BT-Drucksache 17/1199

Entwurf eines ... Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Einführung der dreistufigen Volksgesetzgebung in das Grundgesetz )

Vom 24. März 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/1199
17. Wahlperiode 24. 03. 2010

Gesetzentwurf
der Abgeordneten HalinaWawzyniak, Ulla Jelpke, Jan Korte, Ralph Lenkert,
Wolfgang Neskovic, Petra Pau, Jens Petermann, Raju Sharma, Kersten Steinke,
Frank Tempel und der Fraktion DIE LINKE.

Entwurf eines…Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes
(Einführung der dreistufigen Volksgesetzgebung in das Grundgesetz)

A. Problem

Trotz der vorhandenen demokratischen Strukturen ist eine starke Politikver-
drossenheit und eine daraus folgende geringe Beteiligung an den Bundestags-
wahlen festzustellen. Eine teilweise von den Problemen der Menschen abge-
hobene Politik und eine zunehmende Berufsmäßigkeit der Interessenvertretung
gegenüber der Politik schließen viele Menschen von der Einflussnahme aus.
Lobbyismus und (u. a. selbstgemachte) Zeitnot entfernen politische Entschei-
dungsträgerinnen und -träger von einem alle Interessen wahrnehmenden und ab-
wägenden Vorgang.

Die Bürgerinnen und Bürger sehen wenige Möglichkeiten der politischen Ein-
flussnahme. Tatsächlich bieten die Wahlen allein keine Chance, nachhaltig und
stetig die Politik durch Mehrheiten zu bestimmen. Verbliebene Potentiale durch
Petitionen, auch wenn diese durch elektronische Wege der Beteiligung einen
größeren Kreis von Unterstützerinnen und Unterstützern finden, reichen nicht
aus. Die Bevölkerung als Souverän ist von den ihre Lebenswirklichkeit betref-
fenden Entscheidungsprozessen entfremdet. Strukturelle wie auch einzelne Pro-
bleme in der Rechtsanwendung und der Bewertung von Rechtsfolgen wirken
sich letzten Endes immer bei der Bevölkerung als Adressat aus. Eine Auseinan-
dersetzung mit den Lösungsansätzen der Betroffenen setzt zumeist voraus, dass
sie sich organisieren. Einzelne Stimmen gehen im Betrieb der repräsentativen
Organe unter.

Die Arbeit und Funktionsweise der Organe der repräsentativen Demokratie auf
Bundesebene können weite Teile der Bevölkerung weder nachvollziehen noch
beeinflussen. Die Möglichkeiten, diese zu beeinflussen, beschränken sich auf
zeitaufwändige und anhaltende Beteiligung in Parteien oder in der Einreichung
von Petitionen oder Informationsweitergabe an die Entscheidungsträgerinnen
und -träger.

Nach Artikel 20 Absatz 2 Satz 2 des Grundgesetzes (GG) wird die Staatsgewalt
vom Volke in Wahlen und Abstimmungen ausgeübt. Der Begriff „Abstimmun-
gen“ lässt zwar grundsätzlich auch direkte Entscheidungen der Wahlberechtig-
ten über politische Sachentscheidungen zu. Dies ist nach der herrschenden juris-
tischen Auslegung jedoch nur ausnahmsweise im Falle des Artikels 29 GG (vgl.
Kommentierung des Grundgesetzes bei Schmidt- Bleibtreu/Klein, GG, Artikel 20
Rn. 50) möglich. Die geringe Wahlbeteiligung ist ein Indiz für das Gefühl der

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Bürgerinnen und Bürger, von den Entscheidungen der Politik ausgeschlossen zu
sein.

Es ist und bleibt Aufgabe von Politik, Betroffene zu Beteiligten zu machen. Bür-
gerinnen und Bürgern treten mittels direkter Einflussnahme auf politische Ent-
scheidungen aus der sogenannten Zuschauerdemokratie heraus. Sie werden zu
Subjekten demokratischerWillensbildung. Dies stärkt nicht nur die Demokratie,
sondern auch die Menschenwürde.

