BT-Drucksache 17/14281

Flüchtlinge aus Lampedusa in Hamburg

Vom 25. Juni 2013


Deutscher Bundestag Drucksache 17/14281
17. Wahlperiode 25. 06. 2013

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan van Aken, Christine Buchholz, Sevim
Dag˘delen, Annette Groth, Inge Höger, Harald Koch, Niema Movassat,
Frank Tempel, Alexander Ulrich, Kathrin Vogler, Katrin Werner und der
Fraktion DIE LINKE.

Flüchtlinge aus Lampedusa in Hamburg

Seit einigen Wochen berichten Medien über die Lage von etwa 300 Migrantin-
nen und Migranten in Hamburg, die dort ohne Versorgung durch die Stadt zum
Teil unter freiem Himmel leben müssen. Sie gehören einem größeren Kreis von
afrikanischen Migranten an, die 2011 vor dem Bürgerkrieg und dem Krieg der
NATO in Libyen nach Italien geflohen sind. Dort wurden sie unter unmensch-
lichen Bedingungen in Aufnahmelager auf der italienischen Mittelmeerinsel
Lampedusa und in anderen Lagern in Italien untergebracht. Nach zweijährigem
Aufenthalt und dem Ende der Kofinanzierung durch die Europäische Union hat
die italienische Regierung diese Lager geschlossen. Den Insassen, die niemals
ein ordentliches und faires Asylverfahren durchlaufen haben, wurden humani-
täre Aufenthaltstitel erteilt, die sie auch zu Reisen innerhalb der EU berechtigen.
Nach Angaben der Bundesregierung in ihrer Antwort auf die Schriftlichen
Fragen 14 und 15 auf Bundestagsdrucksache 17/12949 der Abgeordneten Ulla
Jelpke (DIE LINKE.) vom 25. März 2013 gab das italienische Innenministerium
an, dass zu diesem Zeitpunkt 5 700 Migranten Italien verlassen hätten. Die Bun-
desregierung berief sich zudem auf Angaben der Migranten, 500 Euro von den
italienischen Behörden erhalten zu haben. Diese Angabe wurde auch von vielen
Medien kolportiert. Nach Angaben der Betroffenen selbst gegenüber den Frage-
stellern war die diesbezügliche Praxis der italienischen Behörden jedoch unein-
heitlich und variierte nach den Standorten der geschlossenen Lager. Während
ein Teil der Migranten tatsächlich Bargeld ausgehändigt bekam, gingen andere
leer aus oder erhielten Fahrscheine für Ziele innerhalb der EU. Es sei jedoch
keine explizite Aufforderung ergangen, von Italien aus in andere EU-Staaten
einzureisen.

Die afrikanischen Migranten fordern ein Bleiberecht. Sie verweisen darauf, dass
erst der Krieg der NATO-Staaten gegen Libyen zu ihrer Flucht aus Libyen ge-
führt habe. Während sie dort Arbeit hatten und für sich und ihre Familien sorgen
konnten, hatten sie in Italien keine Möglichkeit zu arbeiten. Sie hätten sich dort
von der erlittenen Gewalt und den traumatischen Erlebnissen in Libyen und auf

ihrer Flucht über das Mittelmeer eigentlich erst einmal erholen müssen, stattdes-
sen habe die Situation in den Lagern ihr Leiden jedoch nur vergrößert. Europa
sei für ihr Schicksal verantwortlich, deshalb fordern sie für sich das Recht zu
bleiben und sich eine neue Existenz aufzubauen. „Wir haben nicht den Krieg
überlebt, um auf Hamburgs Straßen zu sterben“, lautete ein Slogan auf einer
Demonstration für ein Bleiberecht der 300 afrikanischen Migranten in Hamburg

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am 8. Juni 2013, an der insgesamt 2 000 Menschen teilnahmen (junge welt vom
13. Juni 2013, „Gegen Abschiebung in Elend und Tod“).

