BT-Drucksache 17/11578

Rechte der Kinder von Strafgefangenen und Inhaftierten wahren

Vom 20. November 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/11578
17. Wahlperiode 20. 11. 2012

Antrag
der Abgeordneten Katja Dörner, Jerzy Montag, Ekin Deligöz, Kai Gehring, Agnes
Krumwiede, Monika Lazar, Tabea Rößner, Krista Sager, Ulrich Schneider, Arfst
Wagner (Schleswig) und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Rechte der Kinder von Strafgefangenen und Inhaftierten wahren

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Wird einem oder sogar beiden Eltern(teilen) eines Kindes wegen strafrechtlicher
Vorwürfe oder Verurteilungen die Freiheit entzogen, dann entsteht eine Lebens-
situation, in der die betroffenen Kinder und Jugendlichen besonders verletzlich
sind. Sie werden faktisch zu mitbestraften Dritten. In diesen für die Kinder
schwierigen Situationen und ihren unterschiedlichen Stadien, von der vorläufi-
gen Festnahme oder Verhaftung über die Verurteilung des Elternteils, die Besu-
che in der Haftanstalt bis zur Vorbereitung der Entlassung bzw. Resozialisie-
rung, sind Kinder in zahlreichen ihrer Rechte betroffen.

Bisher wurde die Lebenssituation dieser Kinder und Jugendlichen kaum öffent-
lich wahrgenommen.

Die Wahrung der Rechte der betroffenen Kinder ist hier jedoch von zentraler Be-
deutung. Diese finden sich sehr umfassend in der UN-Kinderrechtskonvention
(UN-KRK). Die Bundesrepublik Deutschland hat die UN-KRK ratifiziert; die
Konvention trat am 5. April 1992 – vor gut 20 Jahren – in Kraft. Seitdem stellt
insbesondere Artikel 3 Absatz 1 UN-KRK, der den Vorrang des Kindeswohls als
Grundprinzip der Konvention formuliert, Anforderungen an die nationalen
Rechtsordnungen. In der Bundesrepublik Deutschland ist er unmittelbar an-
wendbares Recht. Eine Umsetzung des Kindeswohlvorrangs verlangt letztlich
einen kindeswohlorientierten Umbau bzw. eine kindeswohlorientierte Anwen-
dung des nationalen Rechts.

Die vorrangige Berücksichtigung des Wohls von Kindern inhaftierter Eltern zu
gewährleisten und altersgerechte Lebensverhältnisse zu schaffen, ist eine be-
sondere Herausforderung. Die Vertragsstaaten haben gemäß Artikel 9 Absatz 3
UN-KRK das Recht des Kindes zu achten, das von einem oder beiden Eltern-
teilen getrennt ist, indem sie regelmäßige persönliche Beziehungen und unmit-
telbare Kontakte zu beiden Elternteilen ermöglichen, soweit dies nicht dem
Wohl des Kindes widerspricht.
Viele weitere UN-Kinderrechte sind tangiert: Das Kind muss vor allen Formen
der Diskriminierung geschützt werden (Artikel 2 UN-KRK); die Kinder haben
das Recht, ihre Meinung in allen sie berührenden Angelegenheiten frei zu äußern,
ihre Meinung ist dabei angemessen zu berücksichtigen (Artikel 12 UN-KRK) und
der Schutz der Privatsphäre, der Ehre (Artikel 16 UN-KRK) und vor Gewalt-
anwendung ist zu gewährleisten (Artikel 19 UN-KRK).

Drucksache 17/11578 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Die Kinderkommission des Deutschen Bundestages befasste sich im Rahmen
einer Expertenanhörung mit dem Thema. In einer Stellungnahme der Kinder-
kommission zum Thema „Kinder und Trauer“ wird ausgeführt:

„Europaweit wird die Zahl der Kinder, bei denen ein Elternteil in Haft ist, auf
800.000 geschätzt. Für Deutschland wird eine exakte Statistik über die Zahl der
Kinder inhaftierter Eltern bislang nicht geführt. Unter den Strafgefangenen in
Deutschland sind 95 Prozent männlich und 5 Prozent weiblich. Die Erhaltung
der Bezugsperson und die Verhinderung des Abbruchs der Beziehung des Kin-
des zu seinem inhaftierten Elternteil ist aus einer kindzentrierten Betrachtung
eine wichtige Herausforderung.

