandel ihre Arbeitsbedingungen beurteilen (bitte soweit mög-
lich entsprechende Studien, Befragungen usw. benennen)?

5. Inwiefern sind die Beschäftigten im Einzelhandel im besonderen Maße
psychischen Anforderungen aus Arbeitsinhalt und -organisation ausgesetzt,
wie etwa häufigen eintönigen Arbeiten oder starkem Arbeitsdruck bzw.
- stress (soweit vorhanden bitte entsprechende Zahlen nennen)?

6. Welche Erkenntnisse gibt es darüber, welche Handlungsspielräume die Be-
schäftigten des Einzelhandels bei der Gestaltung ihrer Arbeitsabläufe und
ihrer zu erledigenden Arbeitsmenge haben, und wie stellt sich diesbezüg-
lich ihre Situation gegenüber Beschäftigen anderer Branchen bzw. den Be-
schäftigten insgesamt dar?

7. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über die gesundheitlichen
Folgen für die Beschäftigten durch Stress und besondere Arbeitsbelastun-
gen im Einzelhandel?

8. Wie häufig wurden nach Kenntnis der Bundesregierung in den vergangenen
zehn Jahren in Einzelhandelsbetrieben Gefährdungsbeurteilungen durch-
geführt, und wie oft in der Gesamtwirtschaft (bitte jeweils jährlich absolute
und prozentuale Zahlen nennen)?

Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über die Ergebnisse dieser
Gefährdungsbeurteilungen, und wie häufig wurden Veränderungen am Ar-
beitsplatz vorgenommen?

9. Wie hat sich nach Kenntnis der Bundesregierung von 2001 bis 2012 die
Zahl der Arbeitsunfähigkeitstage (AU-Tage) im Einzelhandel entwickelt
(bitte jeweils jährlich angeben)?

Wie hoch ist die absolute Zahl und der relative Anteil der AU-Tage, die auf
Stress und besondere psychische Belastungen zurückgehen?

Wie lauten die entsprechenden Zahlen für die Berufsgruppe der Verkäufe-
rinnen und Verkäufer?

10. Welche Besonderheiten für die Betroffenheit von Arbeitsunfähigkeit im
Einzelhandel ergeben sich bezogen auf Geschlecht, Alter, Einkommen und
Arbeitsplatzunsicherheit?

11. Wie haben sich in den zurückliegenden 20 Jahren aus dem Bereich Einzel-
handel die Zugänge in Erwerbsminderungsrenten entwickelt (bitte in sinn-
vollen Jahreschritten absolute und relative Zahlen nennen)?

Inwiefern ist die Erwerbsunfähigkeit auf körperliche und psychische Er-
krankungen am Arbeitsplatz zurückzuführen (wenn vorhanden, bitte je-

weils entsprechende absolute Zahlen und Anteile nennen)?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/14368

12. Wie stellt sich die Altersstruktur der Erwerbsminderungsrentnerinnen und
-rentner dar, die vormals im Einzelhandel beschäftigt waren?

Wie hoch ist das durchschnittliche Eintrittsalter in die Erwerbsminderungs-
rente von vormals im Einzelhandel Beschäftigten?

13. Wie hoch ist die durchschnittliche volle Erwerbsminderungsrente von Be-
schäftigten aus dem Einzelhandel, und wie hoch ist die allgemeine Alters-
rente von vormals im Einzelhandel beschäftigten Menschen?

Welche entsprechenden Zahlen gibt es für die Berufsgruppe der Verkäufe-
rinnen und Verkäufer?

Welche Vergleichswerte gibt es für Erwerbsminderungsrenten und Alters-
renten über alle Beschäftigten hinweg?

14. Wie hoch sind die Ausgaben für Erwerbsminderungsrenten, die in den zu-
rückliegenden zehn Jahren durch die Sozialversicherungen und Steuergel-
der getätigt wurden insgesamt und für den Bereich des Einzelhandels (bitte
jeweils die Ausgaben für die einzelnen Jahre von 2002 bis 2012 nennen)?

