BT-Drucksache 17/11001

Wissenschafts- und Forschungsfreiheit stärken, Rahmenbedingungen verbessern - Die Aufarbeitung der Geschichte der wichtigsten staatlichen Institutionen in Bezug auf die NS-Vergangenheit durch besseren Aktenzugang unterstützen und Bestandsaufnahmen zur Aufarbeitung der frühen Geschichte der Bundesministerien und -behörden sowie der vergleichbaren DDR-Institutionen beauftragen

Vom 16. Oktober 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/11001
17. Wahlperiode 16. 10. 2012

Antrag
der Abgeordneten Dr. Günter Krings, Michael Kretschmer, Dr. Hans-Peter Uhl,
Armin Schuster (Weil am Rhein), Wolfgang Börnsen (Bönstrup), Michael
Grosse-Brömer, Stefan Müller (Erlangen), Marco Wanderwitz, Volker Kauder,
Gerda Hasselfeldt und der Fraktion der CDU/CSU,
der Abgeordneten Dr. h. c. Wolfgang Thierse, Siegmund Ehrmann, Angelika
Krüger-Leißner, Thomas Oppermann, Ulla Schmidt (Aachen), Brigitte Zypries,
Dr. Frank-Walter Steinmeier und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Dr. Stefan Ruppert, Patrick Kurth (Kyffhäuser), Gisela
Piltz, Hartfrid Wolff (Rems-Murr), Manuel Höferlin, Jimmy Schulz, Serkan Tören,
Rainer Brüderle und der Fraktion der FDP

Wissenschafts- und Forschungsfreiheit stärken, Rahmenbedingungen
verbessern – Die Aufarbeitung der Geschichte der wichtigsten staatlichen
Institutionen in Bezug auf die NS-Vergangenheit durch besseren Aktenzugang
unterstützen und Bestandsaufnahmen zur Aufarbeitung der frühen Geschichte
der Bundesministerien und -behörden sowie der vergleichbaren
DDR-Institutionen beauftragen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Bei der Expertenanhörung am 29. Februar 2012 haben sich die als Sachverstän-
dige geladenen Wissenschaftler im Ausschuss für Kultur und Medien zum
Thema der Untersuchung personeller und institutioneller Kontinuitäten und
Brüche (gemäß den Anträgen auf Bundestagsdrucksachen 17/6297, 17/6318,
17/4696, 17/3748) für eine differenzierte und problemorientierte Aufarbeitung
der frühen Geschichte von einzelnen Bundesministerien, -behörden und -gerich-
ten sowie der Institutionen der DDR ausgesprochen.

Die Sachverständigen waren sich einig, dass das Thema mit einer rein quantita-
tiven Erfassung jener Personen in den Institutionen der Nachkriegszeit, die vor-
mals der NSDAP, ihren Unterorganisationen oder angeschlossenen Organisatio-
nen angehörten, nicht angemessen zu bearbeiten ist. Für die Aufarbeitung der
Geschichte unterschiedlicher Ministerien, Behörden, Gerichte und Rundfunkan-

stalten hat die Wissenschaft jeweils spezifische Fragestellungen zu entwickeln.
Einzelne Forschungsfragen wurden bereits durch behördlich eingesetzte Histo-
rikerkommissionen bearbeitet, deren Publikationen veröffentlicht wurden, wie
z. B. die unabhängige Studie über das Auswärtige Amt „Das Amt und die Ge-
schichte“. Unabhängige Forschung und die Achtung der grundgesetzlich garan-
tierten Forschungsfreiheit sind ein hohes Gut. Schon der Anschein staatlich ge-
steuerter und politisch instrumentalisierter Auftragsforschung muss angesichts

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der Geschichte der autoritären deutschen Staaten des 20. Jahrhunderts, in denen
immer wieder versucht wurde, ein bestimmtes Geschichtsbild „von oben“ zu
vermitteln, vermieden werden. So setzten auch die Experten in der Anhörung am
29. Februar 2012 auf die Selbstorganisation der Wissenschaft, die gezielte und
Erkenntnisgewinn bringende Einzelstudien begünstigt.

Die Experten stellten fest, dass im Westteil Deutschlands und Berlins der Auf-
bau einer stabilen freiheitlich-demokratischen und sozial-marktwirtschaftlichen
Ordnung früh gelungen sei. Neben der Betrachtung personeller Kontinuität stellt
sich demnach unter anderem die Frage, wie trotz solcher Kontinuitäten die Ent-
wicklung einer stabilen Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland im Ver-
gleich zur DDR gelingen konnte. Aufbauend auf die anerkannt gute Grund-
lagenforschung empfahlen die Sachverständigen konkret Transformationspro-
zesse und die Adaptionsfähigkeit von Funktionseliten in Demokratien und Dik-
taturen zu untersuchen sowie Kontinuitäten und Diskontinuitäten in der
Verwaltungspraxis zu erforschen. Neben den Demokratisierungsleistungen der
westdeutschen Exekutive und Legislative ist hier insbesondere die Rolle der
Bundesgerichte, allen voran des Bundesverfassungsgerichts, zu beleuchten, da
es mit wegweisenden Entscheidungen die Verfassungswirklichkeit und das Ver-
fassungsverständnis entscheidend geprägt hat. Die Experten sehen insbesondere
die umfassende Aufarbeitung seiner Nachkriegsgeschichte als wesentliches De-
siderat an. Es gilt hier wie in der Verwaltung, die Rolle der Gerichte im Aufbau
unserer Demokratie zu erkennen und einzuordnen. Forschungen mit solchen
Ansätzen hielten die Sachverständigen für wissenschaftlich wünschenswert und
gesellschaftspolitisch geeignet, um das demokratische Ethos in Deutschland zu
stärken und eine aufrichtige Selbstverständigung in der Gesellschaft über den
Weg zur Demokratie zu fördern. Sinnvoll ist es dabei auch, die vergleichende
Forschung zur Entwicklung der Institutionen und Eliten unter den diktatorischen
Bedingungen des DDR-Regimes stärker als bisher in den Blick zu nehmen. Ge-
rade aus dem Vergleich mit der gelungenen zweiten deutschen Demokratie lie-
ßen sich für die Demokratieförderung wertvolle Schlüsse ziehen.

