BT-Drucksache 17/10841

Rehabilitierung und Entschädigung der verfolgten Lesben und Schwulen in beiden deutschen Staaten

Vom 26. September 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/10841
17. Wahlperiode 26. 09. 2012

Antrag
der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Jan Korte, Agnes Alpers, Nicole Gohlke,
Dr. Rosemarie Hein, Ulla Jelpke, Kathrin Senger-Schäfer, Raju Sharma,
Frank Tempel, Halina Wawzyniak und der Fraktion DIE LINKE.

Rehabilitierung und Entschädigung der verfolgten Lesben und Schwulen
in beiden deutschen Staaten

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Sowohl in der Bundesrepublik Deutschland als auch in der Deutschen Demo-
kratischen Republik wurden Männer wegen einvernehmlicher gleichgeschlecht-
licher sexueller Handlungen strafrechtlich verfolgt. Dies hat die Freiheit und die
Würde der Betroffenen beeinträchtigt und eine freie Entfaltung ihrer Persönlich-
keit unmöglich gemacht. Die Verfolgung einvernehmlicher gleichgeschlecht-
licher Beziehungen und die Festsetzung unterschiedlicher Schutzalter für Homo-
und Heterosexuelle war ein schwerer Verstoß gegen die Menschenrechte.

II. Der Deutsche Bundestag bedauert,

dass das Recht der Bürgerinnen und Bürger auf freie sexuelle Selbstbestimmung
in der Bundesrepublik Deutschland und in der Deutschen Demokratischen Re-
publik dadurch und so lange verletzt wurde, dass einvernehmliche gleich-
geschlechtliche sexuelle Handlungen zwischen Männern verfolgt und mit Strafe
bedroht waren. In diesem Zusammenhang besonders kritikwürdig ist die Tat-
sache, dass in der Bundesrepublik Deutschland bis 1969 sogar die strafverschär-
fende, nationalsozialistische Fassung der §§ 175 und 175a des Strafgesetzbuchs
(StGB) in Kraft blieb. Von 1968 bis 1994 galten unterschiedliche Schutzalters-
grenzen. § 175 verfolgte weiterhin männliche homosexuelle Handlungen zwi-
schen Männern bzw. Jugendlichen. Legalisiert wurden ab 1969 nur gleichge-
schlechtliche Handlungen zwischen erwachsenen Männern.

In der DDR wurde bereits ab 1950, nach einer Entscheidung des Kammerge-
richts, nur noch die Fassung des § 175 aus der Weimarer Zeit angewandt, aber
§ 175a in der Fassung von 1935 wurde beibehalten. Die Volkskammer der DDR
beschloss 1957 das Strafrechtsänderungsgesetz, welches zur Folge hatte, dass
die Strafverfolgungsbehörden von einer Verfolgung absehen konnten. Dies
setzte die Verfolgung gleichgeschlechtlicher Handlungen zwischen erwachse-

nen Männern nicht völlig außer Kraft, verringerte sie jedoch maßgeblich. 1968
wurde § 175 nicht in das StGB der DDR übernommen. Im neuen StGB wurden
nach § 151 StGB-DDR von 1968 bis 1988 unterschiedliche Schutzaltersgrenzen
für homo- und heterosexuelle Handlungen festgelegt und damit auch erstmals
gleichgeschlechtliche Handlungen zwischen Frauen strafrechtlich verfolgt,
wenn eine der Beteiligten unterhalb des Schutzalters lag.

Drucksache 17/10841 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Ebenso bedauert der Deutsche Bundestag die Diskriminierung und Unterdrü-
ckung gleichgeschlechtlicher Handlungen von Frauen, die, obschon weit gerin-
ger, aber dennoch in ihrer Selbstbestimmung eingeschränkt wurden. In der DDR
waren sie für kurze Zeit und auch nur dann, wenn eine Frau unterhalb des
Schutzalters lag, durch Strafe bedroht. Lesben wurden ebenfalls an der freien
Entfaltung ihrer Sexualität gehindert.

Der Deutsche Bundestag bekräftigt seine bereits am 7. Dezember 2000 mit den
Stimmen der Fraktionen CDU/CSU, FDP, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und PDS getroffene Bewertung, „dass durch die nach 1945 weiter bestehende
Strafdrohung homosexuelle Bürger in ihrer Menschenwürde verletzt worden
sind“ (Plenarprotokoll 14/140, Bundestagsdrucksache 14/4894).

