BT-Drucksache 17/1170

zu der Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin zum Europäischen Rat am 25./26. März 2010 in Brüssel

Vom 23. März 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/1170
17. Wahlperiode 23. 03. 2010

Entschließungsantrag
der Abgeordneten Dr. Diether Dehm, Alexander Ulrich, Andrej Hunko, Thomas
Nord, Jan van Aken, Christine Buchholz, Sevim Dag˘delen, Wolfgang Gehrcke,
Annette Groth, Heike Hänsel, Inge Höger, Harald Koch, Stefan Liebich, Niema
Movassat, Paul Schäfer (Köln), Katrin Werner und der Fraktion DIE LINKE.

zu der Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin

zum Europäischen Rat am 25./26. März 2010 in Brüssel

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Nach dem Zeitplan des bevorstehenden Europäischen Rates sollen die all-
gemeine Ausrichtung und die Oberziele der Vorlage „Europa 2020 – Eine
Strategie für ein intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum“
(KOM(2010)2020) während der Tagung am 25./26. März 2010 beschlossen
werden. Den Vorschlag für die Strategie hat die EU-Kommission erst in
ihrer Mitteilung vom 3. März 2010 unterbreitet und danach dem Deutschen
Bundestag zugeleitet.

2. Die neue Strategie knüpft in ihrer Geltungsdauer unmittelbar an die Lissa-
bon-Strategie an. Diese wurde im März 2000 propagiert und sollte die Euro-
päische Union bis zum Jahr 2010 zum „wettbewerbsfähigsten und dyna-
mischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt“ machen, mit mehr
und besseren Arbeitsplätzen und einem größeren sozialen Zusammenhalt.
Diese Ziele wurden im Ergebnis eindeutig verfehlt. Das hat letztlich auch
die EU-Kommission in ihrem Arbeitspapier „Bewertung der Lissabon-Stra-
tegie“ (SEK(2010)114) vom 2. Februar 2010 eingestanden.

3. Als Ursache für ihr Scheitern wird dort neben anderem genannt, dass die
Lissabon-Strategie in einer Zeit auslaufe, „in der die Menschen in Europa und
in anderen Teilen der Welt die Auswirkungen der Wirtschaftskrise deutlich zu
spüren bekommen. […] 2009 sank das BIP um 4 %, die Arbeitslosigkeit nä-
hert sich der 10-%-Marke und der Schuldenstand ist in den letzten zwei Jahren
um 20 Prozentpunkte gestiegen.“ Inwiefern die neoliberale Wirtschaftskon-
zeption, die der Lissabon-Strategie zu Grunde lag, zur Finanz- und Wirt-
schaftskrise ursächlich beigetragen hat, wird im Arbeitspapier nicht themati-

siert. Probleme bei der Erreichung der gesetzten Ziele im Zusammenhang mit
der Eurozone werden kaum, mit dem Stabilitäts- und Wachstumspakt über-
haupt nicht benannt. Im Gegenteil: Die Konsolidierung im Rahmen des Sta-
bilitäts- und Wachstumspakts wird zur unabdingbaren Voraussetzung von
Wachstum und Beschäftigung erklärt.

Drucksache 17/1170 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

4. Die „Schwerpunkte“ der neuen Strategie erinnern mit ihrer dreifachen Beto-
nung von Wachstum trotz der unterschiedlichen Attribute stark an die Lissa-
bon-Strategie. Die benannten fünf „Kernziele“ sind nicht wirklich neu, auch
wenn sie nunmehr alle quantifiziert sind und dadurch nachprüfbar sein sol-
len. Die angestrebte Reduzierung der Armut auf 60 Millionen Menschen ist
keinesfalls auch nur annähernd ausreichend. Die Bundesregierung ist zudem
im Rahmen der Vorbereitung auf den Gipfel dadurch hervorgetreten, dass sie
sich gegen eine Quantifizierung der Armutsreduzierung gewandt hat. Bei
den von der EU-Kommission vorgeschlagenen Maßnahmen zur Erreichung
der Ziele ist die Kontinuität zur Lissabon-Strategie ebenfalls unübersehbar.
Es wird weiter auf Flexibilisierung, Deregulierung und Liberalisierung ge-
setzt, obwohl dies schon in den letzten zehn Jahren nicht zur Erreichung der
selbst gesetzten Ziele geführt hat.

