BT-Drucksache 17/12673

Medizinische Gutachten in Gerichtsverfahren

Vom 11. März 2013


Deutscher Bundestag Drucksache 17/12673
17. Wahlperiode 11. 03. 2013

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Dr. Martina Bunge, Ingrid Remmers, Harald Weinberg,
Diana Golze, Jan Korte, Heidrun Dittrich, Katja Kipping, Jens Petermann,
Yvonne Ploetz, Dr. Petra Sitte, Sabine Stüber, Jörn Wunderlich, Sabine
Zimmermann und der Fraktion DIE LINKE.
sowie des Abgeordneten Wolfgang Neskovic (fraktionslos)

Medizinische Gutachten in Gerichtsverfahren

In vielen Gerichtsverfahren, besonders in Prozessen bezüglich Verkehrsunfäl-
len, Arzthaftung oder Berufsunfähigkeitsversicherungen, dient das Gutachten
eines/einer Sachverständigen als Grundlage für die richterliche Entscheidung.
Sowohl in Medienberichten, als auch in zahlreichen Beschwerden beim Peti-
tionsausschuss des Deutschen Bundestages gibt es Berichte über Gefälligkeits-
gutachten, die nicht die hohen Kriterien der Unparteilichkeit und Unabhängig-
keit der medizinischen Begutachtung genügen.

Versicherungsgesellschaften, die teils Weltkonzerne sind, verfügen über andere
finanzielle Ressourcen und Netzwerke als die privaten Geschädigten. Zudem
haben die Geschädigten grundsätzlich ein Interesse an einer raschen Schadens-
regulierung, die Versicherer profitieren davon, die Verfahren in die Länge zu
ziehen – oft so lange, bis der Geschädigte aufgibt und sich auf einen von der
Versicherung diktierten Vergleich einlässt. Hier besteht ein grundsätzliches
Ungleichgewicht.

Eine regelmäßig angewendete Methode der Beeinflussung von Gutachterinnen
und Gutachtern funktioniert über Aufträge bzw. den Entzug von Aufträgen. So
ist in dem NDR-Beitrag „Nein-Sager – wenn Versicherungen nicht zahlen“ vom
4. September 2012 berichtet worden, dass Gutachterinnen und Gutachter mit
außergerichtlichen Aufträgen 400 000 bis 1 250 000 Euro pro Jahr verdienen.
Auf diese Aufträge müssten sie verzichten, wenn sie als gerichtlich bestellte
Gutachter gegen die Interessen der Versicherung handelten. Diese Zusammen-
hänge sind für die einzelnen Gerichte jedoch schwer zu erkennen.

Es geht nicht um Einzelfälle, sondern offenbar um Strukturen, die sicherstellen,
dass immer wieder Gutachterinnen und Gutachter Gefälligkeitsgutachten erstel-
len (vgl. z. B. Dr. Hugo Lanz, Zweiklassenrecht durch Gutachterkauf, Zeit-
schrift für Rechtspolitik, 1996; Bericht in der taz vom 11. November 2005, „Die
Macht der Sachverständigen“ u. a.). Es bleibt den Gerichten überlassen, partei-

ische Gutachten als solche zu entlarven und nicht im Versicherungsprozess zu
verwenden. Mitunter müssen sie den Sachverhalt nicht durch, sondern gegen ein
vorliegendes Gutachten aufklären. Es ist die Aufgabe des Gesetzgebers, die
Rahmenbedingungen so zu setzen, dass die Gerichte sowohl in der Lage als auch
in der Pflicht sind, entsprechend zu verfahren. Es muss sichergestellt sein, dass
sie trotz der strukturellen Ungleichheit der Prozessparteien in einem fairen Pro-
zess zu einer gerechten Entscheidung gelangen können.

Drucksache 17/12673 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Bereits in der Vergangenheit gab es vor diesem Hintergrund Initiativen zur
Änderung des § 404 der Zivilprozessordnung – ZPO – (vgl. Antrag von SPD-
Abgeordneten im Bayerischen Landtag, Landtagsdrucksache 13/10476; Schrift-
liche Anfragen im Bayerischen Landtag, Landtagsdrucksache 13/10442 und
13/10294).

