BT-Drucksache 17/10618

Probleme und Risiken einer Versicherungspflicht für Selbständige mit Wahlfreiheit des Vorsorgeprodukts

Vom 6. September 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/10618
17. Wahlperiode 06. 09. 2012

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Matthias W. Birkwald, Diana Golze, Klaus Ernst, Katja Kipping,
Jutta Krellmann, Cornelia Möhring, Yvonne Ploetz, Harald Weinberg, Jörn
Wunderlich, Sabine Zimmermann und der Fraktion DIE LINKE.

Probleme und Risiken einer Versicherungspflicht für Selbständige mit
Wahlfreiheit des Vorsorgeprodukts

Die Bundesregierung plant im Rahmen ihres Rentenpakets, das auch die Zu-
schussrente beinhaltet, eine Altersvorsorgepflicht für Selbständige einzuführen.
Ein eigener Gesetzentwurf hierzu soll erst später eingebracht werden, es liegen
aber bereits Eckpunkte des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales vor,
aus denen die Konzeption hervor geht. Es soll demnach eine Wahlfreiheit zwi-
schen der Versicherung in der gesetzlichen Rentenversicherung und der pri-
vaten Absicherung über den Versicherungsmarkt geben. Selbständige unter
30 Jahren und neu in die Selbständigkeit Eintretende sollen zu einer Basisabsi-
cherung für das Alter und bei Erwerbsminderung verpflichtet werden. Die Bei-
träge werden nach Schätzung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales
zwischen 350 und 400 Euro im Monat betragen (Antwort der Bundesregierung
auf die Schriftliche Frage 33 des Abgeordneten Matthias W. Birkwald auf
Bundestagsdrucksache 17/10012).

Private, kapitalgedeckte Vorsorgeprodukte bieten jedoch nicht nur in Zeiten in-
stabiler Finanzmärkte keine ausreichende Sicherheit und häufig nur sehr ge-
ringe reale Renditen. Auch haben sie bei weitem nicht das Leistungsspektrum
der gesetzlichen Rentenversicherung. Hier ist etwa der Schutz bei Erwerbsmin-
derung und für Hinterbliebene automatisch gegeben, ohne dass hierfür geson-
derte bzw. höhere Beiträge abzuführen wären. Am Versicherungsmarkt ist das
Risiko der Erwerbsminderung bzw. der Berufsunfähigkeit häufig nur zu hohen
Extrakosten und für Menschen mit Vorerkrankungen oder für Risikoberufe
meist gar nicht zu versichern. Die von der Bundesregierung angedachte Ver-
sicherungspflicht würde deshalb zu einer sozialen Auslese zu Lasten der ge-
setzlichen Rentenversicherung führen, die die Beitragszahlenden belastet.

Für die Absicherung der Selbständigen im Rahmen der gesetzlichen Rentenver-
sicherung spricht aber noch viel mehr: Hier werden nämlich Zeiten der Ausbil-
dung, Erwerbslosigkeit, Kindererziehung und Pflege von Angehörigen bei der
Rentenberechnung anerkannt. Private Versicherungen kennen alle diese solida-
rischen Ausgleichselemente nicht. Auch werden die Leistungen der Rentenver-

sicherung jährlich angepasst, so dass sie die Inflation ausgleichen und Teilhabe
am Zuwachs an gesellschaftlichem Reichtum gewährleistet ist. Schließlich
trägt die Rentenversicherung im Alter die Hälfte der Beiträge zur Krankenver-
sicherung der Rentner. Alle diese und weitere Komponenten können und wer-
den über ein Versicherungsprodukt der Privatwirtschaft nicht abgedeckt.

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Selbständigkeit ist außerdem häufig nur eine Episode in der Erwerbsbiografie
und wechselt sich mit Phasen abhängiger Beschäftigung, Erwerbslosigkeit und
prekärer Beschäftigung ab. Bei einer Absicherung über den Versicherungs-
markt kommt es dann zu Mehrfachbelastungen oder diskontinuierlichen Versi-
cherungsverläufen – etwa wenn der private Vertrag parallel zu den Rentenbei-
trägen aus abhängiger Beschäftigung bedient, ruhend gestellt oder aufgelöst
werden muss. Zudem entstehen Schutzlücken, wenn etwa Wartezeiten in der
gesetzlichen Rentenversicherung nicht erreicht werden.

