BT-Drucksache 17/11371

Entwurf eines ... Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes - Einführung von Volksabstimmungen bei Neufassung oder Änderungen der vertraglichen Grundlagen der Europäischen Union

Vom 7. November 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/11371
17. Wahlperiode 07. 11. 2012

Gesetzentwurf
der Abgeordneten Dr. Diether Dehm, Andrej Hunko, Thomas Nord,
Alexander Ulrich, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, Christine Buchholz,
Sevim Dag˘delen, Annette Groth, Heike Hänsel, Inge Höger, Harald Koch,
Stefan Liebich, Niema Movassat, Paul Schäfer (Köln), Katrin Werner und
der Fraktion DIE LINKE.

Entwurf eines … Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes – Einführung von
Volksabstimmungen bei Neufassung oder Änderungen der vertraglichen
Grundlagen der Europäischen Union

A. Problem

Nach dem gegenwärtig herrschenden Verfassungsverständnis sind Volks-
abstimmungen, außer zur Neugliederung des Bundesgebiets nach Artikel 29
des Grundgesetzes (GG) sowie zum Inkrafttreten einer neuen Verfassung nach
Artikel 146 GG, ausgeschlossen, obwohl Artikel 20 Absatz 2 GG besagt, dass
das Volk seine Staatsgewalt nicht nur durch Wahlen und besondere Organe der
Gesetzgebung, sondern auch durch Abstimmungen ausübt.

Eine Ergänzung des Grundgesetzes zur Einführung von Volksinitiativen, Volks-
begehren und Volksentscheiden ist bisher noch nicht zustande gekommen.
Mehrfach wurden von verschiedenen Fraktionen in verschiedenen Wahlperio-
den Vorlagen zur generellen Einführung der Volksabstimmung eingebracht. Die
Ergänzung der parlamentarischen Demokratie durch Elemente der direkten
Demokratie ist also eine unter den im Bundestag vertretenen Parteien verbreitete
Auffassung. Die Fraktion DIE LINKE. hat dazu in der 17. Wahlperiode wieder-
holt einen Gesetzentwurf eingebracht (Bundestagsdrucksache 17/1199).

In der 16. Wahlperiode hatte die Fraktion DIE LINKE. erneut Gesetzentwürfe
im Hinblick auf den Vertrag zur Änderung des Vertrags über die Europäische
Union (EU) und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft
durch den Vertrag von Lissabon eingebracht, die aber im Bundestag keine Mehr-
heit fanden (Bundestagsdrucksachen 16/7375 und 16/13928).

Angesichts der zur Bewältigung der Wirtschafts- und Finanzkrise der EU getrof-
fenen und noch zu treffenden Entscheidungen, die das Leben der Bürgerinnen
und Bürger zutiefst berühren, besteht erneut dringender Handlungsbedarf, um

Volksabstimmungen in Angelegenheiten der Europäischen Union verfassungs-
rechtlich zu ermöglichen. Grundlegende Entscheidungen wie die über den Fis-
kalpakt, über den ESM-Vertrag (ESM = Europäischer Stabilitätsmechanismus)
und über die Änderung von Artikel 136 AEUV (Vertrag über die Arbeitsweise
der Europäischen Union) sollten nicht von Bundestag und Bundesrat allein ge-
troffen, sondern zusätzlich auch den Bürgerinnen und Bürgern zur direkten und
verbindlichen Mitentscheidung vorgelegt werden. Darüber hinaus ist die Öff-

Drucksache 17/11371 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

nung des Grundgesetzes für Volksabstimmungen in EU-Angelegenheiten auch
vor dem Hintergrund des strukturellen Demokratiedefizits der EU ein Weg, den
Bürgerinnen und Bürgern mehr Einfluss zu ermöglichen. Viele Bürgerinnen und
Bürger sowie Verbände und Bewegungen der Zivilgesellschaft fordern ein
solches Mitentscheidungsrecht. Nur so kann die demokratische Legitimität der
Europäischen Union gewährleistet werden. Artikel 79 Absatz 3 GG bleibt unbe-
rührt. Volksabstimmungen, durch die die in den Artikeln 1 und 20 niedergeleg-
ten Grundsätze berührt würden, sind unzulässig.