Für Menschen jeglicher sexueller Identität gilt, dass die restriktive hetero-
sexuelle Norm in der Gesellschaft die Menschen an ihrer freien Entwicklung
und sexuellen Selbstfindung massiv gehindert hat.

III. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

einen Gesetzentwurf vorzulegen, der

1. die gesetzliche Rehabilitierung und Entschädigung aller Menschen vorsieht,
die aufgrund einer Strafbestimmung wegen gleichgeschlechtlicher Handlun-
gen in einer der beiden deutschen Staaten verurteilt wurden;

2. die entsprechenden Urteile aufhebt und die ihnen zugrunde liegenden Verfah-
ren einstellt;

3. den Betroffenen eine Entschädigung gewährt, die sich in ihrer Höhe mindes-
tens am Gesetz über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen
(StrEG) für Schäden einer ungerechtfertigten strafgerichtlichen Verurteilung
orientiert;

4. eine Regelung zur teilweisen Aufhebung dieser Urteile enthält, sofern einver-
nehmliche sexuelle Handlungen zwischen Männern nicht der einzige Grund
der Verurteilung waren und eine Regelung zur Entschädigung der von der
Strafverfolgung Betroffenen enthält. Etwaige weitergehende Entschädi-
gungsregelungen sollen davon unberührt bleiben;

5. eine Kommission einrichtet, die die Entrechtung, Verfolgung und Diskrimi-
nierung von Lesben, Schwulen und Transgendern sowie Transvestiten ins-
besondere in den 1950er- und 1960er-Jahren in beiden deutschen Staaten
untersucht. In die Kommission ist die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld ein-
zubinden.

Berlin, den 26. September 2012

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Begründung

In dem traurigen Kapitel der Verfolgung und Unterdrückung gleichgeschlecht-
lichen Begehrens in Deutschland stellt die strafrechtliche Verfolgung einver-
nehmlicher sexueller Handlungen zwischen volljährigen Männern in der Bundes-
republik Deutschland, aber auch in der Deutschen Demokratischen Republik
eine besonders düstere Episode der Nachkriegsgeschichte dar. Es dauerte in der

Deutschen Demokratischen Republik bis 1968 und in der Bundesrepublik

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/10841

Deutschland bis 1969, bis einvernehmliche sexuelle Handlungen zwischen er-
wachsenen Männern straffrei wurden. Die unterschiedlichen Schutzaltersgrenzen
für Homo- und Heterosexualität bestanden in der Deutschen Demokratischen
Republik bis 1988, in der Bundesrepublik Deutschland sogar bis 1994 fort.

Mit der Bezeichnung und Verurteilung gleichgeschlechtlichen Begehrens durch
die Medizin, die Psychiatrie und später das Rechtswesen im 19. Jahrhundert
wurde dieses pathologisiert. Homosexuelle wurden zu einer „Spezies“, die von
der als normal geltenden Heterosexualität abgegrenzt und kriminalisiert wurde.
Erst hiermit wurden die Homosexuellen zu einer (kriminalisierbaren) gesell-
schaftlichen Gruppe (Michel Foucault, Der Wille zum Wissen, Sexualität und
Wahrheit, Band 1, Frankfurt a. M. 1977, S. 58). 1871 wurde § 175 ins Strafge-
setzbuch des Deutschen Reiches aufgenommen, der „widernatürliche Unzucht,
welche zwischen Personen männlichen Geschlechts oder von Menschen mit
Thieren begangen wird“, mit Gefängnis bedrohte.

Trotz aller Bemühungen in der Weimarer Republik, die maßgeblich vom Institut
für Sexualwissenschaft um den Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld aus-
gingen, gelang es nicht, § 175 bis zur Machtübergabe an die Nationalsozialisten
zu Fall zu bringen. Vor dem Hintergrund progressiver Strafzweckdebatten
waren in der Weimarer Republik Anstrengungen zur Entkriminalisierung unter-
nommen worden. Mit der Wende zum 20. Jahrhundert wurde eine Tendenz zur
immer deutlicheren Verengung des Straftatbestandes durch Rechtsvergleichung
ermittelt. Strafrechtliche Reformdiskussionen führten in dieselbe Richtung.
Gustav Radbruch legte 1922 als Reichsjustizminister einen StGB-Entwurf vor,
der eine solche Strafvorschrift nicht mehr enthielt.