Im Ergebnis spricht alles dies für die Einbeziehung der bisher nicht abgesicher-
ten Selbständigen in die gesetzliche Rentenversicherung, wie es in den meisten
Ländern Europas der Regelfall ist. Eine Versicherungspflicht für Selbständige
über private Lösungen über den Versicherungsmarkt zu organisieren, ist dage-
gen weder im Interesse der Selbständigen noch ökonomisch rational und effi-
zient. Bestenfalls dient es den singulären Geschäftsinteressen der Versiche-
rungswirtschaft, die die Bundesregierung und die sie tragenden Koalitionsfrak-
tionen der CDU/CSU und FDP mit ihren Plänen zur Altersvorsorgepflicht für
Selbständige und zur Zuschussrente in der bisherigen Form bedient.

Wir fragen die Bundesregierung:

Alterssicherung Selbständige

1. Welche langfristige durchschnittliche Verzinsung wird in den von der Bundes-
regierung (laut Antwort der Bundesregierung auf die Schriftliche Frage 33 des
Abgeordneten Matthias W. Birkwald auf Bundestagsdrucksache 17/10012)
für die Schätzung des von den Selbständigen zu zahlenden Beitrags von 250
Euro zu einer privaten Rentenversicherung und von 100 Euro zu einer pri-
vaten Berufsunfähigkeitsversicherung zugrunde gelegten Angeboten der
Versicherer angenommen?

2. Wie bewertet die Bundesregierung diese Annahmen, und sieht sie darin be-
rücksichtigt, dass die „häufig getroffene Annahme einer langfristigen no-
minalen Kapitalmarktrendite von 4 Prozent bis 4,5 Prozent […] gesamt-
wirtschaftlich vor dem Hintergrund der Entwicklung der Wachstumsraten
äußerst problematisch [ist]“ (Joebges, Heike/Meinhardt, Volker/Rietzler,
Katja/Zwiener, Rudolf: Kapitaldeckung in der Krise. Die Risiken privater
Renten- und Pflegeversicherungen, WISO-Diskurs Juli 2012, S. 17)?

3. Wie haben sich die Renditen privater Altersvorsorgeprodukte (aufgeschlüs-
selt nach Kapital- und Risikolebensversicherungen, Riester-Renten, Basis-
Renten sowie privaten Berufs- bzw. Erwerbsunfähigkeitsversicherungen) in
den vergangenen 20 Jahren entwickelt (Zeitreihe bitte in Jahresschritten aus-
weisen), und welche Entwicklung ist aus Sicht der Bundesregierung mittel-
und langfristig zu erwarten?

4. Wie müssen nach Ansicht der Bundesregierung die Annahmen zur lang-
fristigen nominalen Kapitalmarktrendite, die in der Vergangenheit mit 4
bis 4,5 Prozent getroffen wurden, vor dem Hintergrund der Finanzkrise und
der realen Renditeentwicklung kapitalgedeckter Vorsorgeprodukte korrigiert
werden?

Wenn hier kein Korrekturbedarf gesehen wird, wie wird dies begründet?

5. Wie stellen sich die Renditen privater Altersvorsorgeprodukte, ihre Ent-
wicklung über die vergangenen zehn Jahre und ihre voraussichtliche künf-
tige Entwicklung im Vergleich zur internen Rendite (vgl. Deutsche Renten-
versicherung: Rendite der gesetzlichen Rentenversicherung, Service 4/2012)
der gesetzlichen Rentenversicherung dar?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/10618

6. Wie beurteilt die Bundesregierung die Absenkung des Höchstrechnungs-
zinses (häufig auch Garantiezins genannt) von 4 auf 1,75 Prozent innerhalb
der vergangenen zwölf Jahre, und hegt sie angesichts dieser Absenkung
Befürchtungen, dass private Vorsorgeprodukte die ihnen im Rahmen des
Paradigmenwechsels in der Alterssicherungspolitik zugedachte Funktion
der Ergänzung der gesetzlichen Rente zu einem Lebensstandard sichernden
Gesamtversorgungsniveau nicht erfüllen könnten?

Wenn nein, welche begründeten Anhaltspunkte hat sie für ihren Optimis-
mus?

7. Wie hat sich die Überschussbeteiligung privater Vorsorgeprodukte entwi-
ckelt, und was ist hierfür mittel- und langfristig vor dem Hintergrund der
andauernden Finanzkrise zu erwarten?