B. Lösung

Einführung direkter Einflussmöglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger auf
politische Entscheidungen und Einführung der dreistufigen Volksgesetzgebung
in das Grundgesetz.

Damit Menschen tatsächlich dauerhaft selbstbestimmt und frei Einfluss darauf
nehmen, wie die gesellschaftlichen Probleme gelöst und die Chancen verwirk-
licht werden, bedarf es weiterer demokratischer Einflussnahme.

Das zivilgesellschaftliche Engagement der Bürgerinnen und Bürger wird ge-
stärkt, wenn diese die Möglichkeit haben, direkt über ihre Lebensumstände im
engen und weiteren Sinne zu entscheiden. Die Volksgesetzgebung stützt Ent-
scheidungen auf einen breiteren gesellschaftlichen Konsens.

Um den Bürgerinnen und Bürgern mehr Verantwortung einzuräumen, müssen
das Grundgesetz geändert und die Möglichkeit der direkten Einflussnahme fest-
geschrieben werden.

C. Alternativen

Keine

D. Kosten

Eine Prognose der genauen Kosten kann nicht aufgestellt werden. Welche Aus-
gaben auf die öffentlichen Haushalte zukommen, hängt im Wesentlichen davon
ab, in welchem Umfang die Bürgerinnen und Bürger von den Instrumenten der
direkten Demokratie Gebrauch machen werden.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/1199

Entwurf eines…Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes
(Einführung der dreistufigen Volksgesetzgebung in das Grundgesetz)

Der Bundestag hat mit Zustimmung des Bundesrates das
folgendeGesetz beschlossen; Artikel 79Absatz 2 des Grund-
gesetzes ist eingehalten:

Artikel 1

Änderung und Ergänzung des Grundgesetzes

Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland
vom 23.Mai 1949 (BGBl. I S. 1) in der im Bundesgesetzblatt
Teil III, Gliederungsnummer 100-1, veröffentlichten berei-
nigten Fassung, zuletzt geändert durch…, wird wie folgt ge-
ändert:

1. Artikel 76 Absatz 1 wird wie folgt gefasst:

„(1) Gesetzesvorlagen werden beim Bundestag durch
die Bundesregierung, aus der Mitte des Bundestages,
durch den Bundesrat oder durch Volksinitiative einge-
bracht.“

2. Artikel 77 Absatz 1 wird wie folgt gefasst:

„(1) Die Bundesgesetze werden vom Bundestag oder
durch Volksentscheid beschlossen und sind nach ihrer
Annahme durch den Präsidenten des Bundestages unver-
züglich dem Bundesrat zuzuleiten.“

3. Artikel 79 Absatz 2 wird wie folgt gefasst:

„(2) Ein solches Gesetz bedarf der Zustimmung von
zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages und zwei
Dritteln der Stimmen des Bundesrates oder der Annahme
durch Volksentscheid nach Artikel 82c Absatz 6.“

4. Nach Artikel 82 wird ein neuer Abschnitt mit den Arti-
keln 82a bis 82d eingefügt:

,VIIa. Volksinitiative, Volksbegehren, Volksentscheid

Artikel 82a
(Volksinitiative)

(1) Durch Volksinitiative können 100 000Wahlberech-
tigte beim Bundestag Gesetzesvorlagen und andere be-
stimmte Gegenstände der politischen Willensbildung
in den Bundestag einbringen. Die Vertrauensleute der
Volksinitiative haben das Recht auf Anhörung im Bun-
destag und seinen Ausschüssen.

(2) Volksinitiativen, durch die die Gliederung des Bun-
des in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder
bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20
niedergelegten Grundsätze berührt werden, sowie zum
Haushaltsgesetz sind unzulässig. Volksinitiativen zur Än-
derung des Grundgesetzes dürfen kein Grundrecht in sei-
nemGehalt antasten.

