BT-Drucksache 17/1403

VI. EU-Lateinamerika-Karibik-Gipfel in Madrid: Den Aufbruch zur zweiten Unabhängigkeit Lateinamerikas solidarisch unterstützen

Vom 20. April 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/1403
17. Wahlperiode 20. 04. 2010

Antrag
der Abgeordneten Heike Hänsel, Jan van Aken, Sevim Dag˘delen, Dr. Diether Dehm,
Wolfgang Gehrcke, Christine Buchholz, Annette Groth, Inge Höger, Andrej Hunko,
Harald Koch, Stefan Liebich, Niema Movassat, Thomas Nord, Paul Schäfer (Köln),
Alexander Ulrich, Katrin Werner und der Fraktion DIE LINKE.

VI. EU-Lateinamerika-Karibik-Gipfel in Madrid: Den Aufbruch zur zweiten
Unabhängigkeit Lateinamerikas solidarisch unterstützen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Der VI. EU-Lateinamerika-Karibik-Gipfel im Mai 2010 in Madrid findet in
einer Zeit statt, in der Lateinamerika den 200. Jahrestag des Beginns seiner
Unabhängigkeit begeht. 200 Jahre nach dem erfolgreichen Kampf um die
Unabhängigkeit brechen die Menschen dieses Kontinents nun auf, um ihre
Eigenständigkeit zu vollenden. Ihr Kampf um „die zweite Unabhängigkeit“
hat die volle wirtschaftliche, soziale, ökologische und kulturelle Souveränität
zum Ziel.

● Die neoliberalen Wirtschafts- und Entwicklungsstrategien, die der Westen
in den letzten Jahrzehnten in Lateinamerika durchgesetzt hat, haben zur
massiven sozialen Desintegration, zu Hunger und Armut beigetragen, sie
haben die wirtschaftliche Abhängigkeit vom Norden verstärkt und die
selbsttragende, nachhaltige Entwicklung der lateinamerikanischen Gesell-
schaften blockiert. Unterstützt von einer breiten sozialen Mobilisierung an
der Basis gegen den Neoliberalismus und im Bestreben um eine alterna-
tive Politik, die die bislang ausgeschlossenen Teile der Bevölkerung am
ökonomischen Fortschritt und an politischen Entscheidungen beteiligt,
haben sich in fast allen Ländern Südamerikas und in einigen Ländern Mit-
telamerikas und der Karibik linke oder Mitte-Links-Regierungen etabliert.
In anderen Ländern entwickeln sich starke linke Bewegungen als Alterna-
tive zur herrschenden Politik.

● Neue regionale Integrationsprojekte geben einem neuen Selbstbewusst-
sein und einem verstärkten Unabhängigkeitsstreben in Lateinamerika
Ausdruck. Auf dem „Gipfel der Einheit“ in Mexiko Anfang 2010 be-
schlossen sämtliche lateinamerikanischen und karibischen Staaten die
Schaffung eines kontinentalen Staatenbündnisses ohne die Beteiligung

der USA und Kanadas.

● Die Bolivarianische Allianz für Amerika (ALBA), der seit der Gründung
durch Venezuela und Kuba im Jahr 2004 noch Bolivien, Nicaragua,
Ecuador, Honduras sowie die karibischen Inselstaaten Dominica, Antigua
und Barbuda und St. Vincent und die Grenadinen beigetreten und mit der

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viele weitere Länder durch Abkommen verbunden sind, bietet sich als at-
traktives Modell für eine solidarische Süd-Süd-Kooperation an.

● Die zunehmende Kooperation von ALBA mit dem ökonomisch stärksten
Staatenbund Südamerikas MERCOSUR, dem sie über die Doppelmit-
gliedschaft von Venezuela, den Beobachterstatus der MERCOSUR-Mit-
glieder Paraguay und Uruguay bei ALBA sowie durch zahlreiche Koope-
rationsabkommen mit einzelnen MERCOSUR-Mitgliedern verbunden ist,
trägt zur Vertiefung und Verfestigung der regionalen Integration und zur
ökonomischen Eigenständigkeit Lateinamerikas bei.

