BT-Drucksache 17/10709

Todesfälle bei klinischen Studien deutscher Pharmaunternehmen in Entwicklungs- und Schwellenländern

Vom 14. September 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/10709
17. Wahlperiode 14. 09. 2012

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Niema Movassat, Annette Groth, Heike Hänsel,
Christine Buchholz, Andrej Hunko, Wolfgang Gehrcke, Stefan Liebich,
Kathrin Vogler, Katrin Werner und der Fraktion DIE LINKE.

Todesfälle bei klinischen Studien deutscher Pharmaunternehmen in
Entwicklungs- und Schwellenländern

Laut der niederländischen Patientenrechtsorganisation Wemos Foundation testen
Pharmakonzerne pro Jahr derzeit etwa 20 000 Medikamente in Schwellen-
ländern in klinischen Tests – Tendenz steigend. Gleichzeitig ist die Anzahl der
beantragten Studien in der Europäischen Union (EU) zwischen 2007 und 2011
von 5 000 auf 2 800 gefallen (Berliner Zeitung vom 18. Juli 2012). Die Pharma-
industrie versucht mit der Verlagerung in Entwicklungs- und Schwellenländern
vor allem Geld zu sparen. Die klinischen Tests an Probanden verursachen rund
die Hälfte der Kosten, die bei der Entwicklung einer neuen Arznei anfallen und
weit über 100 Mio. Euro betragen können.

Pharmakonzerne lassen derzeit alleine in Indien etwa 1 900 Studien mit circa
150 000 Probanden durchführen (vgl. www.cbgnetwork.org/4590.html). Die
Anzahl der Todesfälle bei klinischen Studien ist in den vergangenen Jahren be-
ständig gewachsen, erklärte Indiens Gesundheitsminister Ghulam Nabi Azad
im August 2011. Nach Angaben der indischen Regierung starben zwischen
2007 und 2010 während oder nach einer Medikamentenstudie: 2007 132 Men-
schen, 288 im Jahr 2008 und 637 im Jahr 2009. Allein im ersten Halbjahr 2010
gab es 463 Todesfälle (vgl. SPIEGEL ONLINE vom 9. Mai 2012). Eine Auf-
stellung des Drugs Controller General of India (DCGI) für 2011 zeigt, dass
allein bei Pharmatests von Novartis 57 Testpersonen starben. Auf der Liste
folgen Bayer und Pfizer mit je 20 Todesfällen und Bristol-Myers Squibb mit 19
(vgl. www.cbgnetwork.org/4590.html).

Die deutsche Firma Bayer AG beauftragte in Indien in den vergangenen Jahren
Studien mit der Krebsarznei Nexavar, dem Augenpräparat VEGF, dem Throm-
bosepräparat Xarelto, dem Diabetikum Glucobay, dem Potenzmittel Levitra, der
Hormonspirale Mirena, dem Blutermedikament Kogenate und dem Röntgen-
kontrastmittel Gadovist. Allein bei den von Bayer in Auftrag gegebenen Studien
kamen zwischen 2007 und 2010 138 Inderinnen und Inder ums Leben. Häufig
findet keine Obduktion zur Ermittlung der Todesursache statt. Mindestens vier
Testpersonen starben an Nebenwirkungen des Gerinnungshemmers Xarelto
(vgl. www.cbgnetwork.org/4590.html).

Nicht alle Todesfälle stehen in Zusammenhang mit den getesteten Medikamen-
ten. Die Mehrheit der Todesfälle ist auf Vorerkrankungen der Probanden wie
etwa Krebs oder Herz-Kreislauf-Probleme zurückzuführen. Der Pharmakonzern
Bayer AG und andere Pharmaunternehmen verweigern aber konsequent die
Herausgabe genauer Zahlen zu Tests und Teilnehmern. Diese mangelnde Trans-

Drucksache 17/10709 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

parenz nährt maßgeblich den Verdacht, die Pharmaindustrie führe aus Gründen
der Profitmaximierung unverantwortliche Menschenversuche in den Ländern
des Südens durch. In den meisten Entwicklungs- und Schwellenländern gibt es
keine wirksamen Kontrollen, keine Anlaufstellen für Geschädigte und keine Of-
fenlegungspflichten. Oft informieren Ärzte ihre häufig analphabetischen Patien-
tinnen und Patienten gar nicht darüber, dass sie an einer Versuchsreihe teilneh-
men. Über die Gefahren der getesteten Wirkstoffe findet keinerlei Aufklärung
statt.