Diese Vorschläge sind vor dem Hintergrund anhaltender Presseberichterstattung
zu bestehenden Defiziten im Gutachterwesen (Bericht in DIE ZEIT vom 11. Ja-
nuar 2013, „Im Stich gelassen“, Bericht im Politmagazin kontraste vom 7. Fe-
bruar 2013, „Autounfall Fragwürdige Experten – Wie neutral sind medizinische
Gutachter“?) weiterhin hoch aktuell.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Hält die Bundesregierung die derzeitige Regelung in § 404 ZPO für ausrei-
chend, den Anspruch eines jeden Klägers und einer jeden Klägerin auf ein
faires, chancengleiches Gerichtsverfahren zu erfüllen (bitte begründen)?

2. Wenn nein, welche Änderungen hält die Bundesregierung für notwendig?

3. Wenn ja, sind der Bundesregierung Fälle bekannt, bei denen gerichtlich be-
stellte Gutachterinnen oder Gutachter ihre Gutachten parteilich zum Vorteil
einer beklagten Versicherung erstellt haben und deshalb von bestimmten Ge-
richten nicht mehr als Sachverständige bestellt werden?

Wenn ja, wie viele Fälle, und welche?

Wenn nein, wie hat sich die Bundesregierung kundig gemacht?

4. Hält die Bundesregierung grundsätzlich gerichtlich bestellte Gutachterinnen
und Gutachter, die einen teilweise großen Teil ihres Lebensunterhalts mit
außergerichtlichen Gutachten für Versicherungen bestreiten, für geeignet, in
Prozessen mit Versicherungen als Beteiligte den hohen Anforderungen an
ihre Neutralität gerecht zu werden?

5. Sind der Bundesregierung Fälle bekannt, bei denen die zuständigen Landes-
bzw. Bezirksärztekammern gegen Medizinerinnen oder Mediziner wegen
falscher bzw. parteilicher Gutachten ermitteln?

Wie häufig sind hierzu bei den Ärztekammern Beschwerden eingegangen?

In wie vielen Fällen ist ermittelt worden?

In wie vielen Fällen hatten diese Ermittlungen welche Konsequenzen für die
Medizinerinnen und Mediziner?

6. Hält die Bundesregierung die Haftungsregeln gemäß § 839a des Bürgerlichen
Gesetzbuchs (BGB) für falsche bzw. parteiliche Gutachten für ausreichend
(bitte begründen)?

Werden Gutachten von bestellten Gutachtern von Gerichten auf Unrichtigkeit
überprüft?

Wie wird in der Regel die Unrichtigkeit eines Gutachtens erkannt?

7. In wie vielen Fällen wurden nach Kenntnis der Bundesregierung Gutachte-
rinnen und Gutachter unter Anwendung von § 839a BGB zu Schadenersatz-
zahlungen verurteilt?

8. Werden Gutachterinnen und Gutachter, die nachweislich ein falsches bzw.
parteiliches Gutachten erstellt haben, allen Gerichten bekannt gegeben?

Wie wird hier der Informationsaustausch gehandhabt?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/12673

9. Wie wird bundesweit sichergestellt, dass Gutachterinnen und Gutachter, die
nachgewiesenermaßen parteiische Gutachten erstellt haben, keine weiteren
Gutachten vor Gericht mehr vorlegen dürfen?

10. Sind Richterinnen und Richter verpflichtet, die Unabhängigkeit der zur Be-
stellung in Frage kommenden Gutachterinnen und Gutachter vor der Bestel-
lung zu prüfen?

Wäre eine solche Prüfpflicht sinnvoll?

11. Sind Richterinnen und Richter verpflichtet, die fachliche Eignung der zur
Bestellung der in Frage kommenden Gutachterinnen und Gutachter vor der
Bestellung zu prüfen?

Wäre eine solche Prüfpflicht sinnvoll?

Verfügen Richter nach Einschätzung der Bundesregierung über das notwen-
dige medizinische Wissen, um die fachliche Eignung eines Gutachters fest-
zustellen?

Falls nicht sichergestellt ist, dass alle Richterinnen und Richter über das
medizinische Wissen verfügen, um die fachliche Eignung einer Gutachterin
oder eines Gutachters zu bewerten oder keine Verpflichtung seitens der
Richterinnen und Richter besteht, die fachliche Eignung zu prüfen, wie wird
sichergestellt, dass nur Gutachterinnen und Gutachter mit ausreichender
fachlicher Eignung für den jeweiligen Fall bestellt werden?