15. Wie hoch ist die Zahl und der Anteil der Beschäftigten aus dem Einzelhan-
del und insgesamt, die regulär in Altersrente gehen, wie hoch ist die Zahl
und der Anteil derjenigen, die mit Abschlägen in Rente gehen (bitte entspre-
chende Jahreszahlen für die zurückliegenden zehn Jahre nennen)?

16. In welchem Durchschnittsalter gehen Beschäftigte aus dem Einzelhandel in
Altersrente?

Wie lauten die entsprechenden Vergleichswerte über die Beschäftigten aller
Branchen hinweg?

17. In welchem Durchschnittsalter gehen Beschäftigte aus dem Einzelhandel in
Rente, zieht man sowohl die Altersrente als auch die Erwerbsminderungs-
rente heran?

Wie lauten die entsprechenden Vergleichswerte über die Beschäftigten aller
Branchen hinweg?

18. Wie haben sich nach Kenntnis der Bundesregierung die atypischen Arbeits-
zeiten im Einzelhandel innerhalb der vergangen 20 Jahre verändert (bitte für
jedes Jahr entsprechende absolute und relative Vergleichszahlen zu den Be-
schäftigungsverhältnissen mit den verschiedenen atypischen Arbeitszeiten
wie Wochenend-, Spät-, Nacht- und Feiertagsarbeit nennen)?

Welche Erkenntnisse gibt es über die Entwicklung überlanger Arbeitszei-
ten im Einzelhandel?

19. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über das Problem der unbe-
zahlten Mehrarbeit im Handel, etwa als Vor- oder Nachbereitungszeit einer
Arbeitsschicht?

Wie hat sich in den vergangen zehn Jahren der Umfang der unbezahlten
Überstunden im Handel verändert (wenn möglich insgesamt und je Be-
schäftigten ausweisen)?

20. Wie hat sich nach Kenntnis der Bundesregierung der Anteil atypischer
Arbeitszeiten am gesamten Arbeitsvolumen im Einzelhandel in den zurück-
liegenden 20 Jahren geändert (wenn möglich bitte jährlich absolute und
relative Zahlen nennen)?

21. Kennt die Bundesregierung die Initiative „Allianz für den freien Sonntag“,
und inwiefern teilt sie die von dieser Initiative erhobenen Forderungen
(vgl. http://allianz-fuer-den-freien-sonntag.de/grundsatzerklaerung.pdf)?
Wie will sie gegebenfalls unterstützend tätig werden oder ist sie es bereits?

Drucksache 17/14368 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

22. Wie haben sich nach Kenntnis der Bundesregierung die Ladenöffnungszei-
ten, seitdem sie 2006 in die Verantwortung der Bundesländer übertragen
wurden, entwickelt (bitte nach jeweiligen Bundesländer mit Stand 2006
und 2013 aufgliedern)?

Welche Schlussfolgerungen und Konsequenzen zieht die Bundesregierung
aus dieser Entwicklung, und inwiefern hat hier nach ihrer Ansicht ein
Überbietungswettlauf stattgefunden oder findet statt, der gesellschaftlich
nicht wünschenswert ist?

Welche Möglichkeiten gibt es, die Gesetzgebungskompetenz wieder in die
Bundesverantwortung zurückzuholen?

23. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über Gewalt und Raubüber-
fälle am Arbeitsplatz infolge der verlängerten Ladenöffnungszeiten am
Abend?

Welche Zahlen zu Raubüberfällen im Einzelhandel und Verletzungen der
Beschäftigten liegen der Bundesregierung vor?

Welchen politischen Handlungsbedarf sieht sie hier, um einer Gefährdung
der Beschäftigten entgegenzutreten?

24. Wie bewertet die Bundesregierung aus gesundheitlicher Sicht und aus
Sicht der Familienfreundlichkeit den Trend zunehmender atypischer
Arbeitszeiten im Einzelhandel und darüber hinaus in anderen Branchen?

25. Ist nach Ansicht der Bundesregierung eine Ausdehnung der Arbeitszeit
rund um die Uhr und auf Abend-, Nacht-, Wochenend- und Feiertagszeiten
erstrebenswert?

Wenn ja, warum?

Wenn nein, welche Handlungsmöglichkeiten gibt es hier politisch regulie-
rend einzugreifen?