Im Jahr 2009 finanzierte die Bill & Melinda Gates Foundation eine von der ge-
meinnützigen Organisation Path in Indien durchgeführte sogenannte Beobach-
tungsstudie, in deren Rahmen mehr als 24 000 Mädchen im Alter von zehn bis
14 Jahren mit Gardasil (MSD Sharp & Dohme) und Cervavix (GlaxoSmith-
Kline) gegen humane Papillomaviren geimpft wurden. Sie stehen im Verdacht,
Gebärmutterhalskrebs zu verursachen. Während der Studie verstarben sieben
Mädchen. Obwohl die Todesfälle laut Path und der indischen Regierung nicht
mit der Impfung in Verbindung standen, entwickelte sich der Fall in Indien zu
einem Pharmaskandal. Es stellte sich heraus, dass weder eine Nachbeobachtung
stattfand noch Nebenwirkungen erfasst wurden, noch eine unabhängige Unter-
suchung der Todesfälle stattgefunden hatte. Path hatte außerdem zahlreiche
Impfungen durchgeführt, ohne die Erlaubnis der Eltern einzuholen. Stattdessen
hatten Lehrer die Einwilligungen unterschrieben. IM Jahr 2011 unterzeichneten
das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
und die Bill & Melinda Gates Foundation eine Vereinbarung über die engere
Zusammenarbeit. Das sogenannte Memorandum of Understanding umfasst unter
anderem auch den Bereich der globalen Gesundheitspolitik (vgl. SPIEGEL
ONLINE vom 9. Mai 2012).

In den USA hat der Oberste Gerichtshof erst letzten Monat eine Klage nigeria-
nischer Familien gegen den weltgrößten Pharmakonzern Pfizer für zulässig er-
klärt. Ende der 90er-Jahre soll dieser während einer Meningitisepidemie
illegale Medikamententests an 200 Kindern durchgeführt haben. Laut Anklage-
schrift starben elf Kinder an den Folgen des verabreichten Medikaments
Trovan, zahlreiche weitere verloren ihr Gehör, erblindeten oder trugen Gehirn-
schäden oder Lähmungen davon. Das sogenannte Alien Tort Statute ermöglicht
es Ausländern, Verstöße gegen das Völkerrecht auch vor US-Gerichten zu ver-
handeln. In Europa und Deutschland bestehen derartige Klagemöglichkeiten
derzeit nicht (Frankfurter Rundschau vom 1. Juli 2010).

Die Europäische Kommission plant derzeit eine Erleichterung notwendiger
pharmazeutischer Tests an Menschen. Sie will die bürokratischen Hürden bei
multinationalen klinischen Studien innerhalb der EU deutlich reduzieren und
damit der fortschreitenden Verlagerung in Ländern außerhalb Europas entgegen-
wirken. Gleichzeitig beabsichtigt die Kommission, den Schutz von Versuchs-
personen bei Tests außerhalb der EU dem heutigen EU-Standard anzugleichen.
Außerdem soll eine öffentlich zugängliche Datenbank über die Nebenwirkun-
gen von getesteten Wirkstoffen Auskunft geben.

Tests an unwissenden Patientinnen und Patienten in Entwicklungs- und
Schwellenländern gefährden auch die Gesundheit der Menschen in Deutsch-
land, weil kein offener Austausch zwischen Patientinnen und Patienten und
dem leitenden Arzt zum Beispiel über Nebenwirkungen stattfindet. Sie ver-
stoßen außerdem gegen die im Jahr 1964 vom Weltärztebund beschlossenen
„Ethischen Grundsätze für die medizinische Forschung am Menschen“.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/10709

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Welche deutschen Pharmaunternehmen führen nach Kenntnis der Bundes-
regierung klinische Medikamententests außerhalb Europas durch?

a) Wie viele Studien laufen derzeit?

b) In welchen Ländern finden sie statt?

c) Wie viele Versuchspersonen sind beteiligt?

2. Ergeben sich nach Ansicht der Bundesregierung aus Arzneimittelzulassun-
gen auf Basis klinischer Studien an unwissenden Teilnehmerinnen und Teil-
nehmern im europäischen Ausland negative Auswirkungen für die Medika-
mentensicherheit auch in Europa und Deutschland (bitte begründen)?

3. Kann die Europäische Zulassungsbehörde für Medikamente Arzneimittel
zulassen, wenn die klinischen Tests vorher gegen die im Jahr 1964 vom
Weltärztebund beschlossenen „Ethischen Grundsätze für die medizinische
Forschung am Menschen“ verstoßen haben?

4. Welche Position hat die Bundesregierung zur Auslagerung medizinischer
Studien in Ländern ohne wirksame Kontrollmechanismen?

