BT-Drucksache 17/11849

zu der Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin zum Europäischen Rat am 13./14. Dezember 2012 in Brüssel

Vom 11. Dezember 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/11849
17. Wahlperiode 11. 12. 2012

Entschließungsantrag
der Abgeordneten Alexander Ulrich, Dr. Diether Dehm, Andrej Hunko,
Thomas Nord, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, Christine Buchholz,
Sevim Dag˘delen, Annette Groth, Heike Hänsel, Inge Höger, Harald Koch,
Stefan Liebich, Niema Movassat, Paul Schäfer (Köln), Katrin Werner
und der Fraktion DIE LINKE.

zu der Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin
zum Europäischen Rat am 13./14. Dezember 2012 in Brüssel

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Die aktuelle Wirtschafts- und Finanzkrise zeigt, dass die vertraglichen
Grundlagen der Europäischen Union (EU) zu einer sozialen und ökonomisch
sinnvollen Antikrisenpolitik nicht geeignet sind. Die bisherigen politischen
Maßnahmen, die als Reaktionen auf die Krise von den Regierenden in der
Europäischen Union getroffen wurden, wie zum Beispiel das Economic-
Governance-Paket, der Fiskalvertrag, die Europäische Finanzstabilisierungs-
fazilität (EFSF) und der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM), erwei-
tern die neoliberale wirtschaftspolitische Grundlage der EU teilweise auch
außerhalb des EU-Vertragswerks und verschärfen sie weiter. Diese Maßnah-
men zielen darauf ab, die öffentliche Verschuldung durch massive Ausgaben-
kürzungen zu reduzieren und durch Lohnsenkungen und den Abbau von
sozialen Rechten die Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen, um Wachstum zu
generieren. Die rigorose Kürzungspolitik hat allerdings eine Rezession und
einen weiteren Schuldenanstieg zur Folge. So verschärfen sie die ökono-
mische Krise und verursachen zugleich eine soziale Krise.

2. Diese Politik stellt zudem einen massiven Angriff gegen die Demokratie dar.
Darunter leidet auch die ohnehin schwache demokratische Legitimation der
EU. Die Memoranden, an die die EFSF/ESM-Kredite gebunden sind, ent-
machten die demokratisch gewählten Parlamente der Kreditnehmerländer.
Die undemokratischen Vorgabeverfahren, die von den wirtschaftlich und
politisch starken Kreditgeberländern, insbesondere von der Bundesrepublik
Deutschland, dominiert sind, nimmt den Parlamenten der betroffenen Staa-
ten ihren demokratischen Handlungsspielraum. Auch die Governance-
Reformen wie das Economic-Governance-Paket und der Fiskalvertrag ent-

ziehen weitreichende haushalts-, wirtschafts- und sozialpolitische Kompe-
tenzen einer parlamentarischen Gestaltung.

3. Die gegenwärtig auf EU-Ebene diskutierten Vorschläge zur Schaffung einer
Fiskal- und Wirtschaftsunion knüpfen an die bisherige, ökonomisch ungeeig-
nete, sozial inakzeptable und undemokratische „Antikrisenpolitik“ an. Die
Vorschläge, die der Präsident des Europäischen Rates, Herman Van Rompuy,

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gemeinsam mit dem Präsidenten der Europäischen Kommission, Manuel
Barroso, dem Vorsitzenden der Eurogruppe, Jean-Claude Juncker, und dem
Präsidenten der Europäischen Zentralbank, Mario Draghi, entwickelt haben,
würden den Übergang von einer unverantwortlichen und inakzeptablen „An-
tikrisenpolitik“ zu einer langfristig orientierten Transformation der EU hin zu
einem neoliberalen, autokratischen Governance-Projekt bedeuten.

4. Insbesondere die Vorschläge zur Schaffung einer „Fiskalkapazität der Euro-
zone“ sowie zur Etablierung „individueller Vereinbarungen vertraglicher
Natur“ zwischen den Mitgliedstaaten des Eurowährungsgebiets und den
EU-Organen sind sowohl sozial- als auch demokratiepolitisch inakzeptabel.
Zudem würden sie eine weitere Spaltung der EU bedeuten.