(3) Der Bundestag beschließt innerhalb einer Frist von
vier Monaten über die Zulässigkeit und den Inhalt der
Volksinitiative; dabei ist dem Bundesrat Gelegenheit zur
Stellungnahme zu geben. Die Entscheidung über die Un-
zulässigkeit ist zu begründen.

(4) Soweit eine erfolgreiche Volksinitiative für unzu-
lässig erklärt wird, steht den Vertrauenspersonen gegen
diese Entscheidung der Rechtsweg zum Bundesverfas-
sungsgericht offen.

Artikel 82b
(Volksbegehren)

(1) Frühestens zwei Monate nach der Ablehnung der
Volksinitiative durch den Bundestag haben derenVertrau-
ensleute das Recht, ein Volksbegehren einzuleiten.

(2) Das Volksbegehren ist zustande gekommen, wenn
mindestens eine Million Wahlberechtigte innerhalb von
sechs Monaten dem Volksbegehren zugestimmt haben.
Ein Volksbegehren, das eine Änderung des Grundgeset-
zes anstrebt, bedarf der Zustimmung von zwei Millionen
Wahlberechtigten.

Artikel 82c
(Volksentscheid)

(1) Entspricht der Bundestag nicht innerhalb einer Frist
von drei Monaten dem Volksbegehren, so findet frühes-
tens vier Monate, spätestens zwölf Monate nach dem Ab-
schluss eines erfolgreichen Volksbegehrens ein Volksent-
scheid statt.

(2) Die Fraktionen des Bundestages können eigene Ge-
setzesvorlagen zum selben Gegenstand zur Abstimmung
stellen.

(3) Der Bundestag kann mit der Mehrheit seiner Abge-
ordneten beschließen, einen Volksentscheid zu einem von
ihm behandelten politischen Gegenstand durchführen zu
lassen.

(4) Drei Wochen nach Festlegung des Wahltermins
zum Bundestag hat jede Fraktion des Bundestages das
Recht, eine Sachfrage zur Abstimmung am Wahltermin
vorzuschlagen. Das Bundesverfassungsgericht hat unver-
züglich zu entscheiden, ob die Antwort mit „Ja“ oder
„Nein“ grundgesetzkonform ist. Verneint das Bundesver-
fassungsgericht dies, hat die betreffende Fraktion die
Möglichkeit, innerhalb von dreiWochen die Frage grund-
gesetzkonform zu formulieren oder eine neue Sachfrage
vorzulegen. Der gewählte Bundestag ist für seine Wahl-
periode an die Entscheidung der Bürgerinnen und Bürger
in diesen Fragen gebunden.

(5) Eine Gesetzesvorlage oder ein anderer bestimmter
Gegenstand der politischen Willensbildung sind durch
Volksentscheid angenommen, wenn dieMehrheit der Ab-
stimmenden zugestimmt hat. Es zählen nur die gültigen
Ja- und Nein-Stimmen. Bei Stimmengleichheit ist der
Entwurf abgelehnt. Bei Gesetzen, die der Zustimmung
des Bundesrates bedürfen, gilt das Ergebnis der Abstim-
mung in einem Land als Abgabe seiner Bundesratsstim-
men.

(6) Ein das Grundgesetz änderndes Gesetz bedarf der
Zustimmung von mindestens zwei Dritteln der abgege-

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benen gültigen Stimmen. Mindestens ein Viertel der
Stimmberechtigtenmuss seine Stimme abgegeben haben.

Artikel 82d
(Information derWahlberechtigten)

Das Nähere, insbesondere die Information der Wahlbe-
rechtigten über Inhalt und Gründe der Gegenstände der
Abstimmung, die Form der freien Unterschriftssamm-
lung, das Abstimmungsverfahren, die juristische Bera-
tung und die Kostenerstattung, regelt ein Bundesgesetz,
das der Zustimmung des Bundesrates bedarf.‘

Artikel 2

Inkrafttreten

Das Gesetz tritt am Tag nach seiner Verkündung in
Kraft.