● Mit der Gründung regionaler Entwicklungsbanken wie der Banco del Sur
und der Banco de ALBA und der Einrichtung der gemeinsamen Währung
„Sucre“ erweitern sich die Spielräume für eine selbständige Entwicklung
und verringern sich die Möglichkeiten zur Einflussnahme durch die von
den USA und der Europäischen Union beherrschten multilateralen Ban-
ken.

● Im Rahmen der ALBA wird ein komplementärer Austausch von Waren
und Dienstleistungen organisiert, der Spielräume staatlicher Wirtschafts-
politik ausbaut, die ungleiche Behandlung von unterschiedlich entwickel-
ten Partnern und den ungehinderten Wissens- und Technologietransfer
ermöglicht. Regionale Integrationsprojekte und solidarische Zusammen-
arbeit haben bereits viel zur Überwindung von Armut in Lateinamerika
beigetragen: Kubanische Lehrerinnen und Lehrer, Ärztinnen und Ärzte
arbeiten in vielen lateinamerikanischen Ländern; im Rahmen der Energie-
Integration wird venezolanisches Öl und Gas zu günstigen Konditionen an
die Partnerländer geliefert.

● Auf der Geberkonferenz für Haiti, die am 31. März 2010 am Sitz der Ver-
einten Nationen stattfand, trat Venezuela als größter bilateraler Geber auf.
Insgesamt sagte ALBA Hilfe in Höhe von 2,4 Mrd. US-Dollar zu.

2. Das Selbstbewusstsein der lateinamerikanischen Regierungen drückte sich
auf den EU-Lateinamerika-Karibik-Gipfeltreffen in Wien (EULAC 2006)
und Lima (EULAC 2008) darin aus, dass sie sich den Freihandelszielen der
Europäischen Union verweigerten und die Vorstellung von einem europäi-
schen Vorbild in Sachen Demokratie für Lateinamerika zurückwiesen. Vor
dem EU-Lateinamerika-Karibik-Gipfeltreffen 2010 in Madrid haben sich die
Auseinandersetzungen um den künftigen Entwicklungsweg in Lateinamerika
und den Charakter der biregionalen Beziehungen deutlich zugespitzt.

● Die Europäische Union beabsichtigt, auf dem Gipfel ein Freihandels-
abkommen mit Kolumbien und Peru und ein Assoziierungsabkommen mit
den Staaten Zentralamerikas zu unterzeichnen. Nachdem die ALBA-Staa-
ten Bolivien und Ecuador, die im Rahmen der Andengemeinschaft zu-
nächst an den Verhandlungen mit der EU, Kolumbien und Peru teilgenom-
men haben, eigene Vorstellungen von einem Abkommen mit der EU for-
muliert hatten, setzte die EU die Verhandlungen lediglich mit Kolumbien
und Peru fort und sprengte damit die Andengemeinschaft als regionales
Integrationsprojekt auseinander.

● Die Verhandlungsziele der Europäischen Union, die auf freien Markt-
zugang, das heißt Wettbewerb und Verdrängung, ausgerichtet sind, stehen
im klaren Gegensatz zu den politischen und wirtschaftlichen Integrations-
prozessen in Lateinamerika. In den betroffenen Ländern protestieren Ge-
werkschaften und soziale Organisationen gegen die negativen sozialen,
wirtschaftlichen und ökologischen Auswirkungen, die von den Abkom-
men zu erwarten, und wie sie im Falle vergleichbarer Abkommen, etwa

des Freihandelsabkommens NAFTA zwischen den USA, Kanada und
Mexiko, nachzuvollziehen sind. Ihre Kritik bezieht sich auf die vorgese-

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/1403

hene weitere Liberalisierung des Handels sowie auf die Öffnung der
Daseinsvorsorge für den globalen Wettbewerb, weil dadurch die Hand-
lungsspielräume der lateinamerikanischen Regierungen erheblich einge-
schränkt und insbesondere das Bemühen um Agrarreformen, die Her-
stellung von für Ernährungssouveränität und die Entwicklung eigenstän-
diger Produktionskreisläufe untergraben werden. Frauenorganisationen in
Lateinamerika befürchten, dass die Freihandelsabkommen zu einer weite-
ren Verschlechterung der Situation von Frauen, speziell in der Textil- und
Landwirtschaft, beitragen werden.

