BT-Drucksache 17/11376

Eigenständige Jugendpolitik - Selbstbestimmt durch Freiheit, Gerechtigkeit, Demokratie und Emanzipation

Vom 7. November 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/11376
17. Wahlperiode 07. 11. 2012

Antrag
der Abgeordneten Ulrich Schneider, Katja Dörner, Sven-Christian Kindler,
Ekin Deligöz, Monika Lazar, Memet Kilic, Kai Gehring, Agnes Krumwiede,
Tabea Rößner, Krista Sager, Arfst Wagner (Schleswig), Beate Walter-Rosenheimer
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Eigenständige Jugendpolitik – Selbstbestimmt durch Freiheit, Gerechtigkeit,
Demokratie und Emanzipation

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Jugendliche sind ein wichtiger Bestandteil unserer Gesellschaft, die Gegenwart
und Zukunft entscheidend mitgestalten. Die erhöhten Anforderungen, mit denen
sich viele Jugendliche derzeit konfrontiert sehen, sind auch auf eine steigende
Instrumentalisierung und Ökonomisierung jugendlicher Lebensrealität zurück-
zuführen. Die Erwartungen an gute Bildung sind immer mehr durch den An-
spruch bestimmt, auf den Arbeitsmarkt vorzubereiten; von vielen Jugendlichen
wird deshalb erwartet, jede Minute Freizeit möglichst gewinnbringend zu ver-
planen. Zeit, die zur freien Gestaltung verfügbar und essentiell für eine auto-
nome Persönlichkeitsentwicklung ist, wird deshalb weniger. Gleichzeitig gibt es
immer mehr Jugendliche mit geringen Chancen auf gesellschaftliche Teilhabe,
die sich vernachlässigt und von der Gesellschaft zurückgelassen fühlen.

Der Regierungskoalition gelingt es weder inhaltlich noch konzeptionell, die He-
rausforderungen, vor denen eine befähigende Jugendpolitik steht, zu meistern.
Sie nimmt nur eine bestimmte privilegierte Gruppe von Jugendlichen in den
Blick und tut zu wenig für umfassende Beteiligungsrechte junger Menschen.

Sich zu entwickeln, zu lernen und Fehler machen zu können, ist nur möglich,
wenn Jugendliche auch die Freiheit haben, unabhängig und selbstbewusst zu
handeln. Die gesellschaftliche Entwicklung weitet sich auch auf die Freizeit-
gestaltungsmöglichkeiten von Jugendlichen aus, so dass Aktivitäten zunehmend
eine verwertbare Dimension haben müssen. Jugendliche müssen aber das Recht
haben, Zeit für sich zu verwenden, unabhängig von einem absehbaren Nutzen.

Sozial benachteiligte Jugendliche wiederum haben oftmals eingeschränkte
Möglichkeiten, aus der Vielfalt der möglichen Freizeitgestaltungen frei wählen
zu können. Gerade sie müssen durch den Zugang zu Mobilitätsangeboten wie

einem bedarfsgerechten öffentlichen Nahverkehr, der Jugendlichen auch in
ländlichen Regionen ermöglicht, mobil zu sein, und sozialer Infrastruktur be-
fähigt werden, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Inklusive Sozialräume
sind dabei durchaus vielfältig und regional unterschiedlich gestaltbar. Doch sie
müssen sich an den Kriterien der Teilhabe sowie Partizipationsmöglichkeiten
messen lassen.

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Eine gute Jugendpolitik zielt auch auf Bildungsgerechtigkeit, soziale Chancen-
gleichheit, Gleichberechtigung der Geschlechter und die Einbeziehung von
jungen Menschen mit Behinderung und jungen Menschen mit Migrationshinter-
grund. Die junge Generation ist eine der am stärksten sozial gespaltenen Ge-
nerationen in unserer Gesellschaft, was eklatante Auswirkungen auf die Ent-
faltungsmöglichkeiten vieler hat. Diese soziale Spaltung muss überwunden und
gleiche Teilhabechancen für alle müssen ermöglicht werden. Der Bund hat den
Auftrag, sich für die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse in Deutsch-
land zu engagieren; allerdings gibt es in vielen Regionen kaum noch Jugendhilfe-
angebote. Kinder- und Jugendhilfe spielt aber eine essentielle Rolle, um Jugend-
liche in dieser wichtigen Phase ihres Lebens zu begleiten. Viele Jugendliche in
Deutschland haben zudem eine Migrationsgeschichte. Sie sind selbstverständ-
licher Teil unserer Gesellschaft. Dennoch müssen Kinder und Jugendliche mit
Migrationshintergrund in der Regel mit mehr und anderen Schwierigkeiten fertig
werden als Jugendliche ohne Migrationshintergrund. Jugendmigrantenselbst-
organisationen (JMSO) bieten jungen Menschen aus Einwandererfamilien die
Möglichkeit, sich für ihre spezifischen Bedürfnisse und Forderungen zu organi-
sieren. Die interkulturelle Öffnung aller Angebote im Bereich der Kinder- und
Jugendarbeit sowie spezielle Förderprogramme müssen ein zentraler Schwer-
punkt der Jugendpolitik im Bereich der Vielfaltspolitik sein. Ein weiteres gesell-
schaftspolitisches Hindernis stellt die Optionsregelung dar, die Jugendliche mit
Migrationshintergrund mit der Volljährigkeit zu einer Entscheidung zwischen
ihrem deutschen Pass und der Staatsangehörigkeit ihrer Eltern zwingt.