Berlin, den 26. März 2010

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/1199

Begründung

A. Allgemeines

Mit dem Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grund-
gesetzes nach Artikel 23 des Grundgesetzes im Jahr 1990
wurde die Chance vertan, eine neue gemeinsame Verfassung
zu erarbeiten, die auch dieMöglichkeit der direkten Einfluss-
nahme von Bürgerinnen und Bürgern auf politische Ent-
scheidungsprozesse ermöglicht.

Seit dem Jahr 1990 hat sich das Verfassungsleben intensi-
viert. Insbesondere auf Länderebenewurden dieMöglichkei-
ten der Bürgerinnen und Bürger, sich an der politischen Ent-
scheidungsfindung zu beteiligen, verbessert. Dies führte zu
einer umfassenden Rechtsprechung über Voraussetzungen
und Grenzen der unmittelbaren Beteiligung der Bürgerinnen
und Bürger an den politischen Entscheidungen. Alle Bundes-
länder haben bereits Möglichkeiten der unmittelbaren Ein-
flussnahme derWahlberechtigten eingeführt.

Die Möglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger, in den ein-
zelnen Bundesländern direkten Einfluss auf die politische
Willensbildung zu nehmen, haben auch auf die Bundesebene
ausgestrahlt. Bereits in der 14. Wahlperiode gab es zwei
Gesetzentwürfe zur Einführung der Möglichkeiten direkter
Demokratie (Bundestagsdrucksachen 14/1129 und 14/8503).
Noch am 5. Juni 2002 empfahl der Innenausschuss des Deut-
schen Bundestages die Aufnahme von Elementen direkter
Demokratie in das Grundgesetz. In der 15. Wahlperiode ist
der Versuch unternommen worden, mittels Grundgesetz-
änderung der Bevölkerung die Möglichkeit zu geben, über
die europäische Verfassung mittels Volksentscheid abzu-
stimmen (vgl. Bundestagsdrucksachen 15/1112 und 15/2998).
In der 16. Wahlperiode lagen dem Deutschen Bundestag
drei Gesetzentwürfe vor (Gesetzentwurf der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf Bundestagsdrucksache
16/680, Gesetzentwurf der Fraktion FDP auf Bundestags-
drucksache 16/474, Gesetzentwurf der Fraktion DIE LINKE.
auf Bundestagsdrucksache 16/1411).

Dem Bestreben nach mehr Einflussmöglichkeiten für Bürge-
rinnen und Bürgern steht nur scheinbar das mangelnde Inte-
resse von Bürgerinnen und Bürgern an politischen Entschei-
dungen gegenüber; sichtbar in einer geringen Wahlbeteili-
gung. Bürgerinnen und Bürger direkt an den sie betreffenden
Entscheidungen mitwirken zu lassen, stärkt das zivilgesell-
schaftliche Engagement, stützt Entscheidungen auf einen
breiteren gesellschaftlichenKonsens und aktiviert die Bürge-
rinnen und Bürger politisch. Es ist und bleibt Aufgabe von
Politik, Betroffene zu Beteiligten zu machen. Bürgerinnen
und Bürgern wird mittels direkter Einflussnahme auf politi-
sche Entscheidungen die Möglichkeit gegeben, aus der Zu-
schauerdemokratie herauszutreten; sie werden zu Subjekten
demokratischerWillensbildung.

Im Interesse derWeiterentwicklung der in Artikel 20 Absatz 2
GG verankerten Souveränität der Bevölkerung, von der alle
Staatsgewalt ausgeht, ist es an der Zeit, die repräsentative
Demokratie durch direktdemokratische Elemente zu ergän-
zen und zu verstärken; dies um so mehr, als eine Tendenz zur
Einschränkung der Rechte der parlamentarischenOpposition
zu verzeichnen ist.