8. Wie hoch sind nach Kenntnis der Bundesregierung die Verwaltungskosten
privater Altersvorsorgeprodukte und Berufs- bzw. Erwerbsunfähigkeitsver-
sicherungen im Vergleich zu denen der gesetzlichen Rentenversicherung
(bitte in Prozent der Ausgaben bzw. des Beitragsvolumens beziffern; bitte
sowohl Durchschnitte als auch Spannbreite der Verwaltungskosten für ein-
zelne Produktarten ausweisen)?

9. Wie bewertet die Bundesregierung die Ergebnisse einer aufwändigen Un-
tersuchung von Altersvorsorgeprodukten für Selbständige der Zeitschrift
„ÖKO- TEST“, nach denen die gesetzliche Rentenversicherung höhere Er-
träge als alle untersuchten privaten Vorsorgeprodukte und selbst bei Ein-
berechnung der Überschussbeteiligung noch eine um 0,6 Prozentpunkte
höhere Rendite erreicht als der beste private Anbieter (Der Staat zahlt mehr,
ÖKO-TEST Nr. 04, April 2012), und welche Schlussfolgerungen ergeben
sich daraus für die Ausgestaltung einer Altersvorsorgepflicht für Selb-
ständige?

10. Welche Erkenntnisse besitzt die Bundesregierung über die Erwerbsverläufe
von Selbständigen, und hat sie begründeten Anlass zur Annahme, dass
Selbständigkeit in der übergroßen Mehrheit so kontinuierlich ausgeübt
wird, dass eine Versicherungspflicht mit Wahlfreiheit des Vorsorgeprodukts
trotz der damit verbundenen Risiken von Mehrfachbelastungen, diskonti-
nuierlichen Versicherungsverläufen und Verfehlung von Wartezeiten u. Ä.
vertretbar erscheint?

11. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über die „Selbständigenkar-
rieren“ von Frauen, insbesondere von Frauen mit Kindern, und warum
strebt sie angesichts der in der Regel Frauen zugutekommenden nur in der
gesetzlichen Rentenversicherung enthaltenen Solidarausgleichsmaßnah-
men nicht eine Pflichtversicherung aller Selbständigen in der gesetzlichen
Rentenversicherung an?

Private Berufs- bzw. Erwerbsunfähigkeitsversicherungen

12. Wie hoch ist die Zahl privater Berufs- bzw. Erwerbsunfähigkeitsversiche-
rungen nach Kenntnis der Bundesregierung aktuell, und wie hat sie sich seit
2001 entwickelt?

Wie viele davon werden von Versicherten der gesetzlichen Rentenversiche-
rung, wie viele von ausschließlich privat Versicherten gehalten?

13. Wie viele Selbständige sind aktuell privat gegen Berufs- bzw. Erwerbsunfä-
higkeit versichert, und wie hat sich diese Zahl seit 1998 entwickelt?

14. Wie hoch waren nach Kenntnis der Bundesregierung die Gewinne der Ver-
sicherungsunternehmen aus privaten Berufs- bzw. Erwerbsunfähigkeitsver-

sicherungen insgesamt sowie jährlich seit 2001?

Drucksache 17/10618 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

15. Welche Erkenntnisse besitzt die Bundesregierung über die Selektion der
privaten Versicherungen bei den Berufs- bzw. Erwerbsunfähigkeitspolicen
nach Risiken, und für wie realistisch hält sie es, dass alle Selbständigen
sich am Markt gegen das Risiko der Berufsunfähigkeit bzw. Erwerbsmin-
derung zu finanziell tragbaren Prämien versichern können?

16. Wie hoch ist nach Kenntnis der Bundesregierung die Zahl von Personen,
die aufgrund hoher Risiken von den Versicherungsunternehmen nicht ange-
nommen werden und sich daher nicht privat gegen Berufs- bzw. Erwerbs-
unfähigkeit versichern können, insgesamt sowie im Verhältnis zu der Zahl
der Interessenten in den vergangenen zehn Jahren insgesamt sowie jährlich
gewesen?

17. Kann die Bundesregierung bestätigen oder entkräften, dass es sich bei priva-
ten Berufs- bzw. Erwerbsunfähigkeitsversicherungen aufgrund ihrer starken
Risikoselektion um so genannte cash cows der Assekuranzbranche handelt,
also Produkte, mit denen die Versicherer aufgrund starker Selektions-
praktiken und restriktiver Policierung große Gewinne machen können?

18. Wie hoch ist nach den vorliegenden Erkenntnissen die Spannbreite der Prä-
mienhöhe bei privaten Berufs- bzw. Erwerbsunfähigkeitsversicherungen
nach Berufsgruppen sowie nach Vorerkrankungen bzw. erhöhten gesund-
heitlichen Risiken?