Jugendliche einzubinden ist für eine sinnvolle Jugendpolitik eine der wichtigs-
ten Herausforderungen. Dazu müssen neben einer Senkung des Wahlalters auf
allen politischen Ebenen Möglichkeiten und Strukturen des Mitentscheidens ge-
schaffen werden. Jugendliche müssen immer dort beteiligt werden, wo sie direkt
oder auch künftig betroffen sind. Partizipation und politische Teilhabe von
Jugendlichen, die zu für Jugendliche spürbaren Ergebnissen führen, sind dabei
Grundvoraussetzung für alle anderen politischen Forderungen in der Jugend-
politik. Um dies zu institutionalisieren, sollten die Rechte von Kindern im
Grundgesetz gestärkt werden und zudem von einer Kampagne zur Bekanntma-
chung der Rechte von Kindern, eingebettet in eine Neuauflage des „Nationalen
Aktionsplans für ein kindergerechtes Deutschland 2005–2010“ (NAP), begleitet
werden.

Um Jugendliche zu befähigen, selber an politischen Entscheidungsprozessen
teilzunehmen, bedarf es eines sinnvollen Zusammenspiels formaler und nicht-
formaler Bildung, zum Beispiel durch die Unterstützung von Angeboten der
öffentlichen und freien Jugendarbeit und die Stärkung von Jugendorganisa-
tionen. Im Zuge dessen muss ein Ziel sein, zivilgesellschaftliches Engagement
von Jugendlichen zu ermöglichen. Jugendangebote müssen jedoch häufiger als
bisher selbstgestaltet, interessen- und bedürfnisorientiert sowie integrativ sein.

Um die Logik der Ökonomisierung der Jugendphase zu durchbrechen, bedarf es
sozialer Gerechtigkeit, Selbstverantwortlichkeit und Eigenständigkeit für Ju-
gendliche, eine qualitative Verbesserung der Bildungsangebote sowie Freiräume
für junge Menschen. Jugendpolitik muss zudem in erster Linie Beteiligung für
Jugendliche eröffnen, um ihnen ihre Mitsprachemöglichkeiten aufzuzeigen.
Entsprechende und zielgruppengerechte Informationen unterstützen Jugendliche
dabei, ihre Anliegen zur formulieren und sich politisch einzubringen. Wir wol-
len uns dafür einsetzen, dass sie dieses Angebot auch im Rundfunk finden. Der
öffentlich-rechtliche Rundfunk hat den Auftrag, alle Menschen anzusprechen
und in geeigneten Formaten mit Informations-, Bildungs- und Unterhaltungs-
angeboten zu versorgen. Die Akzeptanz des öffentlich-rechtlichen Rundfunks
ist jedoch gerade im jüngeren Publikum gering. Gerade einmal 5 Prozent der

jungen Menschen nennen ARD und ZDF ihr „liebstes Fernsehprogramm“. Um
den Jugendlichen ein adäquates und anspruchsvolles Programm und Informa-

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tionsangebot zu bieten, soll ihnen ein entsprechender trimedialer Kanal für die
Zielgruppe ab 14 Jahren zur Verfügung stehen. Dazu sollten auch bereits vor-
handene Angebote der einzelnen Landesrundfunkanstalten gebündelt werden.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. einen Gesetzentwurf vorzulegen, um das aktive Wahlalter auf 16 Jahre zu
senken,

2. bei der Novellierung des Bauplanungsrechts die Bedürfnisse von Jugend-
lichen stärker zu berücksichtigen,

3. auf die Länder einzuwirken, den öffentlichen Personennahverkehr jugendbe-
darfsgerecht auszubauen und spezielle, sozial verträgliche Angebote für Vor-
schulkinder sowie Schülerinnen und Schüler anzubieten,

4. Modelle zur Errichtung unabhängiger Beschwerdeinstanzen (Ombuds-
stellen) in der Kinder- und Jugendhilfe zu prüfen und zu unterstützen,

5. auf die Länder einzuwirken, dass diese sich für eine Stärkung der Jugend-
hilfeangebote für Jugendliche, insbesondere für flächendeckende, an die Be-
dürfnisse Jugendlicher angepasste Sozialarbeit engagieren,

6. einen Gesetzentwurf vorzulegen, um den integrationsschädlichen Options-
zwang im Staatsangehörigkeitsrecht zu streichen, der hier geborene Kinder
zu Deutschen zweiter Klasse macht,

7. sich für den Erhalt der verschiedenen Jugendprogramme auf EU-Ebene
einzusetzen, auf allen Ebenen darauf hinzuwirken, zivilgesellschaftliches
Engagement durch Freistellungen und Sonderurlaube in Betrieben, öffent-
licher Verwaltung und Schulen für Jugendliche zu ermöglichen,

8. die Kürzungen im Bereich der politischen Bildung und bei Jugendverbänden
zurückzunehmen und stattdessen vermehrt in politische Bildung und vor
allem in nichtformale Bildung zum Beispiel durch Organisationen der freien
Jugendarbeit zu investieren; ein besonderer Schwerpunkt sollte hier auf die
Förderung von JMSO in den Bereichen Projektförderung, Antragstellung und
Drittmittelakquise gelegt werden,

9. auf die Bundesländer einzuwirken, sich für die Einrichtung eines Jugend-
kanals der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten einzusetzen.

Berlin, den 6. November 2012

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

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