Verbleibt die Verantwortung bei Bürgerinnen und Bürgern,
so verhalten sie sich in der Regel verantwortungsbewusst.
Die immer wieder in der öffentlichen Diskussion dargestell-
ten Beispiele für weithin kritisierte Volksentscheide aus der
Schweiz stellen diese Beurteilung nicht in Frage. Vielmehr
zeigen sie, dass Verantwortung und Vernunft stetigen Lern-
prozessen folgen. Genau wie die repräsentative Demokratie
unterliegt dieMeinungsbildung in der Volksgesetzgebung ei-
ner dynamischen Entwicklung. Dieser entziehen sich weder
Abgeordnete noch andere zur Abstimmung befugte Bevölke-
rungsteile. Die Auseinandersetzung mit provokanten bis hin
zu rassistischen Denkmustern und politischen Vorhaben
stärkt die Fähigkeit der Bevölkerung zur gesellschaftlichen
Verantwortung. Menschenunwürdige Auffassungen können
in einemWiderstreit besser bekämpft werden, als wenn man
sie schlicht ignoriert.

B. Einzelbegründung

Zu Artikel 1

Zu Nummer 1 (Artikel 76 Absatz 1 )

Artikel 76 Absatz 1 und 2 Satz 1 ist zu ändern, da der Kreis
der Berechtigten zur Einbringung von Gesetzesvorlagen mit
Einführung der Volksgesetzgebung erweitert wird.

ZuNummer 2 (Artikel 77)

Die Regelung dient der Einflussnahme des Bundesrates und
damit der Beteiligung der Bundesländer. Eine Änderung ist
erforderlich, um klarzustellen, dass von der Regelung nur die
vom Deutschen Bundestag erlassenen Bundesgesetze erfasst
sind, da künftig auch durch Volksgesetzgebung Gesetze er-
lassen werden können.

ZuNummer 3 (Artikel 79 Absatz 2)

Mit der Neuregelung in Artikel 79 Absatz 2 wird klargestellt,
dass eine Grundgesetzänderung auch durch Volksentscheid
möglich ist. Hinsichtlich der Zustimmungserfordernisse
wird auf die Regelungen in Artikel 82c Absatz 5 verwiesen.

ZuNummer 4 (Artikel 82a bis 82d)

Die Regelungen zur Volksgesetzgebung werden in einem
neuen Unterabschnitt angeordnet, um klarzustellen, dass
Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid nicht nur
Anhängsel im Gesetzgebungsverfahren von Bundestag und
Bundesrat sind, sondern hier eine direkte Einflussnahme
durch den Souverän erfolgt, die Wahlberechtigten als Inha-
ber der Staatsgewalt eine besondere Rolle einnehmen durch
Bekundung des politischen Willens allgemein, aber auch
durch Erlass, Änderung und Aufhebung von Gesetzen im
Besonderen.

ZuArtikel 82a

Artikel 82a regelt die erste Stufe der Volksgesetzgebung, die
Volksinitiative.

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ZuAbsatz 1

In Absatz 1 werden der Kreis der Berechtigten (die Wahlbe-
rechtigten), die Gegenstände (Gesetzesvorlagen und andere
bestimmte Gegenstände politischer Willensbildung) und der
Charakter der Volksinitiative als Befassungsauftrag an den
Deutschen Bundestag bestimmt. Die Zahl von 100 000Wahl-
berechtigten verhindert Bagatellinitiativen und stellt auf der
anderen Seite keine zu großen Hürden für das zivilgesell-
schaftliche Engagement von Bürgerinnen und Bürgern auf.
Das Quorum von 100 000 Wahlberechtigten entspricht in et-
wa der Anzahl der Stimmen, die für ein Bundestagsmandat
erforderlich sind. Den Vertrauensleuten der Volksinitiative
wird ein Anspruch auf Anhörung im Deutschen Bundestag
und seinen Ausschüssen übertragen. Durch den Verzicht auf
eine Frist zur Sammlung vonUnterschriftenwerdenKonflik-
te mit demGrundsatz der Diskontinuität ausgeschlossen.

ZuAbsatz 2

Absatz 2 normiert die Ausschlusstatbestände der Volksinitia-
tive.

ZuAbsatz 3

Absatz 3 unterscheidet zwischen dem Fall der Zulässigkeit
und dem der Unzulässigkeit der Volksinitiative.