5. Der Ansatz zur Schaffung einer Fiskalkapazität der Eurozone impliziert die
Gefahr, öffentliche Gelder der demokratischen Kontrolle zu entziehen. Durch
die Schaffung eines neuen europäischen Budgets außerhalb des Mehrjähri-
gen Finanzrahmens würde das Europäische Parlament umgangen werden.
Die ohnehin durch die völkerrechtlichen Verträge Fiskalvertrag und den ESM
gegebene Schwächung des Europäischen Parlaments würde so fortgesetzt
werden. Auch eine „Flexibilisierung des Europäischen Parlaments“, durch
die Entscheidungen, die nur die Eurozone betreffen, künftig ausschließlich
von den Abgeordneten der Euroländer getroffen werden, würde diesen Ver-
lust an demokratischer Kontrolle nicht auffangen. Selbiges gälte für ein zu-
sätzliches Parlament der Eurozone. Beides wäre desintegrativ und würde die
Spaltung der EU in einen „Euroländer-Kern“ und einen „bröckelnden Rand“
vorantreiben.

6. Der Ansatz, die Fiskalkapazität der Eurozone als Anreiz für „strukturelle
Reformen zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit“ zu nutzen, wie es
Herman Van Rompuy, Manuel Barroso, Jean-Claude Juncker und Mario
Draghi vorschlagen, legt nahe, dass vor allem jene Länder von dem Budget
profitieren sollen, die Sozialleistungen, Löhne und Renten weiter abbauen
und den Arbeitsmarkt weitgehend liberalisieren und deregulieren. Damit
wird die ineffektive und sozial inakzeptable „Antikrisenpolitik“ fortgesetzt.

7. Auch die vorgeschlagenen „individuellen Vereinbarungen vertraglicher
Natur“ zwischen den Mitgliedstaaten des Eurowährungsgebiets und der EU
sind sozialpolitisch höchst kritikwürdig. Dieser Vorschlag zielt darauf ab,
die Memorandenpolitik, durch die bereits in den EFSF/ESM-Kreditnehmer-
staaten radikale Lohn- und Sozialkürzungs-, Privatisierungs- und Liberalisie-
rungsprogramme durchgesetzt werden, in der gesamten Eurozone zu institu-
tionalisieren. Durch die nun vorgeschlagenen Vereinbarungen sollen die län-
derspezifischen Empfehlungen des Rates für alle Mitgliedstaaten des
Eurowährungsgebiets rechtsverbindlich werden. In der gesamten Eurozone
würde so der Druck auf Löhne und Sozialstaaten erhöht werden.

8. Die Pläne für eine Fiskal- und Wirtschaftsunion zeichnen sich zudem durch
eine gravierende Entdemokratisierung aus. Neben dem Fiskal-, dem ESM-
Vertrag und den EU-Verträgen sollen 17 weitere bilaterale völkerrechtliche
Vereinbarungen entstehen, mit denen die nationalen Parlamente deutlich an
Einfluss verlieren und ihre demokratischen Haushaltsrechte einbüßen wür-
den. Anstatt die EU-Verträge grundlegend zu verändern und dadurch einen
Neustart der EU als eine demokratische, soziale, ökologische und friedliche
Union zu ermöglichen, soll das bestehende Vertragswerk erneut umgangen
werden, da dieses keine Sanktionsmechanismen vorsieht, durch die die Mit-
gliedstaaten zu Reformmaßnahmen gezwungen werden können.

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9. Die Vorschläge von Herman Van Rompuy, Manuel Barroso, Jean-Claude
Juncker und Mario Draghi zur Umgestaltung der EU zeigen, dass die De-
mokratie für die Regierenden in der EU nicht viel wert ist. Dieser Aspekt
ist im Vorschlag zur Schaffung einer „echten Wirtschafts- und Währungs-
union“ der einzige, für den keinerlei konkrete Vorschläge ausgearbeitet und
unterbreitet worden sind. Die sehr allgemein gehaltenen Überlegungen ha-
ben mitnichten das Potenzial, das Demokratiedefizit in der EU aufzulösen
oder den weiteren Demokratieabbau zu verhindern, der durch die Einfüh-
rung der avisierten Fiskal- und Wirtschaftsunion vollzogen werden würde.