● Im Falle von Kolumbien kommt hinzu, dass der Abschluss eines solchen
Abkommens die Politik der sogenannten Demokratischen Sicherheit der
Regierung von Álvaro Uribe und die damit verbundenen systematischen
Menschenrechtsverletzungen unterstützt und befördert.

● Die Regierung von Honduras, das als ALBA-Land an den Verhandlungen
zwischen EU und Zentralamerika beteiligt war, wurde am 28. Juni 2009
durch einen Putsch gestürzt, woraufhin die Assoziierungsverhandlungen
zunächst gestoppt wurden. Nach der Wahl einer neuen honduranischen
Regierung unter den illegitimen Bedingungen des Putschregimes und dem
Austritt von Honduras aus der ALBA hat die EU die Verhandlungen nun
wieder aufgenommen. Der Deutsche Bundestag protestiert aufs Schärfste
dagegen, dass auf diese Weise der Putsch nachträglich legitimiert wird,
obwohl die Menschenrechtsverletzungen, die unter dem Putschregime
von Roberto Micheletti begangen wurden, nicht aufgearbeitet und geahn-
det werden und obwohl auch unter der neuen Regierung des Staatschefs
Porfirio Lobo Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung sind.

● Der Putsch in Honduras, dessen halbherzige Verurteilung durch die EU
und die USA und die Anerkennung der neuen, aus illegitimen Wahlen her-
vorgegangenen Regierung durch zahlreiche Staaten haben die Gefahr
weiterer Putsche in Lateinamerika erhöht. In zahlreichen lateinamerika-
nischen Staaten bestehen Seilschaften aus der Zeit der Militärdiktaturen
fort und es eskalieren die Konflikte zwischen Arbeiterinnen und Arbei-
tern, indigener Bevölkerung und Landlosenorganisationen auf der einen
und Oberschicht, Militär, kriminellen und paramilitärischen Gruppen auf
der anderen Seite.

● Die Programme der USA zur Drogenbekämpfung in Lateinamerika wei-
sen deutliche Züge der Aufstandsbekämpfung auf und tragen zur Verstär-
kung und Militarisierung innerer und zwischenstaatlicher Konflikte bei.
Auch die Bundesregierung unterhält Kooperationsprogramme mit den
Streitkräften zahlreicher lateinamerikanischer Staaten, darunter Mexiko,
in denen teilweise bürgerkriegsähnliche Zustände herrschen. Dies ist
umso schwerwiegender, als die fortschreitende Militarisierung Mexikos
von Menschenrechtsorganisationen als eine der größten Bedrohungen für
die Menschenrechte in diesem Land betrachtet wird.

● Das schwierige Nachbarschaftsverhältnis zwischen Kolumbien und Vene-
zuela wird durch die massive Präsenz US-amerikanischer Streitkräfte in
Kolumbien weiter angeheizt und führt zunehmend zu Spannungen in der
gesamten Region. An der militärischen Einkreisung Venezuelas durch die
USA sind auch Mitgliedstaaten der Europäischen Union, namentlich die
Niederlande und Frankreich, beteiligt, die zivile und militärische Einrich-
tungen in ihren Überseedepartements (Französisch-Guayana) bzw. auto-
nomen Landesteilen (Niederländische Antillen und Aruba) den US-Streit-
kräften zur Verfügung stellen.

● Nach dem verheerenden Erdbeben in Haiti wurde die humanitäre Heraus-

forderung durch den Aufmarsch von zeitweise über 20 000 US-Soldaten,

Drucksache 17/1403 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

die Entsendung einer Gendarmerie-Mission der EU und die weitere Auf-
stockung der UN-Militärmission MINUSTAH (Mission des Nations
Unies pour la stabilisation en Haïti) sicherheitspolitisch und militärstrate-
gisch instrumentalisiert. Lateinamerikanische Nachbarstaaten und viele
internationale Nichtregierungsorganisationen in Haiti kritisierten diese
Militarisierung des Hilfseinsatzes.

● Die Resolution des Europäischen Parlaments vom 11. März 2010 zur Lage
der politischen Häftlinge und der Gefangenen aus Gesinnungsgründen in
Kuba ist ein aggressiver Akt gegen Kuba, nicht mit dem Völkerrecht ver-
einbar und deshalb scharf zurückzuweisen.

