BT-Drucksache 17/13051

Ungleichbehandlungen bei den Ghettorenten

Vom 11. April 2013


Deutscher Bundestag Drucksache 17/13051
17. Wahlperiode 11. 04. 2013

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Matthias W. Birkwald, Heidrun Dittrich, Petra Pau,
Jens Petermann, Frank Tempel, Halina Wawzyniak, Jörn Wunderlich und der
Fraktion DIE LINKE.

Ungleichbehandlungen bei den Ghettorenten

Der Bundestag hat am 21. März 2013 mit den Stimmen der CDU/CSU und FDP
Anträge der Fraktion DIE LINKE. sowie der Fraktionen SPD und BÜNDNIS
90/DIE GRÜNEN abgelehnt, die Auszahlung der sogenannten Ghettorenten
auch für jene Berechtigten, deren Anträge erst im Zuge einer Neuüberprüfung
nach 2009 angenommen wurden, rückwirkend zum Jahr 1997 vorzunehmen.
Diese Entscheidung bedeutet für etliche Betroffene, dass ihnen Rentenansprü-
che in Höhe von mehreren Tausend Euro verloren gehen, weil sie die Renten erst
ab 2005 erhalten.

Der Zentralrat der Juden in Deutschland kritisierte die Entscheidung ebenso wie
das American Jewish Committee, das zugleich daran erinnerte, dass Deutsch-
land seit fast zwei Jahrzehnten eine Kriegsopferentschädigung an Veteranen der
Waffen-SS in Osteuropa zahle, von denen viele an der Verfolgung von Juden be-
teiligt waren (ajc-germany.org). Dem Nachrichtenmagazin „SPIEGEL ONLINE“
(21. März 2013) zufolge wollen Abgeordnete des israelischen Parlaments den
deutschen Botschafter „vorladen“.

Eines der Argumente, mit denen in der Debatte eine Neuberechnung der Renten
abgelehnt wurde, war, der Nachteil des späteren Auszahlungszeitpunktes werde
durch den höheren Zugangsfaktor ausgeglichen. Die Renten würden zwar spä-
ter ausgezahlt, fielen aber dafür höher aus. Würden sie nun neu beschieden,
gäbe es zwar eine Nachzahlung, dafür sänken aber die künftigen monatlichen
Leistungen.

Rechtsanwälte, mit denen die Fragesteller in Kontakt stehen, weisen jedoch die
Annahme, finanzielle Vor- und Nachteile einer Neuberechnung glichen sich aus,
entschieden zurück. Eine Grundlage dafür sind die Erfahrungen, die im Zusam-
menhang mit dem Urteil des Bundessozialgerichtes (BSG) vom 19. April 2011
gemacht wurden. Das BSG hatte seinerzeit entschieden, dass in Israel lebenden
Betroffenen infolge des deutsch-israelischen Sozialversicherungsabkommens
ein Nachberechnungsanspruch zusteht. Sie konnten sich zwischen einer Nach-
zahlung, verbunden mit einer künftig niedrigeren Rente, und der Beibehaltung

des Status quo (höhere Rente, aber keine Nachzahlung) entscheiden.

Im Falle eines mittlerweile 90-jährigen Mandanten belief sich der Nachzah-
lungsanspruch auf fast 28 000 Euro. Die Deutsche Rentenversicherung rech-
nete dem NS-Opfer vor, dass bei Auszahlung dieser Summe die monatlichen
Rentenleistungen um knapp 123 Euro sinken würden. Das bedeutet, nur wenn
der Mann noch 20 Jahre lang leben würde, wäre die Nachzahlung durch die
geringere Rente „aufgefressen“. Solche Fälle, in denen die Holocaust-Über-

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lebenden ein „biblisches Alter“ erreichen müssten, damit der Nachteil des spä-
teren Auszahlungszeitpunktes ausgeglichen wird, gibt es nach Auskunft von
Rechtsanwälten viele.

Die meisten Betroffenen haben sich daher für die Option Nachzahlung und
Neuberechnung der Rente entschieden. Daraus kann geschlussfolgert werden,
dass jene Gruppe von Ghettorentnern, die nicht vom deutsch-israelischen
Sozialversicherungsabkommen profitieren, zum Teil fünfstellige Beträge ver-
lieren.

Die Wirkung des deutsch-israelischen Sozialversicherungsabkommens ist noch
eine andere: Sie bedeutet, dass Antragsteller, die im Vertrauen auf das Funk-
tionieren der deutschen Gesetzgebung im Jahr 2002 einen Antrag gestellt hatten,
schlechter gestellt sind als diejenigen, die – aus welchen Gründen auch immer –
erst nach 2011 einen Antrag gestellt hatten. Letztere erhalten eine Rückzahlung
bis 1997, erste nur bis 2005. Die Gruppe jener NS-Opfer, die im Ghetto gearbei-
tet haben, wird völlig unterschiedlich behandelt, was mit groben und aus Sicht
der Fragesteller politisch nicht vermittelbaren Ungerechtigkeiten einhergeht.