26. Inwiefern sind der Bundesregierung aus dem Einzelhandel tarifliche Rege-
lungen zum Schutz von Beschäftigten mit Kindern vor Arbeit nach
18.30 Uhr oder vor regelmäßiger Samstagsarbeit/Mehrarbeit bekannt, wie
sie beispielsweise in Manteltarifverträgen in verschiedenen Bundesländern
zu finden sind?

Sollten solche Regelungen nach ihrer Ansicht hinsichtlich einer besseren
Vereinbarkeit von Beruf und Familie mehr Verbreitung finden?

27. Hält die Bundesregierung einen besonderen materiellen Ausgleich für
atypische Arbeitszeiten, etwa in Form von Zuschlägen, für angebracht?

Welche gesetzlichen Regelungen gibt es auf Bundes- und nach Kenntnis
der Bundesregierung auf Landesebene dazu derzeit?

28. Welche Wege wären denkbar, Sondervergütungen für atypische Arbeitszei-
ten gesetzlich stärker zu regeln, um atypische Arbeitszeiten für Arbeitgeber
unattraktiv zu machen oder zumindest für die Beschäftigten einen Aus-
gleich für die besonderen Belastungen zu schaffen?

29. Welche Schlussfolgerungen und Konsequenzen zieht die Bundesregierung
aus Vorschlägen der Einzelhandelsarbeitgeber, Zuschläge für besondere
Arbeitszeiten zu kürzen (www.inforadio.de „Tarifverhandlungen im Ein-
zelhandel“ vom 2. Juli 2013)?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/14368

30. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über extreme Formen der
Arbeitszeitflexibilisierung als „Arbeit auf Abruf“ bzw. Missbräuche durch
Unternehmen, die darin bestehen, dass Beschäftigte nur Arbeitsverträge
mit geringer Wochenstundenzahl erhalten, sich aber ständig und kurzfristig
verfügbar für den Arbeitgeber bereithalten müssen?

Inwiefern sieht die Bundesregierung hier politischen Handlungsbedarf?

31. Wie oft wurde in den zurückliegenden Jahren nach Kenntnis der Bundesre-
gierung gegen die entsprechenden gesetzlichen Regelungen im Teilzeit-
und Befristungsgesetz zur Arbeit auf Abruf (§ 12) verstoßen?

Wie häufig wurden dazu Kontrollen durchgeführt und Verstöße auf-
gedeckt?

Welche besonderen Erkenntnisse gibt es bezüglich der Branche des Einzel-
handels?

32. Welche Sanktionen oder Bußgeldstrafen drohen Unternehmen, die gegen
die geltende Rechtslage im Teilzeit- und Befristungsgesetz verstoßen?

33. Inwiefern verfolgt die Bundesregierung Entwicklungen im Einzelhandel,
dass Unternehmen systematisch gegen Betriebsräte vorgehen, die sich für
gesundheitsverträgliche und familienfreundliche Arbeitszeiten und andere
Interessen der Beschäftigten einsetzen, und wie beurteilt sie ein solches
Agieren der Arbeitgeber?

34. Ist der Bundesregierung der Fall des H&M-Betriebsrates Damiano Quinto
aus Trier bekannt, der zum vierten Mal vom Unternehmen eine fristlose
Kündigung erhalten hat, weil er für eine arbeitnehmerfreundliche Arbeits-
zeitgestaltung streitet (vgl. www.einzelhandel.verdi.de/unternehmen/
hennes_mauritz/)?

Ist das nach Ansicht der Bundesregierung ein Kündigungsgrund?

35. Hat die Bundesregierung oder haben ihre Vertreter in den zurückliegenden
Jahren Kontakte zum Modekonzern H&M unterhalten (wenn ja, welcher
Art, und wie oft), und inwiefern ist dabei das Agieren gegenüber den ge-
wählten betrieblichen Interessensvertretungen zur Sprache gekommen?

36. Hat das Unternehmen H&M nach Kenntnis der Bundesregierung in den zu-
rückliegenden Jahren in Deutschland öffentliche Fördergelder erhalten?

Wenn ja, wann, wofür, und wie viel?

Berlin, den 11. Juli 2013

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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