5. Die Vorschläge der EU-Kommission zielen überdies auf eine umgehende
„Ausstiegsstrategie“ im Hinblick auf die Maßnahmen zur Krisenbekämp-
fung. Damit will die EU- Kommission eine unbedingte und zügige Rückkehr
zum „Stabilitäts- und Wachstumspakt“. Eine Modifizierung dieses Instru-
ments ist ebenso wenig vorgesehen wie Mechanismen zur Gewährleistung
eines außenwirtschaftlichen Gleichgewichts im Rahmen der generellen
Wachstumsstrategie. Derartige Maßnahmen sind aber dringend erforderlich,
um der Wiederholung von Krisen vorzubeugen.

6. Die Europakammer des Bundesrates hat in ihrem Beschluss vom 16. März
2010 zu der Vorlage beschlossen: „Nicht akzeptabel ist […] aus der Sicht
des Bundesrates der enge Zeitplan, der eine Annahme der allgemeinen Aus-
richtung und der Oberziele der Strategie bereits im Europäischen Rat am
25./26. März 2010 vorsieht und einer umfassenden Einbeziehung des Bun-
desrates und einer seriösen Befassung mit einer 10-Jahres-Strategie ent-
gegensteht. Das Verfahren unterhöhlt zudem den Artikel 1 des Protokolls
Nr. 1 [über die Rolle der nationalen Parlamente in der EU] zum Vertrag von
Lissabon, wenn zwischen der vorgesehen Direktzuleitung und der Entschei-
dung auf Ratsebene weniger als drei Wochen liegen.“ (Bundesratsdruck-
sache 113/10 (Beschluss)).

7. Das Protokoll über die Rolle der nationalen Parlamente würde gleicherma-
ßen gegenüber dem Deutschen Bundestag verletzt, wenn die Entscheidung
über die Vorlage der EU-Kommission bereits am 25./26. März 2010 getrof-
fen würde. Auch läge eine Verletzung von § 9 Absatz 1 des Gesetzes über
die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in
Angelegenheiten der Europäischen Union vor, wenn die Bundesregierung
die Entscheidung nicht verschiebt, obwohl das in ihrer Macht liegt.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. sich dafür einzusetzen, dass eine Beschlussfassung des Europäischen Rates
über die Vorlage der EU-Kommission „Europa 2020 – Eine Strategie für ein
intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum“ auf dem Gipfel im
März 2010 nicht stattfindet;

2. sich für eine grundlegende Überarbeitung der Strategie Europa 2020 einzu-
setzen, die eine Abkehr von den derzeitigen Schwerpunkten Flexibilisie-
rung, Deregulierung und Liberalisierung beinhaltet. Stattdessen muss eine
Strategie formuliert werden, die ihre Schwerpunkte auf ökonomisch und so-
zial nachhaltiges Wachstum sowie auf Armutsbekämpfung, Beschäftigung
und sozialen Ausgleich legt. Zugleich ist auf eine Neuausrichtung des Stabi-
litäts- und Wachstumspakts und die Vereinbarung eines innereuropäischen

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/1170

außenwirtschaftlichen Stabilitätspakts zu dringen. Auch muss durch die
Aufnahme einer sozialen Fortschrittsklausel in das Primärrecht der EU der
Vorrang sozialer Grundrechte vor den Grundfreiheiten des Kapitals gesi-
chert werden;

3. dem Deutschen Bundestag die Möglichkeit zur Stellungnahme zu geben und
entsprechend der zu erwartenden Stellungnahme im Europäischen Rat tätig
zu werden.

Berlin, den 23. März 2010

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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