5. In welcher Weise arbeiten deutsche Behörden mit der indischen Regierung
zusammen, um die hohe Zahl von Geschädigten zu verringern?

6. Steht die Bundesregierung diesbezüglich mit deutschen Pharmaunterneh-
men in Kontakt, und wie gestaltet sich der Austausch hierzu konkret?

7. Welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung bezüglich der zunehmen-
den Auslagerung klinischer Studien durch die Pharmaindustrie an soge-
nannte Contract Research Organisations, die die ohnehin nicht gegebene
Transparenz auf diesem Gebiet zusätzlich erschweren?

8. Liegen den deutschen Behörden Informationen zu den Schadensfällen vor,
die bei klinischen Studien deutscher Unternehmen im Ausland auftreten?

9. Welchen Handlungsbedarf und welche Handlungsmöglichkeiten sieht die
Bundesregierung, um die diesbezügliche Datenlage zu verbessern?

10. Wie hoch ist nach Kenntnis der Bundesregierung der Anteil von Todes-
fällen durch Nebenwirkungen der untersuchten Medikamente im Vergleich
zu Todesfällen durch die jeweiligen Vorerkrankungen?

11. Kontrolliert das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte
(BfArM) oder eine andere Behörde den ordnungsgemäßen Ablauf der Ver-
suche?

12. Sieht die Bundesregierung angesichts der Todesfälle einen Anlass zu straf-
rechtlichen Ermittlungen (bitte begründen)?

13. Wie beurteilt die Bundesregierung das aus Sicht der Fragesteller eklatante
Missverhältnis zwischen der immensen Anzahl der Versuche mit immer
denselben Wirkstoffen und der geringen Anzahl an wirklich neuen innova-
tiven Medikamenten?

14. Hält die Bundesregierung die mittels Probanden aus Armutspopulationen
der Dritten Welt gewonnenen Testergebnisse für bedingungslos auf Patien-
ten aus den Industrieländern übertragbar oder zweifelt sie an der Aussage-
kraft der Versuche und sieht aufgrund dessen die Gefahr von unerwünsch-
ten Arzneiwirkungen steigen (bitte begründen)?

15. Hält die Bundesregierung die geleisteten Entschädigungszahlungen – im
Falle von Bayer waren es umgerechnet 5 250 Dollar pro Verstorbenem –
für ausreichend (bitte begründen)?

Drucksache 17/10709 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
16. Welche grundsätzliche Position hat die Bundesregierung bezüglich der zu-
nehmenden Verlagerung von klinischen Tests in Ländern außerhalb der EU?

17. Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus der Praxis auch
deutscher Pharmaunternehmen, keinerlei Angaben über die Anzahl der
aktuell an Studien teilnehmenden Menschen oder die auftretenden Neben-
wirkungen zu veröffentlichen?

18. Hat die Bundesregierung im Falle des Pharmaskandals der von der
Bill & Melinda Gates Foundation finanzierten Beobachtungsstudie in
Indien ihre bestehenden guten Kontakte zur Stiftung genutzt, um zur Auf-
klärung des Falles beizutragen, und wenn nein, warum nicht?

19. Ist für die Bundesregierung der genannte Pharmaskandal Anlass genug, die
enge Kooperation mit der Bill & Melinda Gates Foundation im Bereich
„globale Gesundheitspolitik“ kritisch zu hinterfragen, und wenn nein,
warum nicht?

20. Beabsichtigt die Bundesregierung, einen Gesetzentwurf vorzulegen, der es
ähnlich dem Alien Tort Statute ausländischen Opfern von Medikamenten-
tests deutscher Pharmaunternehmen ermöglicht, gegen diese gegebenen-
falls in Deutschland Klage einzureichen, und wenn nein, warum nicht?

21. Welche Position hat die Bundesregierung bezüglich der Absicht der Euro-
päischen Kommission, bürokratische Hürden bei der Genehmigung klini-
scher Studien innerhalb der EU abzubauen, um eine weitere Verlagerung in
Entwicklungs- und Schwellenländern zu verhindern?

22. Welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung aus der Absicht der Euro-
päischen Kommission, die Sicherheitsstandards zum Schutz von Versuchs-
personen außerhalb der EU den hohen Richtlinien innerhalb der EU anzu-
gleichen?

23. Wie könnte die Einhaltung dieser Sicherheitsstandards bei klinischen
Medikamentenstudien in Entwicklungs- und Schwellenländern nach An-
sicht der Bundesregierung wirksam kontrolliert werden?

Berlin, den 14. September 2012

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.