BT-Drucksache 17/1101

Für die Demokratisierung des Gewerkschaftsrechts in der Türkei

Vom 18. März 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/1101
17. Wahlperiode 18. 03. 2010

Antrag
der Abgeordneten Sevim Dag˘delen, Alexander Ulrich, Jan van Aken, Christine
Buchholz, Dr. Diether Dehm, Wolfgang Gehrcke, Annette Groth, Heike Hänsel,
Inge Höger, Andrej Hunko, Harald Koch, Stefan Liebich, Niema Movassat,
Thomas Nord, Paul Schäfer (Köln), Katrin Werner und der Fraktion DIE LINKE.

Für die Demokratisierung des Gewerkschaftsrechts in der Türkei

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Die Arbeits- und Einkommensbedingungen sowie die Rahmenbedingungen
für die Arbeit der Interessenvertretungen von Beschäftigten sind von zentra-
ler Bedeutung für die wirtschaftliche Kooperation der Bundesrepublik
Deutschland mit der Türkei.

2. Die mangelnde Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit der Gewerkschaf-
ten in der Türkei behindert eine effiziente Vertretung der Interessen von Ar-
beitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Insbesondere die massiven Privati-
sierungen zahlreicher staatlicher Betriebe in den letzten Jahren und die
darauffolgenden Massenentlassungen, wie die der 12 000 Arbeiterinnen und
Arbeiter nach dem Verkauf des staatlichen türkischen Tabak- und Alkohol-
monopols TEKEL an den Lucky-Strike-Produzenten British American
Tobacco im Jahr 2006, erschweren die Gewerkschaften bei ihrer Interessen-
wahrnehmung.

3. In seiner Entschließung vom 12. März 2009 zu dem Fortschrittsbericht 2008
über die Türkei stellte das Europäische Parlament fest, dass nach wie vor
„keine Fortschritte bei der Änderung der Vorschriften über gewerkschaftliche
Rechte erzielt“ wurden. Das türkische Parlament hat bis heute kein neues Ge-
werkschaftsgesetz verabschiedet, das den Übereinkommen der Internationa-
len Arbeitsorganisation (ILO) entspricht.

4. Unabhängige und starke Gewerkschaften werden von der türkischen Regie-
rung weiterhin als Gefahr wahrgenommen und nicht als Elemente einer de-
mokratischen Gesellschaft akzeptiert. Deshalb sind streikende Arbeiterinnen
und Arbeiter immer wieder dem brutalen Vorgehen der türkischen Polizei
und Gewerkschaften der staatlichen Willkür ausgesetzt, wie zuletzt die pro-
testierenden Arbeiterinnen und Arbeiter vom ehemals staatlichen Tabak-
konzern TEKEL.

5. Die so genannten Kopenhagener Kriterien beinhalten die staatliche Garantie
gewerkschaftlicher Betätigung und die Absicherung der Tarifautonomie. Die
Gewerkschaften in der Türkei können nach wie vor nur eingeschränkt tätig
sein. Um als Tarifpartner anerkannt zu werden, müssen sie einen Mindest-
organisierungsgrad von 10 Prozent der Beschäftigten in der jeweiligen Bran-
che vorweisen (10-Prozent-Klausel) und mindestens 51 Prozent der Beschäf-

Drucksache 17/1101 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

tigten eines Betriebs müssen in der gleichen Gewerkschaft organisiert sein.
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer müssen ihre Mitgliedschaft notariell
beglaubigen lassen, was mit Kosten in Höhe von etwa 30 TL (Türkische Lira)
verbunden ist. Ein Austritt kostet 120 TL. Die Mitgliedschaft wird außerdem
ministeriell registriert. Zwar ist das Streikrecht im Allgemeinen gewährt, darf
aber nur im Zusammenhang mit aktuellen Tarifverhandlungen angewendet
werden. Warn-, General- oder Unterstützungsstreiks sind strikt verboten.
Wenn Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auch nur einen Tag streiken,
verlieren sie alle Ansprüche auf Arbeitslosenunterstützung, falls sie inner-
halb der nächsten sechs Monate arbeitslos werden.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. sich dafür einzusetzen, dass legitime Proteste von Arbeiterinnen und Arbei-
tern nicht kriminalisiert werden, wie es kürzlich bei dem Arbeitskampf der
Beschäftigten des ehemals staatlichen Tabakkonzerns TEKEL der Fall war;

2. darauf zu drängen, dass die türkische Regierung ein Beschäftigungsangebot
den TEKEL-Arbeiterinnen und -Arbeitern in Übereinstimmung mit den bei
der Internationalen Arbeitsorganisation verankerten und international aner-
kannten Arbeits- und Vereinigungsrechten für Arbeitnehmerinnen und Ar-
beitnehmer vorlegt;

3. in Gesprächen mit der türkischen Regierung die Polizeigewalt gegen Ge-
werkschafterinnen und Gewerkschafter und andere Demonstrantinnen und
Demonstranten im Rahmen von Streiks deutlich zu kritisieren;

4. im Rahmen der bilateralen Beziehungen mit der Türkei und auf EU-Ebene
die Demokratisierung des Gewerkschaftsrechts nach den Konventionen der
Internationalen Arbeitsorganisation als Voraussetzung für einen EU-Beitritt
einzufordern;

5. auf EU-Ebene sich dafür einzusetzen, dass die Probleme der Gewerkschaften
in der Türkei in künftigen Fortschrittsberichten ausführlicher thematisiert
und noch deutlicher in den Mittelpunkt gestellt werden. Insbesondere die
mangelnde Versammlungs- bzw. Vereinigungsfreiheit sollte hierbei im Vor-
dergrund stehen;

6. im bilateralen Rahmen darauf hinzuwirken, dass die türkische Regierung ge-
meinsam mit den Gewerkschaften eine Lösung findet, die gewährleistet, dass
die Versammlungsfreiheit respektiert wird und am 1. Mai auf dem Taksim-
Platz in Istanbul friedliche Demonstrationen stattfinden können.