● In der Auseinandersetzung um die Ursachen und Folgen des Klimawan-
dels sowie die geeigneten Maßnahmen dagegen wurden auf dem Welt-
klimagipfel in Kopenhagen im Dezember 2009 die Interessensgegensätze
zwischen USA und Europäischer Union einerseits und den Entwicklungs-
ländern, die durch die Präsidenten der ALBA-Staaten eine vernehmbare
Stimme erhielten, andererseits deutlich. Die Industrieländer zeigten sich
nicht bereit, angemessen auf die Kompensationsforderungen der Länder
des Südens, die am stärksten unter den Folgen des hauptsächlich von den
industrialisierten Staaten des Nordens verursachten Klimawandels leiden,
einzugehen und schlossen diese systematisch von wichtigen Beratungen
aus. Als Reaktion darauf lud die bolivianische Regierung für den 20. bis
22. April 2010 zur „Weltkonferenz der Völker über den Klimawandel und
die Rechte der Mutter Erde“ nach Cochabamba in Bolivien ein, um dort
die strukturellen und systemischen Ursachen des Klimawandels zu analy-
sieren und Maßnahmen zu seiner Bekämpfung vorzuschlagen.

● Die Richtlinie über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitglied-
staaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger der EU
hat in Lateinamerika heftige Proteste hervorgerufen und die Thematik der
Migration aus einer Gegend in das öffentliche Bewusstsein gerückt, die
noch bis Mitte der 1970er Jahre selbst eine klassische Einwanderungs-
region war. Boliviens Präsident Evo Morales kritisierte das Votum der EU
als „Verbrechen gegen das Leben und die Menschheit“ und sprach von
einer „Richtlinie der Schande“: „Obwohl man uns sabotiert, beraubt, er-
niedrigt, gehasst und ausgebeutet hat, wurde in den letzten 500 Jahren nie-
mals eine Entscheidung für Abschiebungen gefasst.“ Die argentinische
Staatschefin Cristina Fernández sagte: „Es schmerzt uns besonders, dass
heute die Lateinamerikaner diskriminiert werden, die in Europa neue
Chancen suchen, so wie einst ihre Großeltern ihr Glück in Lateinamerika
machten.“

● Derzeit leben rund zwei Millionen Lateinamerikanerinnen und Latein-
amerikaner irregulär in Europa, die Mehrzahl in Spanien. Von den rund
250 000 in Spanien lebenden Bolivianerinnen und Bolivianern haben
65 000 eine Aufenthaltsgenehmigung, ähnlich verhält es sich bei den
500 000 Ecuadorianerinnen und Ecuadorianern. Sie fordern eine Teilhabe
am Wohlstand und ein Leben in Würde und kämpfen so gegen globale Un-
gerechtigkeit. Darüber hinaus sind sie eine wichtige wirtschaftliche Stütze
für ihre zurückgebliebenen Familien. Ihre Rücküberweisungen erreichen
direkt die armen Menschen und Gemeinden in den Herkunftsländern und
erhöhen bedeutend deren Einkommen.

II. Der Deutsche Bundestag würdigt den Umstand, dass Lateinamerika ein
atomwaffenfreier Kontinent ist und spricht sich dafür aus, dass diese Vorleis-
tung der lateinamerikanischen Länder auf der Überprüfungskonferenz zum

Atomwaffensperrvertrag gewürdigt und durch tatsächliche Abrüstungsinitia-
tiven der Atommächte beantwortet wird.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/1403

III. Der Deutsche Bundestag ruft die Regierungen Europas und Nordamerikas
dazu auf, ihre Verantwortung für 500 Jahre koloniale und postkoloniale Aus-
beutung in Lateinamerika, aus der ein großer Teil unseres Wohlstands resul-
tiert, anzuerkennen, als Konsequenz daraus nach geeigneten Wegen für die
Ableistung von Kompensationszahlungen an die lateinamerikanischen Staa-
ten zu suchen und sich bei den Völkern Lateinamerikas für koloniale Unter-
drückung und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu entschuldigen.

