BT-Drucksache 17/14043

Verantwortung des Bundes für die besondere Betroffenheit des Landkreises Anhalt-Bitterfeld durch die Flutkatastrophe

Vom 14. Juni 2013


Deutscher Bundestag Drucksache 17/14043
17. Wahlperiode 14. 06. 2013

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Jan Korte, Roland Claus, Dr. Rosemarie Hein, Ulla Jelpke,
Harald Koch, Katrin Kunert, Petra Pau, Jens Petermann, Dr. Petra Sitte,
Frank Tempel, Halina Wawzyniak und der Fraktion DIE LINKE.

Verantwortung des Bundes für die besondere Betroffenheit des Landkreises
Anhalt-Bitterfeld durch die Flutkatastrophe

Die Schäden für die Menschen, Städte, Natur und Wirtschaft durch die Flut-
katastrophe sind noch längst nicht absehbar und längst nicht alles wird in Euro
und Cent zu messen sein. Schnelle, unbürokratische finanzielle Hilfe wurde zu-
gesagt und mit dem nach der Flut 2002 eingerichteten Europäischen Hilfsfonds
steht auch auf dieser Ebene für die Länder ein hoffentlich wirksames Instrument
zur Verfügung.

Neben diesen riesigen Aufgaben wird es aber immer dringender, Aufräumarbei-
ten einer anderen Art, nämlich eine genaue Analyse der menschengemachten
Ursachen für die besonderen Folgen des Hochwassers vor Ort, in den jeweils be-
troffenen Regionen vorzunehmen.

Hier wiederum gibt es im Osten – Brandenburg, Sachsen, Thüringen und Sach-
sen-Anhalt – einige Besonderheiten und dafür eine besondere Bundesverant-
wortung. Denn dort wurden riesige Landschaften, ehemalige Braunkohle- und
andere Industriereviere, vollkommen umgestaltet. Aus stillgelegten Tagebauen
wurden unter anderem Seenlandschaften, rechtlich gestützt auf das Bundesberg-
gesetz. Im Mitteldeutschen und Lausitzer Braunkohlerevier sind dies rund
200 Seen.

Die unmittelbare Umgebung von Bitterfeld-Anhalt ist dafür ein anschauliches
Beispiel, das eine ganze Reihe von Fragen aufwirft.

Im „Nachrichtenleser“, einer Art Pressemitteilung der „Lausitzer und Mittel-
deutsche Bergbau- Verwaltungsgesellschaft mbH (LMBV)“ heißt es am 7. Juni
2013:

„Nach einem Mulde-Dammbruch am 3. Juni 2013 bei Roitzschjora suchten sich
die Wassermassen der hochwasserführenden Mulde einen Zufluss in den Seel-
hausener See. Der Durchbruch in den Seelhausener weitete sich auf eine Breite
von ca. 300 m auf und es wurde die Landesstraße und das Restloch-Böschungs-
system weggespült. Am 6. Juni hatte sich ein Extremwasserstand von 84,3 m

Normalhöhennull (NHN) eingestellt (normal sind 78 m NHN). Der Wasserstand
liegt nun neun Meter über dem des angrenzenden Großen Goitzschesees. Damit
lastet ein enormer Druck auf der Kippenböschung zur Goitzsche…“. „DIE
ZEIT“ beschreibt zwei Tage später am 9. Juni 2013 unter Rückgriff auf die Flut
im Jahr 2002 die Situation so:

Drucksache 17/14043 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

„Bei der Flut 2002 lief es (das ehemalige Tagebauloch) komplett mit Wasser
voll. Seitdem liegt Bitterfeld direkt am Goitzschesee und hat einen eigenen
Strand. Das Hochwasser der Mulde ließ den um einige Meter höher liegenden
Seelhausener See anschwellen. Bricht der Damm zwischen den beiden Gewäs-
sern, würde eine gewaltige Flutwelle auf Bitterfeld zurasen“.

Die 1994 gegründete LMBV ist ein Unternehmen des Bundes, das die Flächen
des stillgelegten Braunkohlebergbaus in den neuen Bundesländern saniert, wie-
der nutzbar macht und dann verkauft. Der Bund ist durch das Bundesministe-
rium der Finanzen und dem Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit bei der LBMV vertreten und insofern in der jetzigen Situation
nicht nur für humanitäre Hilfe und freiwillige Entschädigungen zuständig, son-
dern vermutlich auch für den Nachweis der umfassenden Vorgaben des Bundes-
bergbaugesetzes und der wasserrechtlichen Vorgaben. Sie schreiben nämlich für
die Braunkohlesanierung neben der Wiedernutzbarmachung folgende Ziele vor:

– Gefahrenabwehr zur Herstellung der öffentlichen Sicherheit,

– Wiederherstellung und Normalisierung des Wasserhaushaltes

(Zwei Jahrzehnte Braunkohlesanierung. Eine Zwischenbilanz. Hrsg.: LMBV,
Juli 2010).