Kulminationspunkt jener Entwicklung war die Abstimmung im Strafrechtsaus-
schuss des Reichstages über die Pönalisierung der einfachen Homosexualität im
Rahmen der Strafrechtsreform am 8. Oktober 1929. Der Antrag auf ersatzlose
Streichung einer solchen Strafrechtsnorm wurde mit 15 zu 13 Stimmen ange-
nommen, wobei SPD, KPD, DDP und der Parteivorsitzende der DVP, Wilhelm
Kahl, dafür stimmten. Dennoch wurde § 175 StGB bis zum Ende der Weimarer
Republik nicht vollständig abgeschafft. Die Strafrechtsreform wurde aufgrund
der permanenten Notverordnungspraxis der späten Weimarer Republik nicht
mehr wirksam.

1935 verschärften die Nationalsozialisten § 175: Dies führt in der Praxis zu
einer Erhöhung des Strafmaßes und schon der Versuch einer Kontaktaufnahme
konnte zu einer Strafverfolgung führen. Über 50 000 Männer wurden zwischen
1933 und 1945 verurteilt, ca. 5 000 bis 10 000 von ihnen kamen in Konzentra-
tionslager, etwa 50 Prozent überlebten die Qualen nicht (Insa Eschebach, in:
diesb. (Hg.), Homophobie und Devianz, Berlin, 2012, S. 12). Frauen mit
einem gleichgeschlechtlichen Begehren wurden zwar weder strafrechtlich
noch systematisch verfolgt, doch bedeutete die Propagierung der traditionellen
Geschlechternormen durch die Nationalsozialisten zur Stützung der heteronor-
mativen Gesellschaftsstruktur für sie, dass sie dazu zwang, sich zu „maskie-
ren“. In Einzelfällen waren sie ebenfalls von Denunziation und anschließender
Verfolgung bedroht (Claudia Schoppman, Zeit der Maskierung, Berlin 1993).

Das Sexualverhalten veränderte sich in den Kriegsjahren, denn entgegen der
nationalsozialistischen Propaganda war ein heterosexuelles und auf die Fort-
pflanzung ausgerichtetes „gesittetes“ Eheleben nicht möglich. In der Folge war
es in beiden deutschen Staaten noch nicht entschieden, ob sich die Diskriminie-
rung des gleichgeschlechtlichen Begehrens unmittelbar fortsetzen sollte. Mit
Beginn der 1950er-Jahre kam es zu einer Wiederbelebung restriktiver Ge-
schlechternormen, wobei insbesondere christliche Gruppen die Aufrechterhal-
tung und Anwendung des § 175 in der Bundesrepublik Deutschland forderten

und gegen die Streichung des § 175 agierten. Sie wollten „die Sexualität wieder
in jenen Rahmen der Ehe zurück(zu)führen, den sie im Zuge des Dritten Reiches

Drucksache 17/10841 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

so unübersehbar verlassen hatte“ (Dagmar Herzog, Die Politisierung der Lust,
München 2005, S. 119).

Der Nationalsozialismus zerstörte die lebendige lesbische und schwule Kultur
der Weimarer Zeit. Die Infrastruktur des kulturellen Lebens, der „lesbischen“
und „schwulen“ Kneipen, Tanzsäle, Varietés und Beratungszentren war unwie-
derbringlich zerstört. Zudem waren Lesben und Schwule bzw. Menschen mit
einem gleichgeschlechtlichen Begehren nach 1945 eingeschüchtert und in ihrem
Selbstverständnis schwer verletzt. Auch die, die den Nationalsozialismus über-
lebten und nicht direkt verfolgt oder gar zwangskastriert wurden, waren oftmals
in ihrer Psyche gebrochen – aufgrund der Verfolgung und Diskriminierung. Um
so schlimmer wog, dass in beiden deutschen Staaten der Wiederaufbau einer les-
bischen und schwulen Infrastruktur, die für eine lesbische, schwule und Trans-
genderkultur so entscheidend ist, verhindert wurde.