12. Gibt es eine regelmäßige Auskunftspflicht der Gutachterinnen und Gut-
achter, sämtliche mögliche Interessenskonflikte vor der Bestellung zu be-
nennen?

13. Wie wird derzeit die Unabhängigkeit aller Gutachterinnen und Gutachter si-
chergestellt, und welche Probleme gibt es hierbei?

14. Inwiefern müssen Gutachterinnen und Gutachter spezialisiert sein?

Reicht zum Beispiel für ein medizinisches Gutachten über eine Leber-
erkrankung eine Approbation aus?

Reicht hier eine Weiterbildung zum Facharzt für innere Medizin,

oder muss der Gutachter Hepatologe sein?

Inwieweit spielt Erfahrung auf diesem Gebiet eine Rolle?

15. Wer führt nach Kenntnis der Bundesregierung die Sachverständigenlisten
(Bundes- bzw. Landesjustizministerien, einzelne Gerichte)?

Welche Personen sind dies innerhalb dieser Organisationen?

Wie kommt ein Sachverständiger oder eine Sachverständige auf die Liste?

Aus welchen Gründen wird er oder sie gestrichen?

Sind Gutachterinnen und Gutachter auf diesen Listen in einer Reihenfolge
dergestalt angeordnet, dass einige früher angefragt werden als andere?

Wenn ja, worauf begründet sich eine solche Reihenfolge?

Sind Gutachterinnen und Gutachter auf diesen Listen bewertet?

Besteht ein Austausch über Gerichts- und Ländergrenzen, welche Gutach-
terinnen und Gutachter bezüglich ihrer Unabhängigkeit und Neutralität be-
reits negativ aufgefallen sind?

16. In welchen Verfahren sind die Gerichte nach Kenntnis der Bundesregierung
vor allem auf Gutachterinnen und Gutachter angewiesen?

Drucksache 17/12673 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Werden Zahlen über die Beteiligung von Gutachterinnen und Gutachtern in
Gerichtsverfahren erhoben?

Wie viele Gutachterinnen und Gutachter sind binnen eines Jahres an Ge-
richtsverfahren beteiligt?

Wie viele dieser Gutachten werden angezweifelt?

In wie vielen Fällen wird ein zweites unabhängiges Gutachten eingeholt
bzw. das erstellte Gutachten durch das Gericht widerlegt?

17. Was hätte die Einführung einer Muss-Regelung statt einer Soll-Regelung
im Absatz 2 des § 404a ZPO zur Folge, wonach „das Gericht den Sachver-
ständigen vor Abfassung der Beweisfrage hören, ihn in seine Aufgabe ein-
weisen und ihm auf Verlangen den Auftrag erläutern“ müsste?

Welche Gründe sprechen für eine solche Änderung, und welche dagegen?

18. Wie steht die Bundesregierung zu einer gesetzlich fixierten Aufklärungs-
pflicht des gerichtlichen bestellten Sachverständigen vor Abfassung seines
Gutachtens über seine unmittelbaren und mittelbaren Verbindungen zu den
beteiligten Versicherungen?

19. Besteht die Möglichkeit, wenn die Unabhängigkeit der/des verfügbaren
Gutachterin(nen) bzw. Gutachter(s) nicht gewährleistet ist, andere Gutach-
terinnen und Gutachter heranzuziehen?

Wie häufig wird nach Kenntnis der Bundesregierung von dieser Möglich-
keit Gebrauch gemacht (bitte Zahlen angeben, die eine Einschätzung er-
möglichen)?

20. Welche Sanktion hat eine Gutachterin oder ein Gutachter zu befürchten,
wenn er gegen gesetzliche Richtlinien verstößt, wenn er z. B. das Gutachten
nicht selbst erstellt, sondern nur unterschreibt?

21. Wie steht die Bundesregierung zu einer gesetzlich fixierten Frist, innerhalb
derer ein Gutachten in einem Gerichtsverfahren in jedem Fall erstellt wer-
den muss?

Wäre dies eine Möglichkeit, einer überlangen Prozessdauer in Versiche-
rungsprozessen vorzubeugen?