Agenturmeldungen zufolge hatte die Bundesministerin für Arbeit und Soziales,
Dr. Ursula von der Leyen, dem zuständigen Ausschuss des Deutschen Bundes-
tages Vorschläge unterbreitet, wie das Problem im Rentenrecht gelöst werden
könne. Eine dahingehende Präzisierung des Bundesministeriums in der Öffent-
lichkeit ist den Fragestellern allerdings nicht bekannt.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Zu welchem Ergebnis kamen die Beratungen im Bundesministerium für
Arbeit und Soziales oder ggf. in anderen Bundesministerien hinsichtlich der
Problematik der Ghettorenten?

2. Trifft es zu, dass im Bundesministerium Lösungsvorschläge entworfen wor-
den sind, und wenn ja,

a) was sahen diese generell und im Einzelnen vor,

b) wie wurden die Alternativen rentenrechtliche Lösung und Entschädi-
gungslösung gelöst,

c) sind diese im Kabinett besprochen worden, und wenn ja, mit welchem
Ergebnis?

3. Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus ihrer Einschät-
zung, dass die Mehrheit der Sachverständigen in der Anhörung des Aus-
schusses für Arbeit und Soziales des Deutschen Bundestages im Dezember
2012 raschen Handlungsbedarf sahen (Ausschussdrucksache 17(11)1096)?

4. Beabsichtigt die Bundesregierung eigene Initiativen, und wenn ja, auf wel-
cher Grundlage, und bis zu welchem Zeitpunkt?

Tendiert die Bundesregierung dabei für eine Änderung des Gesetzes zur
Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG)
oder eine entschädigungsrechtliche Lösung?

Wenn nein, warum nicht?

5. Wie ist die Bundestagsentscheidung nach Kenntnis der Bundesregierung in
Israel (in Politik und Medien) aufgenommen und kommentiert worden?

Wurde der deutsche Botschafter in Israel von der israelischen Regierung
oder von Abgeordneten der Knesset zitiert oder zu einer Stellungnahme auf-
gefordert, und wenn ja, von wem genau, und inwiefern ist er der Aufforde-
rung gefolgt?

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6. Inwiefern geben die Erfahrungen mit dem Urteil des Bundessozialgerichts
(BSG) von 2011 aus Sicht der Bundesregierung Anlass zur Befürchtung,
die Betroffenen seien mit einer Entscheidung zwischen den Optionen
Nachzahlung/Neubescheidung der Renten und dem Status quo überfordert?

Wie fielen diese Entscheidungen aus?

7. Mit welchen anderen Ländern gibt es Sozialversicherungsabkommen, die
in ihrer Wirkung auf das ZRBG mit dem deutsch-israelischen Abkommen
vergleichbar sind?

Inwiefern geht damit ein Anspruch auf Rückzahlung der Renten bis 1997
einher, und inwiefern wird dieser Anspruch auch tatsächlich umgesetzt
(bitte ggf. pro Land ausführen)?

8. Was will die Bundesregierung unternehmen, um die Ungleichbehandlung
der ehemaligen Ghettoinsassen aufzuheben, die dadurch entsteht, dass auf-
grund des deutsch-israelischen Sozialversicherungsabkommens und ggf.
weiterer Abkommen einige Gruppen von ehemaligen Ghettoinsassen einen
Rückzahlungsanspruch bis 1997 haben und andere, die in Ländern wohnen,
in denen solche Abkommen nicht greifen, einen solchen Anspruch nicht
haben?

9. Inwiefern steht die Bundesregierung bezüglich der Ghettorentenfrage mit
den Verbänden von NS-Opfern sowie der israelischen Regierung in Kon-
takt, und

a) welche Position beziehen diese jeweils zu der Frage, ob eine Neube-
scheidung der Renten für die Betroffenen zu kompliziert oder ihnen
nicht vermittelbar wäre,

b) was strebt die Bundesregierung in diesen Gesprächen an,

c) welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus der Position
der israelischen Regierung und der Verbände?

10. Wie groß ist nach Kenntnis der Bundesregierung derzeit der Personenkreis,
der von einer Annahme der Oppositionsanträge profitiert hätte (d. h., der
Leistungen nach dem ZRBG bezieht, die auf Anträgen beruhen, die erst im
Zuge der Neuüberprüfung nach dem BSG-Urteil von 2009 positiv beschie-
den worden sind)?

Wie groß war dieser Personenkreis nach Kenntnis der Bundesregierung vor
zwölf Monaten (Empfänger von Hinterbliebenenrenten bitte möglichst je-
weils gesondert auflisten)?

11. Wie viele Empfänger von Leistungen nach dem ZRBG gibt es derzeit ins-
gesamt (Hinterbliebenenrenten bitte möglichst jeweils gesondert auflisten)?

12. Hat die Bundesregierung Zweifel an der Darstellung in der Vorbemerkung
der Fragesteller, dass der Nachteil, der Berechtigten durch den späteren
Auszahlungsbeginn entstanden ist, in etlichen Fällen nicht durch den höhe-
ren Zugangsfaktor ausgeglichen wird, weil nicht angenommen werden
kann, dass die Berechtigten noch eine ausreichend hohe Lebenserwartung
haben (bitte ggf. begründen)?

Was will sie unternehmen, um diesem Nachteil abzuhelfen?

13. Sind der Bundesregierung Modellrechnungen zur Frage bekannt, welche
Kosten eine Nachzahlung verursachen würde und zu welchem Teil diese
Kosten durch die Absenkung der monatlichen Leistungen wieder einge-
spart würden (bitte ggf. angeben)?

Berlin, den 11. April 2013
Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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