Die Deutsche Demokratische Republik kehrte bereits 1950 mit einem Urteil des
Kammergerichts Berlin zur Weimarer Fassung des § 175 zurück, behielt aller-
dings § 175a in der Fassung von 1935 bei. Mit dem Strafrechtsänderungsgesetz
von 1957 wurde die Möglichkeit geschaffen, von einer Strafverfolgung abzuse-
hen, wenn eine gesetzwidrige Handlung mangels schädigender Folgen keine
Gefahr für die sozialistische Gesellschaft darstellte. Dies setzte § 175 faktisch
außer Kraft, da das Kammergericht Berlin gleichzeitig urteilte, „daß bei allen
unter § 175 alter Fassung fallenden Straftaten weitherzig von der Einstellung
wegen Geringfügigkeit Gebrauch gemacht werden soll“. Einvernehmliche sexu-
elle Handlungen waren damit ab Ende der 1950er-Jahre straffrei (vgl. Roman
Trips-Hebert: Strafrechtliche Sanktionierung homosexueller Handlungen in
Deutschland seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, Wissenschaftlicher Dienst
des Deutschen Bundestages WD 7 – 3000 – 09/12). 1968 wurden mit der Ein-
führung des § 151 im neuen Strafgesetzbuch einvernehmliche Handlungen zwi-
schen Erwachsenen bei Beibehaltung unterschiedlicher Jugendschutzgrenzen
für hetero- und homosexuelle Kontakte legalisiert. Es wird geschätzt, dass mehr
als 3 000 Schwule und (zu einem kleinen Teil) Lesben nach § 175 bzw. § 151
verurteilt wurden (nachgewiesen sind nur ca. 1 300 Verurteilungen). Doch Les-
ben und Schwule wurden weiterhin gesellschaftlich diskriminiert; ihnen war es
nahezu unmöglich, als Paar eine gemeinsame Wohnung zu finden oder offen mit
ihrer Homosexualität umzugehen. Auch die Selbstorganisation wurde ihnen
untersagt, da ihnen das Recht genommen wurde, Vereine zu gründen. Das nor-
mative Leitbild einer erfüllten Partnerschaft war monogam und heterosexuell
und schloss die Möglichkeit einer offenen schwulen wie lesbischen Beziehung
besonders in den 1950er- und 1960er-Jahren aus (Christian Schenk in: Lesben
und Schwule in der DDR, Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen-Anhalt – Hg. –, Halle
2008). Auch wenn das Ausmaß der strafrechtlichen Verfolgung homosexueller
Handlungen nicht mit der Bundesrepublik Deutschland zu vergleichen ist, so
wirkten die gesellschaftlichen Normen, die keine sexuelle Abweichung akzep-
tierten, z. T. stärker – insbesondere nach 1968 – repressiv auf Lesben, Schwule,
Transsexuelle und Transgender ein.

In der Bundesrepublik Deutschland wurde § 175 StGB bis 1969 unverändert in
der nationalsozialistischen Fassung angewandt. Allein in den ersten 15 Jahren
ihrer Existenz wurden in der Bundesrepublik Deutschland über 100 000 Ermitt-
lungsverfahren nach § 175 StGB eingeleitet, über 50 000 homosexuelle Männer
wurden von 1950 bis zur Entschärfung des § 175 StGB 1969 verurteilt. Auch
Menschen, die als Männer galten, sich aber wie Frauen fühlten bzw. diese Ge-
schlechtsidentität beanspruchten, wurden nach § 175 verfolgt. Diese sogenann-
ten Transvestiten waren somit ebenfalls der Verfolgung durch § 175 ausgesetzt.
1957 bestätigte das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) die Verfassungsmäßig-
keit des § 157 und machte deutlich, dass die lesbische Liebe nicht zu bestrafen

sei, wohl aber die schwule. Die unterschiedliche Behandlung männlicher und
weiblicher Homosexualität wurde biologistisch begründet mit dem „hemmungs-

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/10841

lose(n) Sexualbedürfnis“ des homosexuellen Mannes. Das BVerfG bestimmte
„die sittlichen Anschauungen des Volkes“ als Rechtsgut, das sich maßgeblich aus
den Lehren der „beiden großen christlichen Konfessionen“ ableite (BVerfG, 10.
Mai 1957 – 1 BvR 550/52).

Erst 1994 wurde der Paragraf endgültig aus dem Strafgesetzbuch gestrichen. Die
Volkskammer der DDR setzte bei den Verhandlungen zur Wiedervereinigung
durch, dass § 175 nicht für die neuen Bundesländer zu gelten habe.