Die Migranten und ihre Unterstützer verweisen auch darauf, dass der Umgang
mit Schutzsuchenden und Flüchtlingen in Italien menschenrechtlichen und EU-
Standards widerspricht. Sie können sich dabei auf einschlägige Berichte von
Menschenrechtsorganisationen über die Lage in Italien ebenso stützen wie auf
Entscheidungen von deutschen Verwaltungsgerichten, die in zahlreichen Fällen
Überstellungen von Asylsuchenden in Dublin-Verfahren nach Italien untersagt
haben, weil dort „systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebe-
dingungen gesehen werden“ (vgl. Rechtsprechungsübersicht auf www.asyl.net
unter Länder – Rechtsprechung). Der Bundesminister des Innern Dr. Hans-Peter
Friedrich äußerte hingegen gegenüber dem NDR-Politikmagazin „Panorama 3“
am 11. Juni 2013: „Italien ist ja jetzt nicht so fürchterlich.“.

Die Fragesteller sehen das Bundesministerium des Innern in der Pflicht klarzu-
stellen, dass es einer Bleiberechtsregelung im Rahmen des § 23 des Aufenthalts-
gesetzes (Aufenthalt aus humanitären Gründen) zustimmen wird, sollte die Bür-
gerschaft Hamburg zu einem entsprechenden Entschluss kommen. Der Fall
illustriert zugleich die Inhumanität und Ineffektivität des geltenden Dublin-Sys-
tems.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Welche Informationen lagen der Bundesregierung zum Umgang mit den afri-
kanischen Flüchtlingen und Migranten, die im Jahr 2011 nach Italien gelangt
sind, im Laufe der vergangenen zwei Jahre vor, und was hat sie unternom-
men, um sich gegenüber der italienischen Regierung für einen angemessenen
Umgang (Unterbringung, Verpflegung, medizinische Versorgung, Arbeits-
marktzugang) mit diesen Menschen einzusetzen?

2. Aus welchen Fonds der EU hat die italienische Regierung nach Kenntnis der
Bundesregierung Mittel zur Versorgung dieser Migranten erhalten?

a) Ist es richtig, dass dieser Mittelfluss zu Beginn dieses Jahres endete?

b) Welche Prüfmechanismen bestehen, mit denen die zweckmäßige Verwen-
dung solcher EU-Mittel überwacht wird?

Welche Möglichkeiten bestehen bei nicht zweckgemäßer Verwendung,
oder wenn festgestellt wird, dass die Mittel nicht ausreichen, oder wenn
festgestellt wird, dass der Eigenanteil nicht aufgebracht wird?

c) Welche Möglichkeiten zur Verlängerung dieser Zuwendungen zur Versor-
gung der afrikanischen Migranten haben nach Kenntnis der Bundesregie-
rung bestanden?

3. Wurde nach Kenntnis der Bundesregierung von der italienischen Regierung
selbst auf die anstehende Schließung der Aufnahmelager bei einer ausstehen-
den Weiterfinanzierung hingewiesen und um eine Verlängerung der Finanzie-
rung gebeten, und was war ggf. die Reaktion der zuständigen EU-Gremien?

4. Bei welchen Gelegenheiten war der Umgang mit den afrikanischen Migran-
ten aus Libyen Gegenstand von Gesprächen oder Verhandlungen zwischen
deutschen und italienischen Regierungsvertretern (auch innerhalb oder an-
lässlich von Sitzungen von EU-Gremien), und was genau wurde hierbei be-
sprochen oder entschieden?

5. Welche Aufenthaltstitel haben die hier in Rede stehenden afrikanischen Mi-
granten von den italienischen Behörden nach Kenntnis der Bundesregierung
erhalten, welche Rechte sind damit in Italien verbunden, und welche Rechts-

stellung vermitteln ihnen diese Aufenthaltstitel in anderen EU-Staaten als
Italien?