Der Reichtum in Europa beruht zu großen Teilen auf der Ausplünderung und
Ausbeutung der indigenen Bevölkerung in vielen Teilen Lateinamerikas.
„Europäische Kultur“ hieß für Hunderttausende Indigene in Lateinamerika
Sklavenarbeit, Folter und Verstümmelung, Alkohol und Massenkrankheiten;
Zerstörung gewachsener Sozialstrukturen sind nur ein Teil der Folgen. Es
waren Europäer, die den indigenen Völkern ihre Kunst und Kultur raubten,
Gold und andere Wertgegenstände nach Europa verschleppten und mit Feuer
und Schwert europäische Religionen an die Stelle der indigenen Glaubens-
gemeinschaften setzten. Europäer und die Kirche sind in einem hohen Maße
an den Menschen Lateinamerikas schuldig geworden. Der Ausplünderung
und physischen Vernichtung in der ersten Welle folgte eine Kolonialisierung
und Ausplünderung, mit der Gesellschaftsstrukturen in Lateinamerika zu
Gunsten europäischer und nordamerikanischer Vorherrschaft verschoben
wurden. Bis heute ist im Gedächtnis der Völker Lateinamerikas verankert,
dass diktatorische und faschistische Regime von den USA und von europäi-
schen Ländern anerkannt und gestützt wurden. Die blutige Kette reicht von
Pinochet in Chile, der Schreckensherrschaft der Generäle in Argentinien, den
Militärdiktaturen in Brasilien und Uruguay bis zu den autoritären Herrschaf-
ten in Paraguay, El Salvador, Guatemala und Nicaragua. Über lange Zeit
galt: „Was gut ist für die United Fruit, ist gut für Lateinamerika und ist im
Sinne der USA“. Die Zeit der Militärdiktaturen in Lateinamerika geht zu
Ende. Doch auch heute noch werden den Völkern Lateinamerikas wichtige
Lebensgrundlagen geraubt: Die Regenwälder werden abgeholzt, auf Saatgut
und Pflanzen und ihre Gene werden Patente erhoben, die vielfältige Tierwelt
Lateinamerikas ist von Ausrottungen bedroht. Was in der Vergangenheit die
United Fruit war, sind heute Saatgut- und Düngerkonzerne wie Monsanto.

IV. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. innerhalb der Europäischen Union dafür zu werben, dass auf der Grundlage
bereits vorliegender Vorschläge einiger zentralamerikanischer Regierungen
ein Kompensationsfonds eingerichtet wird, aus dem lateinamerikanische
Staaten in Eigenverantwortung Projekte zum Klimaschutz und für ihre
soziale und wirtschaftliche Entwicklung finanzieren können;

2. darauf zu achten, dass die wirtschaftlichen Interessen Deutschlands und der
Europäischen Union keinen Vorrang vor den politischen, wirtschaftlichen,
sozialen, ökologischen und kulturellen Rechten der Menschen in Latein-
amerika erhalten und in diesem Sinne

a) jegliche Schritte zu unterlassen, welche als Anerkennung der De-facto-
Regierung unter Porfirio Lobo in Honduras gewertet werden können, und
innerhalb der Europäischen Union darauf hinzuwirken, dass die Assoziie-
rungsverhandlungen mit Zentralamerika nicht zum Abschluss gebracht
werden,

b) darauf hinzuwirken, dass die Unterzeichnung des Freihandelsabkommens
der Europäischen Union mit Kolumbien und Peru gestoppt wird,

c) darauf hinzuwirken, dass neue alternative Verhandlungsmandate für

wirtschaftliche Abkommen in der EU ausgehandelt werden und dann erst
Verhandlungen mit der gesamten Andenregion und Zentralamerika unter