Aufgabe des Staates und seiner Institutionen ist es, diese Arbeit der Wissen-
schaft durch die Bereitstellung der eigenen Überlieferungen zu fördern, wie dies
bereits im derzeitigen Gesetz über die Sicherung und Nutzung von Archivgut
des Bundes (Bundesarchivgesetz) und im Informationsfreiheitsgesetz grund-
sätzlich angelegt ist. Die Forschung muss dabei künftig noch besser als bisher
von Bundesministerien, -behörden und -gerichten unterstützt werden.

Als weitere Erleichterung für wissenschaftlich adäquate und gleichzeitig dem
öffentlichen Interesse entsprechende Untersuchungen sollten bestehendes Wis-
sen und aktuelles Erkenntnisinteresse zusammengeführt werden. Dies ist mittels
einer Bestandsaufnahme zu leisten, die einen Überblick über laufende und abge-
schlossene Forschungsprojekte zur Aufarbeitung der frühen Nachkriegsge-
schichte der Ministerien und Behörden in der Bundesrepublik Deutschland und
der DDR bietet.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. die zeitgeschichtliche Forschung zur Bundesrepublik Deutschland und zur
DDR durch Schaffung guter wissenschaftlicher Rahmenbedingungen zu för-
dern;

2. in ihren Bundesministerien und nachgeordneten Behörden für ein for-
schungsfreundliches Klima zu werben, das historische Forschung zu ange-
messenen Bedingungen, etwa durch Gebührenbefreiungen, ermöglicht;

3. bei den beiden mit Bundesmitteln geförderten zeitgeschichtlichen Instituten,

dem Institut für Zeitgeschichte München – Berlin (IfZ) und dem Zentrum für
Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF) e. V., im Rahmen der für die Insti-

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tute bestehenden Finanzierung eine Bestandsaufnahme in Auftrag zu geben,
die den aktuellen Forschungsstand und bestehenden Forschungsbedarf zur
Geschichte der staatlichen Behörden und Institutionen im frühen Nachkriegs-
deutschland (Bundesrepublik Deutschland und DDR) ermittelt;

4. die Novellierung des Bundesarchivgesetzes wissenschaftsförderlich zu ge-
stalten, ohne die schutzwürdigen Belange der betroffenen natürlichen und ju-
ristischen Personen in ihrer Beudeutung einzuschränken. Speziellere Bun-
desgesetze bleiben davon unberührt. Dabei sollen

a) insbesondere die Verfassungsorgane, Behörden und Gerichte des Bundes,
die unmittelbaren Körperschaften, Anstalten und Stiftungen zur Abgabe
ihrer Unterlagen nach spätestens 30 Jahren gesetzlich verpflichtet werden.
Sollten die abgabepflichtigen Institutionen ihre Unterlagen über die
30- Jahresfrist hinaus noch benötigen, kann eine Kopie der Unterlagen bei
ihnen verbleiben. In bestehenden Archiven können Unterlagen, die dort
zur Erfüllung öffentlicher Aufgaben benötigt werden, auch dauerhaft ver-
bleiben, sofern der Zugang in gleicher Weise wie beim Bundesarchiv ge-
währleistet wird;

b) zu den von den Bundesgerichten abzugebenden Unterlagen auch solche
gehören, die nicht Bestandteil der Verfahrensakten sind, soweit sie nicht
dem gerichtlichen Beratungsgeheimnis unterliegen;

5. neben der Novellierung des Bundesarchivgesetzes einen Gesetzentwurf zur
Änderung der Gesetze über die Bundesgerichte mit forschungserleichternden
Regelungen zur Einsicht in Akten abgeschlossener Verfahren vorzulegen. So
soll

a) das Recht auf Akteneinsicht zu Forschungszwecken gestärkt werden;

b) bei Abwägungsentscheidungen zu Akten des Bundesverfassungsgerichts
der bedeutenden Stellung dieses Gerichts und seiner Richter, die ebenso
wie Bundesminister und Bundeskanzler erheblichen Einfluss auf die Ent-
wicklung der Bundesrepublik Deutschland nahmen, und dem Umstand,
dass die Unterlagen „dienstlich“ erstellt wurden, im Hinblick auf For-
schungserleichterung besonderes Gewicht beigemessen werden.

Berlin, den 16. Oktober 2012

Volker Kauder, Gerda Hasselfeldt und Fraktion
Dr. Frank-Walter Steinmeier und Fraktion
Rainer Brüderle und Fraktion

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