B. Lösung

Ergänzung des Artikels 23 GG durch die Einführung von Volksabstimmungen
über die vertraglichen Grundlagen der EU.

C. Alternativen

Keine.

D. Kosten

Die Kosten lassen sich nicht genau beziffern. Sie sind mit den Kosten, die für
die Durchführung einer Bundestagswahl anfallen, vergleichbar.

Berlin, den 7. November 20

Dr. Gregor Gysi und Frak
rungsnummer 100-1, veröffentlichten bereinigten Fassung,
das zuletzt durch … geändert worden ist, wird wie folgt ge-
ändert:

1. Nach Absatz 1 wird folgender Absatz 1a eingefügt:

„(1a) Die Zustimmung der Bundesrepublik Deutsch-
land zu Neufassung oder Änderungen der vertraglichen
Grundlagen der Europäischen Union und zu in ihrer
Wirkung gleichartigen Verträgen, durch die dieses
Grundgesetz seinem Inhalt nach geändert oder ergänzt
wird, bedarf der Annahme durch eine Volksabstimmung.
Das Ergebnis der Volksabstimmung ist verbindlich. Die
Annahme erfolgt mit der Mehrheit der abgegebenen
Stimmen bei einer Beteiligung von mindestens einem
Viertel der zum Europäischen Parlament Wahlberechtig-
ten. Das Nähere regelt ein Bundesgesetz, das der Zu-
stimmung des Bundesrates bedarf.“

2. Der bisherige Absatz 1a wird Absatz 1b.

Artikel 2
Inkrafttreten

Dieses Gesetz tritt am Tag nach der Verkündung in Kraft.

12

tion
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/11371

Entwurf eines … Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes – Einführung von
Volksabstimmungen bei Neufassung oder Änderungen der vertraglichen
Grundlagen der Europäischen Union

Vom …

Der Bundestag hat mit Zustimmung des Bundesrates das
folgende Gesetz beschlossen; Artikel 79 Absatz 2 des
Grundgesetzes ist eingehalten:

Artikel 1
Änderung des Grundgesetzes

Artikel 23 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik
Deutschland in der im Bundesgesetzblatt Teil III, Gliede-

sonstigen besonderen Näheverhältnis zum Recht der Euro-
päischen Union stehen“ (BVerfG, 2 BvE 4/11 vom 19. Juni
2012), also in ihrer Wirkung EU-Verträgen gleichkommen.
Sie berühren den Grundrechtsschutz der Bürgerinnen und
Bürger, die Stellung der Bundesrepublik Deutschland als
demokratischer föderaler Rechts- und Sozialstaat und die
Volkssouveränität. In seinem Urteil vom 30. Juni 2009 hat
das Bundesverfassungsgericht betont, dass bei der Verwirk-
lichung der europäischen Vereinigung auf der Grundlage
einer Vertragsunion souveräner Staaten in den Mitgliedstaa-
ten ein ausreichender Raum zur politischen Gestaltung der
wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Lebensverhält-
nisse bleiben müsse (BVerfG, 2 BvE 2/08 vom 30. Juni 2009,
Absatz 249). Zu den wesentlichen Bereichen demokratischer
Gestaltung gehörten u. a. die Einnahmen und die Ausgaben
(BVerfG, ebd., Absatz 249). Nach dem Urteil des Bundes-
verfassungsgerichts vom 12. September 2012 (2 BvR 1390/
12) sind die Gesetze zur Änderung von Artikel 136 AEUV
und zur Ratifizierung des ESM-Vertrags und des Fiskalpakts
zwar verfassungsgemäß. Es steht aber außer Zweifel, dass
diese völkerrechtlichen Regelungen von grundsätzlicher Be-
deutung sind. An solchen und ähnlichen Entscheidungen
sollten die Bürgerinnen und Bürger durch Volksabstimmung
beteiligt werden. Nur dadurch kann die EU hinreichend de-
mokratisch legitimiert werden. Die notwendige Ratifikation
durch den Bundestag, den Bundesrat und den Bundesprä-
sidenten genügt dazu nicht. Um klare Rechtsverhältnisse zu
schaffen und Unsicherheiten zu vermeiden, welche Sachver-
halte einer Volksabstimmung unterliegen müssen, wird vor-
gesehen, dass alle Neufassungen und Änderungen der ver-
traglichen Grundlagen und gleichgearteten völkerrecht-
lichen Regelungen der Bevölkerung zur Entscheidung vor-
zulegen sind.