Im Falle der Zulässigkeit entscheidet der Bundestag inner-
halb der Frist über die Volksinitiative. Die Frist soll eine Ver-
fahrensverzögerung durch Nichtbehandlung der Volkinitiati-
ve verhindern.

Der Bundestag begründet anderenfalls seine Entscheidung
über die Unzulässigkeit der Volksinitiative. Hiergegen steht
den Vertrauensleuten der Volksinitiative der Rechtsweg zum
Bundesverfassungsgericht offen.

ZuAbsatz 4

Mit dem Absatz wird klargestellt, dass bei einer Entschei-
dung eine erfolgreiche Volksinitiative für unzulässig zu er-
klären, den Trägern und Trägerinnen der Volksinitiative der
Rechtsweg zum Bundesverfassungsgericht gegen die Ent-
scheidung offen steht.

ZuArtikel 82b

Artikel 82b regelt das Volksbegehren, die zweite Stufe der
Volksgesetzgebung.

ZuAbsatz 1

Durch Absatz 1 wird klargestellt, dass ohne weitere Verfah-
rensschritte wie Beantragung etc. die Vertrauensleute der
Volksinitiative frühestens zwei Monate nach der Ablehnung
durch den Deutschen Bundestag ein Volksbegehren einleiten
können.

ZuAbsatz 2

Nach Absatz 2 sind für ein erfolgreiches Volksbegehren die
Unterschriften von mindestens einer Million Wahlberechtig-
ten innerhalb einer Frist von sechs Monaten erforderlich.
Dies entspricht in etwa 1,7 Prozent derWahlberechtigten und
stellt einen Prozentsatz dar, welcher in vielen Staaten üblich
ist (Schweiz, Italien, Einzelstaaten der USA). Angesichts der
Bedeutung des Grundgesetzes erscheint es angemessen, die
Zahl der notwendigen Unterschriften für ein Volksbegehren
zur Änderung der Verfassung auf zwei Millionen Stimm-
berechtigte anzuheben. Dies würde einem Prozentsatz von

3,3 Prozent der Stimmberechtigten entsprechen, soweit man
eine Anzahl von 61 Millionen Stimmberechtigten zu Grunde
legt. Es werden absolute Zahlen für die Quoren verwendet,
da diese trotz Veränderungen in der Anzahl der Wahlberech-
tigten im Laufe der Jahre und dadurch einer Veränderung des
Prozentsatzes den unabweisbaren Vorteil haben, dass sie für
die Initiatoren eines Volksbegehrens leicht zu ermitteln sind.

ZuArtikel 82c

Artikel 82c behandelt die dritte Stufe der Volksgesetz-
gebung, den Volksentscheid.

ZuAbsatz 1

Die Norm stellt zunächst klar, dass dem Deutschen Bundes-
tag auch nach einem erfolgreichen Volksbegehren die Mög-
lichkeit offen steht, dem Inhalt des Volksbegehrens zu ent-
sprechen. Soweit der Deutsche Bundestag von diesem Recht
nicht innerhalb einer Frist von drei Monaten Gebrauch
macht, muss innerhalb einer Zeitspanne von vier bis zwölf
Monaten nach Abschluss des Volksbegehrens der Volksent-
scheid stattfinden. Dies ist im Interesse eines zügigen Ab-
schlusses des Verfahrens der Volksgesetzgebung erforder-
lich.

ZuAbsatz 2

Absatz 2 eröffnet den Fraktionen des Deutschen Bundesta-
ges die Möglichkeit, einen Konkurrenzentwurf zum Entwurf
des erfolgreichen Volksbegehrens zu beschließen und zur
Abstimmung zu stellen.

ZuAbsatz 3

Absatz 3 gibt dem Deutschen Bundestag selbst die Möglich-
keit, einen Volksentscheid mit der Mehrheit seiner Mitglie-
der zu beschließen.