Nur wenige Einrichtungen in Deutschland praktizieren einen Mutter-Kind-Voll-
zug. Dabei sind die Bundesländer Niedersachsen und Sachsen beispielgebend.
Einzelne Modellprojekte in den Bundesländern sind von einer flächendecken-
den Versorgung weit entfernt. Damit bedeutet die Inhaftierung eines Elternteiles
in aller Regel eine dauerhafte Unterbrechung der Beziehung.

Kinder leiden dramatisch unter einer Verhaftungssituation. Es kann traumatisch
wirken, wenn Vater oder Mutter aus dem vertrauten Wohnumfeld in Handschel-
len und mit Gewalt im Angesicht des Kindes abgeführt werden“ (Kommissions-
drucksache 17/14).

Die Bundesregierung hat sich mit der Ratifizierung der UN-KRK verpflichtet,
die Kinderrechte umzusetzen. Im Koalitionsvertrag „Wachstum. Bildung. Zu-
sammenhalt“ kündigten CDU, CSU und FDP an, für eine Stärkung der Kinder-
rechte eintreten zu wollen und in allen Bereichen, insbesondere bei den Schutz-,
Förder- und Partizipationsrechten, kindgerechte Lebensverhältnisse schaffen zu
wollen. In dieser Wahlperiode hat die Bundesregierung aber bisher nur die Vor-
behaltserklärung gegenüber der UN-KRK zurückgenommen. Die Bundesländer
haben der Ratifizierung der Konvention seinerzeit zugestimmt, ebenso wie sie
mittlerweile der Rücknahme der Vorbehaltserklärung zugestimmt haben.

Die Umsetzung der Kinderrechte ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Die
Zustimmung der Länder zur Ratifizierung der UN-KRK und ihre Zustimmung
zur Rücknahme der Vorbehalte gegenüber der UN-KRK machen deutlich, dass
die Umsetzung der Konvention Aufgabe von Bund und Bundesländern ist. Dies
gilt in besonderem Maße, da Artikel 3 UN-KRK auch in den Bundesländern
unmittelbar anzuwendendes Recht ist. Auch muss die Bundesregierung gemäß
Artikel 44 Absatz 1 UN-KRK dem UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes
regelmäßig über die Maßnahmen, die sie zur Verwirklichung der Rechte getrof-
fen hat, berichten.

In den gesetzlichen Regelungen zum Strafvollzug in den Ländern findet die Tat-
sache, dass Strafgefangene Eltern sein können und somit Kinder von der Inhaf-
tierung betroffen sind, nur Berücksichtigung, wo kleine Kinder mit ihren Müt-
tern in Haftanstalten aufgenommen werden. Die Gesetze über den Strafvollzug
in Deutschland sind, was die Wahrung der Rechte von Kindern anbelangt (vor
allem bei der Inhaftierung von Vätern), weitgehend blind.

Gleiches gilt für die Untersuchungshaft. Auch in den untergesetzlichen Leit-
linien zur Umsetzung des Strafvollzugs werden die Belange von betroffenen
Kindern nicht berücksichtigt.

Auch deswegen ist es wichtig, die Kinderrechte auf Schutz, Förderung und Be-
teiligung im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland zu stärken. Dadurch
würde eine unübersehbare und bindende Orientierung auch für diesen Rechts-
bereich entstehen.

Um den Hilfebedarf zu ermitteln und die Versorgungssituation darzustellen, hat

die Europäische Union die COPING-Studie ins Leben gerufen, die in vier Län-
dern (darunter Deutschland) ca. 600 Kinder inhaftierter Eltern befragt hat. Auch

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/11578

wenn die Studie noch nicht abgeschlossen ist, so lässt sich schon jetzt zusam-
menfassend festhalten, dass es kein ausreichendes, flächendeckendes Angebot
an spezialisierten Hilfen für die Kinder von Strafgefangenen in Deutschland
gibt.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