Über lesbisches Begehren wurde sowohl in der DDR wie auch in der BRD weit-
gehend geschwiegen. Die Zerschlagung der lesbischen Kultur der Weimarer Re-
publik machte es für viele Frauen mit einem lesbischen Begehren schwierig, ihre
Liebe auch öffentlich zu leben; einige heirateten einen Mann, da eine Alternative
zur Ehe weder strukturell noch gesellschaftlich vorstellbar war. Dennoch gab es
zahlreiche Frauen, die in einer lesbischen Beziehung lebten, diese jedoch zu-
meist versteckten (Kirsten Plötz, Als fehle die bessere Hälfe, Königstein/Taunus
2005).

Mit dem Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der
Strafrechtspflege und von Sterilisationsentscheidungen der ehemaligen Erbge-
sundheitsgerichte vom 25. August 1998 wurden nicht zugleich die Urteile nach
§ 175 StGB pauschal für Unrecht erklärt. Zwar bot die Generalklausel die Mög-
lichkeit, solche Urteile durch Einzelfallentscheidung aufheben zu lassen, aber
die Erkenntnis, dass die Verurteilten grundsätzlich in ihren Menschenrechten
verletzt worden waren, fehlte. Daher ersuchte der Deutsche Bundestag mit Be-
schluss auf Bundestagsdrucksache 14/4894 am 7. Dezember 2000 die Bundes-
regierung, ein entsprechendes Gesetz vorzulegen. Gleichzeitig bekannte er, „dass
durch die nach 1945 weiter bestehende Strafdrohung homosexuelle Bürger in
ihrer Menschenwürde verletzt worden sind.“

Auf Initiative der damaligen Koalitionsfraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN beschloss der Deutsche Bundestag am 17. Mai 2002 das Gesetz zur
Änderung des Gesetzes zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile
in der Strafrechtspflege (NS-AufhGÄndG). Damit wurden die §§ 175 und 175a
Nummer 4 des Reichsstrafgesetzbuchs (RStGB) in die Liste der Gesetze auf-
genommen, auf deren Grundlage Urteile „unter Verstoß gegen elementare
Gedanken der Gerechtigkeit […] zur Durchsetzung oder Aufrechterhaltung des
nationalsozialistischen Unrechtsregimes aus politischen, militärischen, rassi-
schen, religiösen oder weltanschaulichen Gründen ergangen sind“, und pauschal
aufgehoben.

In der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte
(EGMR) ist anerkannt, dass eine strafrechtliche Verfolgung einvernehmlicher
homosexueller Handlungen zwischen Männern menschenrechtswidrig ist. Erst-
mals 1981 (Dudgeon gegen Vereinigtes Königreich, EGMR, NJW 1984, 541)
und seither in ständiger Rechtsprechung (Norris gegen Irland, EuGRZ 1992, 477;
Modinos gegen Zypern, ÖJZ 1993, 821) hat der EGMR festgestellt, dass eine
Strafbedrohung einvernehmlicher homosexueller Handlungen zwischen Er-
wachsenen die seit 1952 gültige Europäische Menschenrechtskonvention, insbe-
sondere das in Artikel 8 garantierte Recht auf Achtung des Privatlebens, verletzt.

Dem Gesetzgeber kann es schon im Hinblick auf die Europäische Menschen-
rechtskonvention und ihre Auslegung durch den EGMR nicht versagt sein, eine
pauschale Aufhebung der auf § 175 StGB beruhenden Urteile zu beschließen.
Den Verurteilten sind aufgrund des erlittenen Unrechts schwere physische, psy-
chische und Vermögensschäden entstanden. Dies rechtfertigt es, den Betroffe-
nen eine angemessene Entschädigung zu leisten. Der EGMR hat regelmäßig
Länder wegen der Verfolgung von einvernehmlichen homosexuellen Handlun-
gen zwischen Männern zu Entschädigungen verurteilt und dies auch „nur“ bei

Vorliegen einer unterschiedlichen Schutzaltersgrenze bei homo- und hetero-

Drucksache 17/10841 – 6 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

sexuellen Sexualkontakten (L. und V. gegen Österreich, nos. 39392/98 und
39829/98 (Sect. 1) (bil.), ECHR 2003-I – (9. Januar 2003); Woditschka und
Wilfling gegen Österreich, nos. 69756/01 und 6306/02 (Sect. 1) (Eng) – (21. Ok-
tober 2004); H. G. und G. B. gegen Österreich, nos. 11084/02 und 15306/02
(Sect. 1) (Eng) – (2. Juni 2005); F. L. gegen Österreich 2005). Je nach Schwere
der Beeinträchtigung durch das Strafrecht bewegten sich die Entschädigungs-
summen zwischen 5 000 und 75 000 Euro.