22. Wie viele Beschwerden der Betroffenen und wie viele Beschwerden von
Gerichten, dass keine unabhängigen, neutralen Gutachterinnen oder Gut-
achter verfügbar sind, liegen der Bundesregierung (Bundesministerium der
Justiz und Bundesministerium für Gesundheit) vor?

23. Inwiefern spielt die Versorgungsmedizin-Verordnung eine Rolle bei Gut-
achten im Zivilprozess?

24. Wie viele gerichtliche Gutachterinnen und Gutachter sind nach Kenntnis
der Bundesregierung auch als vor- bzw. nichtgerichtliche Gutachterinnen
und Gutachter für Versicherungen tätig?

Falls die Zahl nicht bekannt ist, wäre zur Abschätzung, inwiefern Interes-
senskonflikte der Gutachterinnen und Gutachter seitens der Versicherungen
absichtlich hergestellt werden, eine Erhebung dieser Zahl auch nach Auf-
fassung der Bundesregierung möglicherweise nützlich?

25. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über die Qualität und die
Schnelligkeit von Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenver-
sicherung (MDK)?

Sieht sie hier Handlungsbedarf?

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26. Welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung, einen bundesweiten Gut-
achterpool mit einheitlichen Anforderungen an Qualifizierung und Un-
abhängigkeit der Sachverständigen einzuführen?

27. Inwieweit hält es die Bundesregierung für zielführend, den Prozessparteien
ein Stellungnahme- bzw. in begründeten Fällen ein Widerspruchsrecht zur
Wahl der Gutachterin bzw. des Gutachters einzuräumen?

28. Inwieweit hält es die Bundesregierung für zielführend, das Recht zur Be-
fragung von Privatgutachterinnen und -gutachtern im Prozess delegieren zu
können?

29. Ist es richtig, dass die klagenden Patientinnen und Patienten bei der Erstel-
lung eines gerichtlich in Auftrag gegebenen Gutachtens in Vorleistung ge-
hen müssen?

Falls ja, sieht die Bundesregierung hier Handlungsbedarf?

30. Wie berechnen sich die Kosten für ein medizinisches Gutachten, die häufig
prozessentscheidend sind?

Was hält die Bundesregierung von einer einheitlichen Gebührenordnung für
medizinische Gutachterinnen und Gutachter, damit nicht letztlich die Kauf-
kraft der einzelnen Prozessparteien die gerichtliche Entscheidung maßgeb-
lich beeinflusst?

31. Haben Patientinnen und Patienten auch bei vermuteten Fehlern in einer Be-
handlung, die auf Kosten der Rentenversicherung, der Unfallversicherung
oder der Berufsgenossenschaft erfolgen, ein Recht auf ein gebührenfreies
MDK-Gutachten?

Falls nein, sieht die Bundesregierung hier Handlungsbedarf?

32. Welcher Umsatz wird nach Kenntnis der Bundesregierung bei gerichtlichen
Gutachten einerseits und außergerichtlichen Gutachten andererseits gene-
riert?

33. Gibt es eine Frist, innerhalb der eine Berufsunfähigkeitsversicherung oder
eine Unfallversicherung mitteilen muss, ob sie einen ihr zur Kenntnis gege-
benen Schaden regulieren wird oder nicht?

34. Inwiefern beobachtet die Bundesregierung seit der EU-bedingten Öffnung
des Versicherungsmarktes und dem Wegfall vieler Kompetenzen der staat-
lichen Aufsicht (v. a. die Vorgabe der Versicherungsbedingungen) eine
häufigere Weigerung der Versicherungsgesellschaften, die zur Anzeige ge-
brachten Schäden zu regulieren?

Gibt es seitdem nach Kenntnis der Bundesregierung mehr Gerichtsverfah-
ren bzw. Streitfälle?

35. Weshalb wird das existentielle Lebensrisiko Erwerbsunfähigkeit nicht soli-
darisch sowie existenz- und statussichernd im Rahmen einer Sozialver-
sicherung abgesichert, zumal dies viele private Versicherungsverträge ob-
solet machen könnte?

Welche Vor- und Nachteile der beiden verschiedenen Versicherungssysteme
– privat und gesetzlich – bewegen die Bundesregierung dazu, diesbezüglich
keinen Reformvorschlag zu unterbreiten?

Berlin, den 11. März 2013

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Wolfgang Neskovic (fraktionslos)

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