Drucksache 17/1403 – 6 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Berücksichtigung der Vorstellungen der Bevölkerung aufgenommen wer-
den,

d) die kolumbianische Regierung zur Einhaltung der Menschenrechte auf-
zurufen, den Schutz von Friedensaktivistinnen und Friedensaktivisten ein-
zufordern und sich für eine politische Verhandlungslösung der gewalt-
samen Konflikte in Kolumbien einzusetzen,

e) die entwicklungs- und menschenrechtlichen Auswirkungen der bereits
bestehenden Freihandelsabkommen der Europäischen Union mit latein-
amerikanischen Staaten einer kritischen Überprüfung zu unterziehen,

f) innerhalb der Europäischen Union daraufhin zu wirken, dass Verhandlun-
gen mit lateinamerikanischen Staatengruppen transparent und partizipativ
gestaltet und die Verhandlungsziele der EU-Kommission so gefasst wer-
den, dass sie auf das Recht auf selbstbestimmte Entwicklung und auf den
Schutz der politischen, kulturellen, sozialen und ökologischen Rechte
aller Betroffenen ausgerichtet sind,

g) innerhalb der EU klarzustellen, dass gewaltsame und illegitime Formen
der Machtübernahme nicht mit stillschweigender Duldung durch die EU
rechnen können;

3. die Erfolge der progressiven Sozialpolitik im Inneren der Gesellschaften und
der gegenseitigen Hilfe der ALBA-Staaten anzuerkennen und zu unterstützen
und in diesem Sinne

a) darauf zu bestehen, dass sich die deutschen politischen Stiftungen und
Nichtregierungsorganisationen in Lateinamerika strikt im Rahmen der
Handlungsbedingungen der einzelnen Länder bewegen und sich jeglicher
Destabilisierung, wie zum Beispiel durch die „Friedrich-Naumann-Stif-
tung für die Freiheit“ in Honduras geschehen, enthalten,

b) die Integrationsprozesse, die sich im Rahmen von ALBA und anderen re-
gionalen Bündnissen und Initiativen vollziehen, positiv aufzugreifen und
zu fördern und entsprechend keine Freihandelsabkommen durchzusetzen,
die dieser Integration entgegenstehen,

c) bei den Verhandlungen mit den Staaten des MERCOSUR keine Verhand-
lungsziele zu verfolgen, die einer weiteren Integration zwischen
MERCOSUR und ALBA entgegenstehen,

d) die lateinamerikanischen Bemühungen um eine neue regionale Finanzar-
chitektur, die unabhängig vom US-Dollar als Leitwährung und der Ein-
flussnahme durch die multilateralen Banken funktioniert, zu unterstützen
und sich international für ein neues, von nationalen Währungen unabhän-
giges Weltwährungssystem einzusetzen,

e) sich für die Streichung sämtlicher Schulden Haitis bei multilateralen Ban-
ken sowie die Prüfung sämtlicher Verbindlichkeiten lateinamerikanischer
Staaten auf ihre Legitimität und die Streichung aller illegitimen Schulden
einzusetzen,

f) Bemühungen lateinamerikanischer Regierungen um eine gerechte Agrar-
reform, die für bislang davon ausgeschlossene ländliche Bevölkerungs-
schichten den Zugang zu Land ermöglicht und somit die Nahrungsmittel-
sicherheit stärkt, zu unterstützen,

g) die Ernährungssouveränität der lateinamerikanischen Staaten dadurch zu
unterstützen, dass die Entwicklung ländlicher Produktion befördert und
diese vor Dumpingkonkurrenz aus der Europäischen Union geschützt
wird,

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7 – Drucksache 17/1403

h) in der Entwicklungszusammenarbeit mit Lateinamerika die Koordinie-
rung mit den lateinamerikanischen Gebern (Kuba, Venezuela, Banco Sur)
zu suchen und insbesondere das Engagement kubanischer Ärztinnen und
Ärzte in Haiti und anderen Ländern zu unterstützen,

i) einen neuen partnerschaftlichen Dialog der EU mit Kuba herbeizuführen,
der die Normalisierung der Beziehungen zum Ziel hat und auf den Sys-
temänderungsanspruch endgültig verzichtet,

j) die USA aufzufordern, sofort und bedingungslos alle Sanktionen und
Boykottmaßnahmen gegen Kuba zu beenden, Kuba von der Liste der so-
genannten Terror-Staaten zu streichen, den Stützpunkt Guantánamo an
Kuba zurückzugeben und die unter dem Namen „Miami Five“ bekannt ge-
wordenen kubanischen Häftlinge zu amnestieren und ihnen eine Rückkehr
nach Kuba zu ermöglichen;