In einem langwierigen Prozess hat der Deutsche Bundestag Stück für Stück ein-
gestanden, dass die Verfolgung und Unterdrückung einvernehmlicher gleich-
geschlechtlicher Handlungen ein Unrecht und eine Verletzung grundlegender
Menschenrechte waren. Der EGMR bestätigte, dass bereits die Anwendung
unterschiedlicher Schutzalter für homo- und heterosexuelle Kontakte menschen-
rechtswidrig ist. Als Rechtsprinzip gilt: Im Nachhinein wird grundsätzlich keine
Rehabilitierung und Entschädigung für Verurteilungen gewährt, nur weil aus
geänderter Erkenntnis die Strafbarkeit beseitigt wird. Dies kann aber hier nicht
gelten, weil ein Grundrecht entzogen wurde und die Betroffenen bei einer Ver-
letzung des Gesetzes bestraft wurden. Auch ein Verweis darauf, dass das Bun-
desverfassungsgericht 1957 die strafrechtliche Verfolgung männlicher Homo-
sexualität für rechtens erklärte und es dem Gesetzgeber nicht obliege, dem zu
widersprechen, ist unzureichend. Das BVerfG hat seine Entscheidung von 1957
selbst revidiert, da es homosexuelle Lebensgemeinschaften unter den Schutz
von Artikel 2 Absatz 1 GG stellte (BVerfG 47, 46, 73), was seitdem ständige
Rechtsprechung ist (vgl. Manfred Bruns, Die strafrechtliche Verfolgung homo-
sexueller Männer in der BRD nach 1945, in: Berliner Senatsverwaltung für
Arbeit, Integration und Frauen (Hg.), Dokumente lesbisch-schwuler Emanzipa-
tion 28, Berlin 2012, S. 42) Zudem kommt die Expertise von Prof. Dr. Dr. Hans-
Joachim Mengel (Februar 2012), die der Berliner Senat in Auftrag gegeben hat,
zu dem Ergebnis: „Der § 31 Abs. 1 BVerfGG steht einer Aufhebung der Urteile
und einer Rehabilitierung der Betroffenen nicht entgegen. Die Schwere der Ver-
letzung seiner Pflichten durch das BVerfG rechtfertigt vielmehr die nachträg-
liche Aufhebung der Strafgerichtsurteile. Eine Aufhebung des Urteils des
BVerfG zu den §§ 175 ist nicht erforderlich“ (www.berlin.de/imperia/md/content/
lb_ads/gglw/veroeffentlichungen/doku29____175_mengel_bf.pdf?download.
html).

Der Gesetzgeber steht somit in der Pflicht, die auch zur damaligen Zeit EU-kon-
ventionswidrigen und grundgesetzwidrigen Urteile pauschal zu revidieren und
den Betroffenen Entschädigungen zu gewähren, da die Verletzung der Men-
schenrechte evident ist. Der Gesetzgeber vermeidet damit unnötigen Einzelfall
bezogenen bürokratischen Aufwand. Die Rehabilitierung und Entschädigung
der verfolgten Lesben und Schwulen bzw. von Menschen, die gleichgeschlecht-
lich einvernehmliche Handlungen vollzogen, ist deshalb notwendig. Es ist an
der Zeit, auch die letzten Konsequenzen aus dieser Erkenntnis zu ziehen und die
Opfer rechtlich und moralisch zu rehabilitieren und materiell zu entschädigen.
Damit kann ein deutliches Zeichen gesetzt werden, dass die erkämpfte sexuelle
Vielfalt der heutigen Zeit ein errungener Wert ist. „Aus dem Opferdiskurs
könnte mithin auch ein gesellschaftlicher Kommunikationsprozess entstehen,
der versucht das, was Verfolgung und Diskriminierung gesellschaftlich an Scha-
den angerichtet haben, ebenso ins öffentliche Bewusstsein zu rücken und damit
Prozesse gesellschaftlicher Veränderung in Gang zu setzen“ (Andreas Pretzel,
Wiedergutmachung unter Vorbehalt, in: Volker Weiß, Andreas Pretzel, Ohn-
macht und Aufbegehren, Hamburg 2010). Die Zustimmung zu diesem Antrag
wäre ein deutliches Signal für Gegenwart und Zukunft.

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.