Berlin, den 18. März 2010

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Begründung

Vom 15. Dezember 2009 bis 2. März 2010 kämpften rund 12 000 Arbeiterinnen
und Arbeiter des ehemals staatlichen türkischen Tabak- und Alkoholmonopols
TEKEL sowie deren Familien landesweit um ihre Arbeitsplätze und Zukunft.
Tausende kamen in die türkische Hauptstadt Ankara, um gegen die Folgen der
Privatisierung ihrer Betriebe (Schließung der 40 Lagerstätten, Massenentlassun-
gen) zu protestieren. Unter Einsatz von Schlagstöcken, Pfefferspray und Was-
serwerfern versuchte die Polizei, ihren Widerstand zu brechen.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/1101

Die türkische Regierung bot mit einer Frist bis zum 2. März 2010, nachdem im
Jahr 2006 das staatliche türkische Tabak- und Alkoholmonopol TEKEL an den
Lucky-Strike-Produzenten British American Tobacco verkauft wurde und dieser
neue Eigentümer die Arbeitsverträge nicht übernahm, den Arbeiterinnen und
Arbeitern die Übernahme in den öffentlichen Dienst im Rahmen eines so ge-
nannten Sozialplans, den sogenannten 4C-Status an. Dieses 4C-Modell sieht den
Verzicht auf tarifliche Rechte wie Anspruch auf Urlaub und Lohnfortzahlung im
Krankheitsfall, auf zehn Monate befristete Arbeitsverträge und damit keine dau-
erhafte Beschäftigung, eine Lohnkürzung um mehr als die Hälfte, keinen Kün-
digungsschutz und den Verlust eines Teils von Rentenansprüchen vor. Wer nicht
vor Fristablauf einen Antrag auf Einstellung auf der Basis dieses Regierungsan-
gebots (4C-Status) stellte, sollte jeden Anspruch verlieren. Die 12. Kammer des
Obersten Verwaltungsgerichts der Türkei hat in ihrem Urteil vom 1. März 2010
die von der türkischen Regierung gesetzte Frist für ungültig erklärt. Bis zum
1. April 2010 hat die Gewerkschaft der ehemals bei TEKEL Beschäftigten, Tek-
Gida-Is, ihre Protestaktionen ausgesetzt.

Das türkische Recht, das Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern das Recht auf Ent-
lassung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aufgrund einer Gewerkschafts-
mitgliedschaft bei Zahlung von Entschädigungen einräumt, verstößt eindeutig
gegen das ILO-Übereinkommen 98 Artikel 1 Absatz 2 Satz b. Das türkische
Beamtenrecht (das Beamtengesetz mit der Nummer 657) sieht vor, dass verbe-
amtete Beschäftigte staatlicher Betriebe, die nach deren Privatisierung in andere
öffentliche Betriebe transferiert werden (4C-Modell), nicht in Gewerkschaften
eintreten dürfen. Auch dies ist ein eindeutiger Verstoß gegen das ILO-Überein-
kommen 98 Artikel 1 Absatz 2 Satz b. Konkrete Pläne zur Beseitigung dieser
Verstöße stehen nicht auf der Agenda der türkischen Regierung. Ganz im Ge-
genteil hält sie an den gesetzlichen Regelungen fest, wie wir es bei dem aktuel-
len Beispiel des Protests der TEKEL-Arbeiterinnen und -Arbeiter erleben.

Die deutsch-türkischen Wirtschaftsbeziehungen und ihre Entwicklung bilden
eine tragende Säule der bilateralen Beziehungen. In den letzten Jahren nahm das
bilaterale Handelsvolumen in beide Richtungen deutlich zu. 2008 blieb es trotz
der internationalen Finanzkrise mit 24,8 Mrd. Euro nur geringfügig unter dem
Rekordwert von 2007 (24,9 Mrd. Euro). Deutschland stellt die größte Zahl der
ausländischen Firmen, die in der Türkei Direktinvestitionen getätigt haben. Die
Zahl deutscher Unternehmen bzw. türkischer Unternehmen mit deutscher
Kapitalbeteiligung in der Türkei ist in den vergangenen Jahren auf knapp 3 955
gestiegen. Die Betätigungsfelder deutscher Unternehmen reichen von der indus-
triellen Erzeugung und dem Vertrieb sämtlicher Produkte bis zu Dienstleistungs-
angeboten aller Art. Darüber hinaus wird die Türkei auch für Deutschland im-
mer wichtiger als Energiekorridor (z. B. RWE-Beteiligung am Konsortium für
den Bau der Nabucco-Pipeline). Als eine wichtige Handelspartnerin muss die
Bundesregierung bei ihren wirtschaftlichen Kooperationen darauf achten, dass
die internationalen Standards bei Arbeitnehmerinnen- und Arbeitnehmerrechten
und Gewerkschaftsrechten eingehalten werden und sich für deren Einhaltung
einsetzen.

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