4. der Militarisierung innerer und zwischenstaatlicher Konflikte sowie einem
Wettrüsten in der Region entgegenzuwirken und entsprechend

a) die Verletzungen des venezolanischen Luftraumes durch die in Aruba und
Curaçao stationierten US-Streitkräfte zu verurteilen, innerhalb der Euro-
päischen Union sowie bilateral gegenüber Frankreich und den Niederlan-
den darauf zu drängen, dass diese für Operationen der US-amerikanischen
Streitkräfte in Lateinamerika und der Karibik keine Einrichtungen und
logistische Unterstützung mehr bieten sowie insgesamt eine Entspannung
der sicherheitspolitischen Lage in der Region zu befördern,

b) die militärischen Kooperationsprogramme mit Argentinien und Chile so-
wie die militärische Ausstattungshilfe für Argentinien, Belize, Bolivien,
Chile, Guatemala, Jamaika, Mexiko, Paraguay, El Salvador, Uruguay und
Venezuela unverzüglich einzustellen,

c) dafür einzutreten, dass die Präsenz ausländischer Truppen in Haiti beendet
und stattdessen eine zivile Aufbaumission der Vereinten Nationen nach
Haiti entsandt wird;

5. die Allgemeine Erklärung der Rechte der Mutter Erde, die auf der Weltklima-
konferenz der Völker in Cochabamba verabschiedet wird, zur Kenntnis zu
nehmen, sich öffentlich zu den darin enthaltenen Vorschlägen zu positionie-
ren, die Erklärung zu einem Grundlagendokument für die Klimakonferenz in
Bonn zu machen und darauf hinzuwirken, dass die Erklärung angemessene
Berücksichtigung auf dem Weltklimagipfel in Mexiko Ende dieses Jahres
findet;

6. in der energiepolitischen Zusammenarbeit mit Lateinamerika auf die sozial
und ökologisch nachhaltige Förderung regenerativer Energien und lokaler
Versorgungskreisläufe zu setzen und in diesem Sinne Abstand zu nehmen
von der Atomkooperation mit Brasilien und den Import von Biokraftstoffen
aus Lateinamerika und anderen Regionen des Südens nach Deutschland zu
stoppen;

7. sich innerhalb der Europäischen Union für eine andere Migrationspolitik ein-
zusetzen, die den Bedürfnissen der Migrierenden und den Entwicklungs-
interessen der Herkunftsländer gerecht wird, und entsprechend

a) die Visafreiheit für die lateinamerikanischen Staaten beizubehalten bzw.
auf Länder wie Bolivien und Ecuador zu erweitern,

b) sich in der Europäischen Union für EU-weit abgestimmte Legalisierungs-
möglichkeiten einzusetzen, die betroffene Migrantinnen und Migranten
aus ihrer rechtlosen Situation befreien,

Drucksache 17/1403 – 8 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
c) in der Europäischen Union für die Abschaffung der Richtlinie über ge-
meinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückfüh-
rung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger und dafür einzutreten,
dass es in der EU keine Inhaftierungen zur Durchsetzung der Ausreise-
pflicht sowie grundsätzlich kein Wiedereinreiseverbot für ausgewiesene
bzw. abgeschobene Migrantinnen und Migranten für die EU geben darf,

d) bei der Schaffung legaler Einwanderungs- und Arbeitsmöglichkeiten
dafür Sorge zu tragen, dass kein Niedriglohnsektor entsteht und hohe
soziale Standards für alle Menschen in der EU geschaffen werden,

e) bei der Bekämpfung irregulärer Beschäftigung sicherzustellen, dass den
beschäftigten Migrantinnen/Migranten nicht die Abschiebung oder an-
dere Bestrafung droht, wenn sie sich gegen ausbeuterische Arbeitsver-
hältnisse zur Wehr setzen,

f) die Modalitäten des Geldtransfers von Migrantinnen und Migranten aus
der EU in ihre Herkunftsländer zu vereinfachen.

V. Der Deutsche Bundestag begrüßt die kritische Begleitung des EU-Latein-
amerika-Karibik-Gipfels durch die Zivilgesellschaften in Europa und Latein-
amerika und die Ausrichtung des Gegengipfels „Enlazando Alternativas“ in
Madrid.

Berlin, den 20. April 2010

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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