BT-Drucksache 17/12999

Aufklärungsbedarf zur Arbeit der Conterganstiftung für behinderte Menschen und ihrer Medizinischen Kommissionen

Vom 4. April 2013


Deutscher Bundestag Drucksache 17/12999
17. Wahlperiode 04. 04. 2013

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Dr. Ilja Seifert, Diana Golze, Matthias W. Birkwald,
Dr. Martina Bunge, Heidrun Dittrich, Katja Kipping, Jutta Krellmann,
Yvonne Ploetz, Harald Weinberg, Sabine Zimmermann und der Fraktion DIE LINKE.

Aufklärungsbedarf zur Arbeit der Conterganstiftung für behinderte Menschen
und ihrer Medizinischen Kommission

Nach § 16 des Conterganstiftungsgesetzes bewertet eine vom Vorstand der
Conterganstiftung berufene Kommission die Schädigungen von Menschen in-
folge der Einnahme des Schlafmittels „Contergan“ bzw. anderer thalidomidhal-
tiger Produkte von der Firma Grünenthal GmbH. Auf dieser Grundlage erfolgt
die Bemessung der Leistungen aus der Conterganstiftung.

In der schriftlichen Stellungnahme von Udo Herterich für die öffentliche Anhö-
rung des Familienausschusses des Deutschen Bundestages zu dem Bericht und
den Ergebnissen der Studie der Universität Heidelberg am 1. Februar 2013
(Ausschussdrucksache 17/(13)238b) war ein Auszug aus dem Protokoll der
Medizinischen Kommission vom 20./21. Februar 1988 enthalten.

In diesem heißt es:

„1. In diesem Fall hatte Prof. Marquardt auf besondere Probleme bei dem Be-
rechtigten hingewiesen (wackelbewegliche Ellenbogengelenke) die […] er-
heblich behindern. Diese Schädigung ist in der Punktetabelle nicht vorgese-
hen. Eine längere Diskussion ergab, daß keine Möglichkeit besteht, diese
Probleme anzuerkennen, da sonst das Punktesystem infragegestellt würde,
insbesondere aber auch eine Vielzahl von ähnlichen Fällen entschieden
werden müßte.

2. Hier hatte Prof. Marquardt mit Schreiben vom 18.1.88 auf eine Fehlbildung
(Carpaltunnel-Syndrom) hingewiesen, das bei Überbeanspruchung zu Be-
schwerden führen kann. Eine Anerkennung würde aber das Punktesystem
und die Begutachtungsprinzipien der Stiftung infrage stellen bzw. zu einer
Lawine von Anträgen führen. Aus diesem Grunde soll es, als Ergebnis der
längeren Diskussion bei den bisherigen Grundsätzen bleiben und diese
Schädigung nicht anerkannt werden.“

Dieses Protokoll lässt vermuten, dass vorsätzlich Conterganopfern Schäden aus
Kostengründen nicht anerkannt wurden. Dies ist nicht nur ethisch und mora-

lisch, sondern auch rechtlich (u. a. nach § 2 sowie § 13 Absatz 2 Satz 1 des
Conterganstiftungsgesetzes) äußerst fragwürdig.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wann und von wem wurde das Punktesystem beschlossen?

2. Wie ist der Wortlaut des derzeit gültigen Punktesystems?

Drucksache 17/12999 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

3. Zu welchen Zeitpunkten wurde das Punktesystem geändert, und welchen
Inhalts waren die Änderungen?

4. Welche im Zusammenhang mit Contergan entstandenen vorgeburtlichen
Schäden sind im Punktesystem trotz des Wissens von diesen Schadensarten
nicht berücksichtigt?

5. Wie viele Personen sind von der Entscheidung, bestimmte Conterganschä-
den nicht zu berücksichtigen, betroffen?

Wie viele davon leben nach Kenntnis der Bundesregierung noch?

6. Wer hat über die Nichtberücksichtigung bestimmter Schäden entschieden,
und mit welchen Begründungen (bitte detailliert nennen)?

7. Wie viele der derzeit noch lebenden anerkannten Conterganopfer haben bei
den ihnen zuerkannten Punkten eine „9“ vor dem Komma (z. B. 9,00 bis
9,99 oder 29,97)?

8. Kann die Bundesregierung ausschließen, dass bei dieser Punktbewertung
unterhalb eines Schwellenwertes andere als rein medizinische Aspekte
(z. B. finanzielle) eine Rolle spielten?

9. Gibt es Unterschiede in der Beantragung von Neu- bzw. Höherbewertun-
gen zwischen Personen, die so nahe an einer Punktgrenze liegen, und sol-
chen, bei denen der Abstand größer ist?

Wenn ja, in welchem Verhältnis?

10. Wer waren die Mitglieder der Medizinischen Kommission von der erstma-
ligen Berufung der Kommission bis heute (bitte namentlich und Zeitraum
ihrer Tätigkeit nennen)?

11. Welche Personen waren in der Zeit von 1972 bis heute im Stiftungsvor-
stand (bitte jeweilige Zeiträume der Mitgliedschaft im Vorstand und Funk-
tionen nennen)?

12. Welche Stiftungsgremien und Bundesbehörden erhalten die Protokolle der
Medizinischen Kommission?

13. Seit wann ist dem Stiftungsvorstand, dem Stiftungsbeirat sowie der Bun-
desregierung das Protokoll der Medizinischen Kommission vom
22. Februar 1988 bekannt?

14. Welche Position bezieht die Bundesregierung heute – auch mit Blick auf
die Studie der Universität Heidelberg – zum o. g. Protokoll und der Tatsa-
che, dass bestimmte Conterganschäden bei der Leistungsbemessung ver-
mutlich nicht berücksichtigt wurden?

15. Welche vorgeburtlichen Schädigungen sind inzwischen bekannt, waren
aber zum Zeitpunkt der Entscheidung über das Punktesystem noch nicht
bekannt?

Welche davon wurden nachträglich in das System aufgenommen?

16. Ist die Bundesregierung – auch mit Blick auf die Studie der Universität
Heidelberg und der Handlungsempfehlung 6.14 – bereit, künftig alle inzwi-
schen bekannten vorgeburtlichen Schäden bei der Bewertung zu berück-
sichtigen und die damit verbundenen Leistungen rückwirkend zu zahlen?

Wenn ja, wie soll das praktisch erfolgen?

Wenn nein, warum nicht?

Berlin, den 4. April 2013

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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