Unklar ist, ob die Äußerung der Bundeskanzlerin, „dass die durch den Braun-
kohletagebau in der DDR entstandenen Seen rund um Bitterfeld-Wolfen Bun-
desliegenschaften seien und der Bund in der Verantwortung stehe“ mehr meint,
als freiwillige Hilfe. Und die Frage ist auch, ob es dazu ausreicht, dass die
LMBV in der Katastrophensituation „die regional Verantwortlichen mit Man-
power und Informationen“ unterstützt und als „Sachverständige im Krisenstab
in Bitterfeld beratend“ mitwirkt (Nachrichtenleser, 7. Juni 2013).

Auch Versäumnisse beim Hochwasserschutz scheint es gegeben zu haben: Ob-
wohl es bereits unmittelbar nach dem Jahrhunderthochwasser 2002 Forderungen
nach einem „Leine-Siel“, einer Art Rückschlagklappe, die die Innenstadt von
Bitterfeld vor der Mulde schützen soll, gegeben habe, sei laut „Mitteldeutscher
Zeitung“ (MZ) nicht gehandelt worden. Eine Reihe von Variantenuntersuchun-
gen, Widerstände und Bedenken hätten das ganze Verfahren verzögert und den
Bau des Siels bis heute verhindert (vgl. MZ, 11. Juni 2013).

Wir fragen die Bundesregierung:

1. In welcher Form, mit welchen Mitteln und Kompetenzen hat die LMBV als
eine Einrichtung des Bundes in den Katastrophenschutzstäben und Krisen-
stäben in der Region mitgewirkt?

2. Welche Schwachstellen- und Gefährdungsanalysen liegen der LMBV vor,
und wann und in welcher Form wurden und werden nach Kenntnis der Bun-
desregierung die für den Katastrophenschutz in der Region Verantwortlichen
mit solchen Analysen befasst?

3. Waren die jetzt erfahrbaren besonderen Gefährdungspunkte vor Über-
schwemmungsbeginn der LMBV bzw. der Bundesregierung oder ihren nach-
geordneten Behörden bekannt, und wann hat wer die Katastrophenschutz-
und Krisenstäbe vor Ort auf diese Punkte hingewiesen?

4. Welche Alternativplanungen wurden für die jetzt besonders gefährdeten und
gefährlichen Stellen bei den Wiedernutzungsplanungen diskutiert, und mit
welchen Begründungen wurden sie verworfen?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/14043

5. Welche konkreten Schlussfolgerungen hat die LBMV nach der Flutkata-
strophe 2002 für weitere Sanierungsmaßnahmen gezogen, und in welcher
Form wurden die bisherigen überprüft, um eine Mitverantwortung für die
besondere Form der Gefährdung von Menschen, Gemeinden und Natur zu-
künftig auszuschließen?

6. Welche Widerstände und Bedenken haben nach Kenntnis der Bundesregie-
rung den Bau des „Leine-Siels“ bis heute verhindert?

7. Welche Hochwasserschutzmaßnahmen hält die Bundesregierung im Land-
kreis Anhalt-Bitterfeld für erforderlich?

8. Wird nach Kenntnis der Bundesregierung das „Leine-Siel“ realisiert, und
wenn ja, wann wird dies geschehen, und in welcher Form wird sich die Bun-
desregierung daran beteiligen?

Wenn nein, warum nicht?

9. Wie versteht die Bundesregierung das Zitat der Bundeskanzlerin, dass der
„Bund in Verantwortung stehe“, und welche Schlussfolgerungen für eine
Ursachenanalyse hat die Bundesregierung daraus bisher gezogen?

10. Welche Schlussfolgerungen und Konsequenzen zieht die Bundesregierung
aus Forderungen nach

a) einer Wiederherstellung und Ertüchtigung des Lober-Leine-Kanals als
Schutzdeich,

b) einer dauerhaften Absenkung des Seelhausener Sees und

c) einem Ausbau des Strengbachs zum Schutz der Bitterfelder Innenstadt?

11. Welche Sachverständigen wurden zur Ursachenerforschung nach der Flut-
katastrophe 2002 herangezogen, wo sind die Gutachten einsehbar, und wer
wurde zu welchen Entschädigungen verpflichtet?

12. Welche unabhängigen Instanzen haben nach Kenntnis der Bundesregierung
bisher unter dem Gesichtspunkt der Gefährdung der Region durch Über-
schwemmungen die Sanierungs- und Wiedernutzungsmaßnahmen über-
prüft, und welche Szenarien wurden dabei entwickelt?

13. Gab es nach der Flutkatastrophe 2002 Klagen gegen die LMBV bzw. die
Bundesregierung?

Wenn ja, in welcher Sache, und mit welchen Ergebnissen?

14. Welche Entschädigungen oder andere Zahlungen hat wer in der Region
Bitterfeld nach der Überschwemmung im Jahr 2002 auf welcher Rechts-
grundlage gezahlt?

Berlin, den 14. Juni 2013

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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