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6. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung dazu, inwieweit die Migran-
ten zu einer Weiterreise in andere EU-Staaten aufgefordert oder gedrängt
wurden und welche Schritte von Seiten der italienischen Behörden hierzu
gegebenenfalls ergriffen wurden?

7. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung zum Aufenthalt der weiteren
5 400 Migranten, die Italien verlassen haben sollen, und welche Erkennt-
nisse hat sie darüber hinaus zum Verbleib der 60 000 Flüchtlinge aus
Libyen, die im Frühjahr und Sommer 2011 nach Italien und Malta gelangt
sind (www.blu-news.eu vom 9. März 2013 „Italien stattet Flüchtlinge mit
Pass aus“)?

8. Hat sich die Bundesregierung von der italienischen Regierung für den Fall
der Abschiebung von Betroffenen nach Italien Zusicherungen geben lassen,
dass die Flüchtlinge einen sicheren Aufenthaltsstatus, Zugang zu Wohn-
raum, sozialer Sicherung und Gesundheitsversorgung sowie Zugang zum
Arbeitsmarkt erhalten, damit sie nicht in Armut und Unsicherheit gestoßen
werden, und wenn nein, warum nicht?

Haben betroffene Bundesländer sich nach Kenntnis der Bundesregierung
entsprechende Zusicherungen geben lassen, und wenn nein, warum nicht?

9. In welchem Rahmen und mit welcher Intention hat die Bundesregierung
den Umgang mit den afrikanischen Flüchtlingen aus Italien in Konsulta-
tionen mit den Bundesländern und Vertretern der kommunalen Ausländer-
behörden thematisiert, und in welcher Form erging eine Aufforderung an
die Hansestadt Hamburg oder andere Länder, den Aufenthalt dieser Men-
schen schnellstmöglich zu beenden (bitte genau auflisten)?

10. Welche rechtlichen Möglichkeiten sieht die Bundesregierung, den Betroffe-
nen in Deutschland einen humanitären Aufenthalt und Zugang zum Arbeits-
markt zu gestatten, wenn Kommunen diese Menschen aus humanitären Er-
wägungen heraus nicht abschieben wollen, und wie ist ihre politische
Haltung hierzu?

11. Welche (Ober-)Verwaltungsgerichtsentscheidungen sind der Bundesregie-
rung bekannt, mit denen in den Jahren 2012 und 2013 eine Überstellung/
Abschiebung von Asylsuchenden oder anerkannten Flüchtlingen (vorläu-
fig) untersagt wurde, mit der Begründung möglicher systemischer Mängel
im italienischen Asyl- bzw. Aufnahme- und Unterbringungssystem bzw.
möglicher Gefährdungen im Einzelfall aufgrund von Mängeln im italieni-
schen Asyl- bzw. Aufnahme- und Unterbringungssystem (bitte im Einzel-
nen mit Angabe des Tenors auflisten)?

12. Wie bewertet die Bundesregierung das Problem, dass es im Gegensatz zu
den Regelungen zu Aufnahmebedingungen im Asylverfahren keine oder
kaum Regelungen auf EU-Ebene zum Umgang mit anerkannten Flüchtlin-
gen in den jeweiligen Mitgliedstaaten gibt (etwa hinsichtlich ihres Rechts
auf soziale Versorgung und Unterbringung) und es deshalb zu Fluchtbewe-
gungen innerhalb der EU nach einer Anerkennung kommt, und welchen
Handlungs- oder Regelungsbedarf sieht sie diesbezüglich auf nationaler
bzw. auf EU-Ebene?

13. Was ist der Bundesregierung dazu bekannt, dass sich 70 afghanische
Flüchtlinge, die in Ungarn einen subsidiären Schutzstatus oder eine Aner-
kennung als Flüchtling erhalten haben, nach langem vergeblichem Protest
gegen die nach ihrer Ansicht unmenschlichen Lebensbedingungen von
Flüchtlingen in Ungarn auf den Weg nach Baden-Württemberg oder in an-
dere Bundesländer gemacht haben, um dort Asyl zu beantragen?