• sich mit den Problemen und Rechten von Kindern inhaftierter Eltern ernst-
haft zu befassen und hierzu Forschungsvorhaben zu intensivieren, in denen
präzise und flächendeckende Daten über Kinder inhaftierter Eltern in
Deutschland gesammelt werden. Dazu müssen die Fragen gehören, wie viele
Inhaftierte mit ihren Kleinkindern in Haft gemeinsam unterbracht werden,
wie viele Kinder sie inner- und außerhalb der Strafanstalt haben, wie alt die
Kinder sind, wie die Kinder außerhalb der Strafanstalt untergebracht werden
und welcher Hilfs- und Unterstützungsbedarf sich potenziell aus den ver-
schiedenen Konstellationen ergibt;

• eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe einzurichten, um bundesweite Lösungen
und Qualitätskriterien zu entwickeln, wie den Rechten der betroffenen Kin-
der in allen Phasen der Inhaftierung ihrer Eltern soweit wie möglich entspro-
chen werden kann, und

im Rahmen dessen gemeinsam mit den Ländern

• bestehende spezifische Angebote durch Professionelle und Nutzer/Nutze-
rinnen der Angebote systematisch und wissenschaftlich zu evaluieren und
Angebote mit hohen Wirksamkeits- und Akzeptanzwerten als Good-practice-
Projekte stärker zu fördern und bekannt zu machen;

• darauf hinzuwirken, dass bundesweit spezifische Angebote bedarfsgerecht
ausgebaut werden, um im Rahmen der Strafvollstreckung bessere Möglich-
keiten bei der Wahl der Haftanstalt zu geben;

• ein Konzept für ein Family Mainstreaming zu entwickeln, dabei die Empfeh-
lungen des UN-Ausschusses zu berücksichtigen und dieses anschließend flä-
chendeckend zu etablieren;

• darauf hinzuwirken, dass der Zugang aller Betroffenen zu den benötigten
Angeboten der Jugendhilfe (insbesondere Erziehungs-, Paar- bzw. Ehebera-
tung, Unterstützung für Alleinerziehende etc.) gewährleistet ist;

• darauf hinzuwirken, den Anspruch von betroffenen Kindern und Jugend-
lichen auf Beratung (vor allem in Konflikt- und Notsituationen) gemäß § 8
des Achten Buches Sozialgesetzbuch zu gewährleisten;

• in Zusammenarbeit mit den Bundesländern das Risiko einer traumatischen
Situation für Kinder im Fall der Verhaftung eines Elternteiles durch bessere
entsprechende Schulung für Polizeibeamte zu reduzieren. Um das zu leisten,
muss die Bundesregierung auf die Bundesländer einwirken, dass sowohl die
ununterbrochene Kommunikation zwischen den Jugendämtern und der Poli-
zei als auch das frühzeitige Informieren des Jugendamtes in den Fällen gesi-
chert ist, in denen Kinder betroffen sein könnten;

• die Stigmatisierung der Kinder von Inhaftierten durch eine öffentliche Auf-
merksamkeitskampagne (Medienkampagne) zu mindern.

Berlin, den 19. November 2012

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

Drucksache 17/11578 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Begründung

Erst in den vergangenen Monaten hat das Thema Kinder inhaftierter Eltern an
öffentlichem Interesse gewonnen. Die „Süddeutsche Zeitung“ („Kinder leiden
unter Haftstrafe der Eltern – Papa ist auf Montage“, 28. März 2012) oder das
ZDF-Doku-Magazin 37 Grad („Mein Vater sitzt im Knast“, Folge vom 24. Mai
2011) berichteten über die besondere Situation dieser Kinder. Am 30. September
2011 hatte sich der UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes im Rahmen seines
„Day of General Discussion“ mit der Frage auseinandergesetzt, wie die Rechte
von Kindern inhaftierter Eltern berücksichtigt werden müssen. Über 200 Exper-
tinnen und Experten aus allen Kontinenten haben sich beraten und die Empfeh-
lungen des UN-Ausschusses zur Verwirklichung der Kinderrechte mitentwi-
ckelt.