ZuAbsatz 4

Den Bürgerinnen und Bürgern wird durch die getroffene Re-
gelung die Möglichkeit eröffnet, mit der Bundestagswahl ei-
ne Sachentscheidung zu treffen, die für die dann laufende
Wahlperiode verbindlich ist. Die Fraktionen können jeweils
eine Sachentscheidung zur Abstimmung stellen, die mit „Ja“
oder „Nein“ beantwortet werden kann. Um zu verhindern,
dass grundgesetzwidrige Fragen zur Abstimmung gestellt
werden, so zum Beispiel zur Todesstrafe, hat das Bundesver-
fassungsgericht über die Zulässigkeit zu entscheiden. Dies
würde den Fraktionen die Möglichkeit geben, die Sachent-
scheidungsfrage ggf. noch grundgesetzkonform auszugestal-
ten bzw. eine andere Frage zu stellen.

Der Vorteil einer solchen direkten Mitwirkungsmöglichkeit
für die Bürgerinnen und Bürger liegt darin, dass sie verbind-
liche Entscheidungen in gesellschaftlich relevanten Fragen
treffen und damit in die Verantwortung für Politik einbezo-
gen werden. Die Parteien müssten im Wahlkampf über diese
Fragen Aussagen treffen, was die Glaubwürdigkeit von Poli-
tik erhöht. Die Wahlbeteiligung würde steigen, weil Bürge-
rinnen und Bürger über eine konkrete Sachfrage entscheiden
wollen.

ZuAbsatz 5

Absatz 5 benennt die Kriterien für die Annahme eines Ge-
setzentwurfs bzw. eines Beschlussentwurfs im Rahmen des
Volksentscheids. Es muss auch berücksichtigt werden, dass
bereits in den ersten zwei Stufen des Volksgesetzgebungs-

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7 – Drucksache 17/1199

verfahrens eine Mindestanzahl von Beteiligten ihre Zustim-
mung erklärt haben muss. Das Abstimmungsverfahren ent-
spricht den gewöhnlichen Abstimmungsregeln.

Die Einflussnahme des Bundesrates wird durch die separate
Zählung der Stimmen in einem Bundesland berücksichtigt.
Vorbild für das gewählte Verfahren ist das Modell der
schweizerischen „Volks- und Städemehr“ (Artikel 142 Ab-
satz 3 der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenos-
senschaft). Bei Gesetzen, die im parlamentarischen Verfah-
ren der Zustimmung des Bundesrates bedürfen, werden die
Stimmen doppelt gezählt. Das Ergebnis in einem Land gilt
als die Abgabe seiner Bundesratsstimmen. Demnach muss
bei zustimmungspflichtigen Gesetzen die Mehrheit der Ab-
stimmenden in so vielen Ländern dem Gesetzentwurf zu-
stimmen, dass deren Stimmen einer Mehrheit im Bundesrat
entsprechen. Bei Verfassungsänderungen ist die Mehrheit in
so vielen Ländern erforderlich, dass deren Stimmen einer
Zweidrittelmehrheit im Bundesrat entsprechen.

ZuAbsatz 6

Für ein Gesetz, mit dem das Grundgesetz geändert werden
soll, wird im Rahmen des Volksentscheids die Zustimmung
von zwei Dritteln der Abstimmenden vorausgesetzt. Es wird
gleichzeitig festgehalten, dass sichmindestens ein Viertel der
Stimmberechtigten an dem Volksentscheid beteiligen muss,
um die Änderung des Grundgesetzes durch kleinere Gruppen
auszuschließen.

ZuArtikel 82d

Artikel 82d verweist darauf, dass zur näheren Ausgestaltung
des Verfahrens nach den Artikeln 82a bis 82c ein Ausfüh-
rungsgesetz erforderlich ist. In diesem Ausführungsgesetz
müssen zwingend Regelungen zur Unterrichtung der Bürge-
rinnen und Bürger, zur Sicherung des freien Unterschriften-
sammelns, zum Ablauf des Verfahrens der Abstimmung und
zur Kostenerstattung enthalten sein.

ZuArtikel 2

Inkrafttretungsregelung.

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