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Welche Schlussfolgerungen und Konsequenzen zieht die Bundesregierung
aus diesem Vorgang und aus den Zuständen im ungarischen Asylsystem,
und wie wird sie hiermit umgehen?

14. Sind der Bundesregierung die Berichte des Hohen Flüchtlingskommissars
der Vereinten Nationen zu Obdachlosigkeit von Asylsuchenden und aner-
kannten Flüchtlingen in Polen, Bulgarien und der Slowakei bekannt
(www.asyl.net), welche Einschätzung hat sie zur dargestellten Problematik,
auch aufgrund eigener Erkenntnisse, und welche Schlussfolgerungen zieht
sie hieraus?

15. Hält die Bundesregierung das Dublin-System mit dem Regelprinzip der
obligatorischen Durchführung eines Asylverfahrens im Ersteinreisestaat
angesichts der bekannt gewordenen Missstände in mehreren Aufnahmesys-
temen, insbesondere der Staaten an den Außengrenzen der EU, noch für
effektiv im Sinne des Flüchtlingsschutzes (bitte begründen), und welche
Schlussfolgerungen zieht sie daraus?

16. Wie viele Rückübernahmeersuchen im Rahmen des Dublin-Systems wur-
den in den Jahren 2010 bis 2013 insgesamt gestellt (bitte einerseits für
Deutschland, andererseits für die gesamte EU beantworten und nach Jahren
bzw. nach Ersuchen von bzw. an bestimmte Länder differenzieren), wie vie-
len Ersuchen wurde stattgegeben (bitte differenzieren wie zuvor), wie viele
Überstellungen fanden tatsächlich statt (wie zuvor), und zu welchem Ergeb-
nis im Saldo führte dies, d. h. zu wie vielen realen Verschiebungen (Über-
nommene abzüglich Überstellte im Dublin-Verfahren) im Verhältnis zur
Gesamtzahl der Ersuchen kam es jeweils (bitte differenzieren wie zuvor,
d. h. nach Ländern und Jahren)?

17. Welche Angaben kann die Bundesregierung machen zu den Kosten des der-
zeitigen Dublin-Systems (Kosten der Inhaftierung von Schutzsuchenden,
Kosten der Überstellung, des bürokratischen Verfahrens usw.)?

18. Hält die Bundesregierung angesichts der vorherigen Antworten das Dublin-
System noch für effektiv im Sinne einer gerechten Verteilungswirkung un-
ter den Mitgliedstaaten, bei der neben den Grundrechten der Asylsuchen-
denden auch die Verhältnismäßigkeit der Mittel gewahrt bleibt?

19. Welche Schlussfolgerungen und Konsequenzen zieht die Bundesregierung
aus dem „Memorandum für ein gerechtes und solidarisches System der Ver-
antwortlichkeit“, mit dem die AWO Arbeiterwohlfahrt Bundesverband e. V.,
die Diakonie Deutschland – Evangelischer Bundesverband, der Deutsche
Paritätische Wohlfahrtsverband – Gesamtverband e. V., der Jesuiten-Flücht-
lingsdienst Deutschland, der Förderverein PRO ASYL e. V., der Deutsche
Anwaltverein e. V. und die Neue Richtervereinigung – Zusammenschluss
von Richterinnen und Richtern, Staatsanwältinnen und Staatsanwälten e. V.
gemeinsam eine Neugestaltung des Dublin-Systems fordern, das auf dem
Prinzip der freien Wahl des Mitgliedstaates basiert (wie bereits die Fraktion
DIE LINKE. im Jahr 2007 auf Bundestagsdrucksache 16/5109), und wird
sie sich auf EU-Ebene für eine solche Reform des Dublin-Systems einsetzen
(bitte begründen)?

Berlin, den 21. Juni 2013

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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