Der Bundesregierung liegen indes keine Informationen darüber vor, wie viele
Kinder und Jugendliche in Deutschland einen (sorgeberechtigten) Vater oder eine
(sorgeberechtigte) Mutter haben, der oder die eine Haftstrafe verbüßt. In der jähr-
lichen Stichtagserhebung der Strafvollzugsstatistiken wird zwar der Familien-
stand, nicht aber die Anzahl der Kinder der Gefangenen erfasst (Antwort der Bun-
desregierung auf die Kleine Anfrage „Situation von Kindern, deren Eltern in Haft
sind“, Bundestagsdrucksache 17/7231).

Nach Schätzungen sind etwa zwei Drittel der männlichen Inhaftierten Familien-
väter. Der Anteil der inhaftierten Frauen, von denen viele Mütter sind, fällt ver-
gleichsweise gering aus.

Es könnten in Deutschland etwa 50 000 Kinder von der Inhaftierung eines Eltern-
teils oder beider Elternteile betroffen sein.

Die Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion BÜNDNIS
90/DIE GRÜNEN (Bundestagsdrucksache 17/7231) zeigt, dass das Wissen der
Bundesregierung um die Einhaltung der Rechte der Kinder von inhaftierten Eltern
völlig unzureichend ist. Auch in den sog. Staatenberichten gemäß Artikel 44
Absatz 1 UN-KRK findet die Situation von Kindern inhaftierter Eltern keine
Erwähnung. Die Bundesregierung räumt zwar dem Schutz der Familie gemäß
Artikel 6 des Grundgesetzes einen ausgesprochen hohen Stellenwert ein und ist
sich der überaus großen Bedeutung des Kontaktes zwischen Eltern und Kindern
auch während der Inhaftierung bewusst. Sie verweist jedoch ausschließlich
darauf, dass die Zuständigkeit für die Gesetzgebung und die Durchführung
des Strafvollzuges allein bei den Ländern und nicht beim Bund liegt (Antwort
der Bundesregierung zu Frage 3 der Kleinen Anfrage, Bundestagsdrucksache
17/7231). Damit schiebt sie die Verantwortung für die hier betroffenen Rechte
dieser Kinder vollständig auf die Länder ab.

Dabei regelt das Gesetz über den Vollzug der Freiheitsstrafe und der freiheits-
entziehenden Maßregeln der Besserung und Sicherung – kurz das Strafvollzugs-
gesetz (StVollzG) die Rahmenbedingungen und Grundsätze des Vollzugs und
gilt trotz des Wechsels der Gesetzgebungskompetenz für den Strafvollzug vom
Bund auf die Länder mit der Föderalismusreform in der Bekanntmachung vom
1. September 2006 (BGBl. I S. 2034) weiter, solange ein Land nicht von seiner
Gesetzgebungszuständigkeit Gebrauch gemacht hat. Das Strafvollzugsgesetz
hat somit Einfluss auf die Wahrung der Kinderrechte.

Als Vertragsstaat der UN-KRK hat sich Deutschland dazu verpflichtet, alle ge-
eigneten Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und sonstigen Maßnahmen zur Ver-
wirklichung der in diesem Übereinkommen anerkannten Rechte zu treffen (Ar-
tikel 4 UN-KRK). Die Maßnahmen sind unter Ausschöpfung der verfügbaren
Mittel und erforderlichenfalls im Rahmen der internationalen Zusammenarbeit
zu treffen.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/11578

Ziel muss es sein, die elterliche Verantwortung Strafgefangener und die Rechte
ihrer Kinder stärker zu berücksichtigen.

Für Kinder bedeutet die Trennung eines Elternteils immer ein traumatisches
Ereignis.

Bei fast allen Kindern entsteht durch die Inhaftierung eines Elternteils ein erheb-
licher Leidensdruck, der sich in Reaktionen von Trennungsschmerz, existentiel-
ler Angst vor Verlust einer Bindungsperson, Betroffenheit, Enttäuschung, Angst,
Trauer und Wut äußern kann. Verhaltensauffälligkeiten wie Leistungsabfall in
der Schule, Verunsicherung, depressive Stimmungslage, aggressives Verhalten,
Kontaktverweigerung und sozialer Rückzug gehören zu den „Verarbeitungs-
strategien“ des erlebten Traumas. Die weitere Entwicklung der Kinder ist durch
die Traumatisierung und die insgesamt belastete Familiensituation erheblich be-
einflusst.

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