Artikel 20 GG bestimmt, dass die Staatsgewalt „vom Volke
in Wahlen und Abstimmungen … ausgeübt“ wird. Das
Grundgesetz sieht also neben der repräsentativen Demokra-
tie auch die Möglichkeit von Elementen der partizipativen
Demokratie vor. So regelt Artikel 29 GG den Volksent-
scheid zur Neugliederung des Bundesgebietes. Die Veran-
kerung von Volksabstimmungen zu Neufassung oder Ände-

B. Einzelbegründung

Zu Artikel 1 (Änderung des Grundgesetzes)

Der neue Absatz 1a des Artikels 23 GG führt das zwingende
verfassungsrechtliche Erfordernis ein, über die Neufassung
oder Veränderungen der vertraglichen Grundlagen der EU
und gleichartigen völkerrechtlichen Verträgen, durch die
das Grundgesetz seinem Inhalt nach geändert oder ergänzt
wird, eine Volksabstimmung durchzuführen. Die Volksab-
stimmung ist kein Ersatz für die erforderliche parlamentari-
sche Entscheidung durch ein Zustimmungsgesetz, sondern
ein zusätzliches Votum der abstimmungsberechtigten Bür-
gerinnen und Bürger. Der Volksentscheid soll jedoch nicht
nur konsultative, sondern rechtlich verbindliche Wirkung
für den Deutschen Bundestag, den Bundesrat und den Bun-
despräsidenten haben.

Das Quorum der Beteiligung eines Viertels der Wahlberech-
tigten zum Europäischen Parlament an der Volksabstim-
mung ist ausreichend. Es entspricht dem in Artikel 29 GG
vorgesehenen Quorum für Volksentscheide zur Neugliede-
rung des Bundesgebietes.

Wer in Deutschland an der Wahl des Europäischen Parla-
ments teilnehmen kann, soll auch an einer Volksabstim-
mung über europäische Angelegenheiten teilnehmen kön-
nen. Unionsbürgerinnen und Unionsbürger, die ihren Wohn-
sitz in der Bundesrepublik Deutschland haben, sind folglich
abstimmungsberechtigt.

In dem Ausführungsgesetz sollte auch die Möglichkeit gere-
gelt werden, die Volksabstimmung in der Bundesrepublik
Deutschland mit Referenden in anderen Mitgliedstaaten
zeitlich zu koordinieren. Ferner erscheint es sinnvoll, Rege-
lungen zu treffen, die eine mehrfache Beteiligung an Volks-
abstimmungen in verschiedenen Mitgliedstaaten verhin-
dern.

Zu Artikel 2 (Inkrafttreten)

Die Vorschrift regelt das Inkrafttreten des Gesetzes.
Drucksache 17/11371 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Begründung

A. Allgemeines

Die vertraglichen Grundlagen der Europäischen Union und
deren Änderungen greifen in die Verfassungsgrundsätze der
Bundesrepublik Deutschland ein. Dasselbe gilt für völker-
rechtliche Verträge, „wenn sie in einem Ergänzungs- oder

rungen der vertraglichen Grundlagen der EU und zu gleich-
artigen völkerrechtlichen Verträgen im Grundgesetz schließt
damit nahtlos an bereits vorhandene plebiszitär-partizipato-
rische Elemente im Grundgesetz an.

t mbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de

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