10. Auch die unterbreiteten Vorschläge zur Schaffung einer Bankenunion sind
insgesamt nicht akzeptabel. Die Finanz- und Wirtschaftskrise zeigt, dass
eine strenge Regulierung des Finanzsektors sowie eine Zerlegung der als
systemrelevant eingestuften Großbanken erforderlich sind. Die Regulie-
rungsvorschläge im Rahmen der Bankenunion bleiben jedoch weit hinter
dem Erforderlichen zurück. Sie gehen im Wesentlichen nicht über bereits
bestehende bzw. auf G20-Ebene beschlossene Maßnahmen hinaus. Das
Problem der Existenz von Großbanken, die in der Lage sind, Staaten zu er-
pressen, wird durch den vorgesehenen Abwicklungs- und Sanierungsfonds
nicht ansatzweise gelöst. Zudem erfordert eine Bankenunion eine strenge
demokratische Kontrolle. Die Vorschläge zielen jedoch darauf ab, die de-
mokratisch nicht kontrollierte Europäische Zentralbank mit weitreichenden
Befugnissen zu betrauen und die parlamentarische Beteiligung auf ein Mi-
nimum zu begrenzen.

11. Die dem Europäischen Rat vorliegenden Konzepte für eine Umgestaltung
der EU würden zudem die Desintegration und die Spaltung der EU voran-
treiben. Ein „Europa der zwei Geschwindigkeiten“, das einerseits ein
„Euro-Europa“ mit intensiven Integrationsfortschritten und andererseits ein
immer mehr zum Binnenmarkt degradiertes „Resteuropa“ beinhaltet, würde
weiter forciert werden. Die Fortentwicklung der Integration durch multi-
laterale Verträge soll dabei aufgegeben und durch eine abgestufte Integration
auf Grundlage bilateraler völkerrechtlicher Verträge ersetzt werden.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

sich im Europäischen Rat dafür einzusetzen, dass

a) die Vorschläge zur Schaffung einer Fiskal- und Wirtschaftsunion, insbeson-
dere bezüglich der „Fiskalkapazität der Eurozone“ und der „Vereinbarungen
vertraglicher Natur zwischen Mitgliedsländern des Euro-Währungsgebiets
und der EU“, zurückgewiesen werden;

b) die Umgehung der bestehenden EU-Verträge durch völkerrechtliche Ver-
träge außerhalb des EU-Vertragswerks beendet wird;

c) eine wirtschaftspolitisch ausgewogene und sozial gerechte fiskalpolitische
Koordinierung eingeleitet wird, die die Staatseinnahmen stabilisiert. Dazu
gehören unter anderem die Einführung von EU-weit koordinierten Mindest-
steuersätzen für Unternehmen, eine koordinierte Vermögensteuer, eine
koordinierte, stärkere Besteuerung von Spitzeneinkommen und Kapital-
erträgen, ein gemeinsames und entschlossenes Vorgehen gegen Steuerflucht
und -hinterziehung sowie eine EU-weit koordinierte Vermögensabgabe;

d) künftig eine Bank für öffentliche Anleihen ohne den Umweg über private
Banken und ohne Zinsaufschlag den Staaten Kredite einräumt und sich bei
der Europäischen Zentralbank refinanziert;

e) das gesamte europäische Bankensystem von Grund auf saniert, vergesell-

schaftet und demokratischer Kontrolle unterworfen wird;

Drucksache 17/11849 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
f) die Finanzmärkte streng reguliert und die Expansion des Finanzsektors rück-
gängig gemacht werden. Das bedeutet beispielsweise ein Verbot von Leer-
verkäufen, ungedeckten Kreditausfallversicherungen und außerbörslichem
Wertpapierhandel;

g) die EU-Verträge grundlegend revidiert werden, um auf diesem Wege einen
Neustart für ein demokratisches, soziales und friedliches Europa zu ermög-
lichen.

Berlin, den 11. Dezember 2012

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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