19. Wie stark (in Prozent des Nettoeinkommens) werden nach Kenntnis der
Bundesregierung die unteren und mittleren Lohngruppen durch die Prä-
mien für eine private Berufs- bzw. Erwerbsunfähigkeitsversicherung belas-
tet, und hält die Bundesregierung eine Belastung von 12 Prozent etwa bei
einem Dachdecker oder einer Friseurin (vgl. Florian, Frank-Henning: Wie
lässt sich das Invaliditätsrisiko in der zweiten Säule der Alterssicherung ab-
decken?, in: Deutsche Rentenversicherung 1/2012, S. 32) für vertretbar?

20. Wie und wie häufig werden nach Kenntnis der Bundesregierung den Versi-
cherten in privaten Berufs- bzw. Erwerbsunfähigkeitsversicherungen Zu-
rechnungszeiten analog denen der gesetzlichen Rentenversicherung zuer-
kannt, und wird damit die Berufs- bzw. Erwerbsunfähigkeit auch im Alter
hinreichend abgesichert?

Auf welchem anderen Weg werden nach Kenntnis der Bundesregierung die
Versicherten ggf. im Rahmen privater Berufs- bzw. Erwerbsunfähigkeits-
versicherungen im Alter abgesichert?

21. Wie hoch ist nach Kenntnis der Bundesregierung der Anteil positiv be-
schiedener Anträge an allen gestellten Anträgen auf Leistungen aus priva-
ten Berufs- bzw. Erwerbsunfähigkeitsversicherungen seit 2001 (bitte abso-
lute Zahlen und Anteile ausweisen)?

22. Wie hoch ist nach Kenntnis der Bundesregierung die Ablehnungsquote bei
den privaten Versicherern im Vergleich zu der Quote bei den Erwerbsmin-
derungsrenten der gesetzlichen Rentenversicherung?

23. Kann die Bundesregierung Berichte bestätigen oder entkräften, nach denen
bei privaten Berufs- bzw. Erwerbsunfähigkeitsversicherungen nur jeder
400. Versicherte überhaupt Leistungen erhält (Frontal21 vom 21. Februar
2012), obwohl in Deutschland jede/jeder fünfte Erwerbstätige irgendwann
im Lebenszyklus erwerbsunfähig wird?

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24. Wie ist das Gutachterwesen nach Kenntnis der Bundesregierung bei priva-
ten Berufs- bzw. Erwerbsunfähigkeitsversicherungen gestaltet, wie die Un-
abhängigkeit der Gutachter und die Unparteilichkeit des Begutachtungs-
ergebnisses gesichert?

Welchen Weg müssen die Versicherten beschreiten, um ihre Ansprüche ggf.
gerichtlich durchzusetzen?

Wie lang dauern nach Kenntnis der Bundesregierung rechtliche Auseinan-
dersetzungen üblicherweise, und mit welchen Kosten für die Versicherten
sind sie üblicherweise verbunden?

25. Wie bewertet die Bundesregierung Inkongruenzen zwischen gesetzlicher
und privater Versicherung vor dem Hintergrund einer Entscheidung des
Landgerichts Bielefeld (Az. 1 O 115/07), nach der eine Person, die von der
gesetzlichen Rentenversicherung eine Rente wegen Erwerbsminderung be-
zieht, nicht automatisch als berufsunfähig betrachtet und eine entspre-
chende Rente von seiner privaten Versicherung (vgl. Ihre-Vorsorge.de vom
23. August 2012) bekommt, und welchen Synchronisationsbedarf sieht sie,
damit die Betroffenen nicht in Regelungslücken fallen?

26. Inwiefern hält es die Bundesregierung für notwendig, die rechtliche Aus-
gangslage von Berufs- bzw. Erwerbsunfähigkeitsversicherten, die ihre An-
sprüche gegenüber den Versicherungsunternehmen geltend machen wollen,
zu verbessern, und wie will sie ggf. agieren, um dies zu erreichen?

27. Warum hat die Bundesregierung das im Koalitionsvertrag („Wachstum, Bil-
dung, Zusammenhalt“, Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP,
17. Legislaturperiode, S. 75/124 Rn. 3759-3764) formulierte Vorhaben das
Erwerbsminderungsrisiko ergänzend über die staatlich geförderte – betrieb-
liche und private – Vorsorge abzusichern, nicht in die Praxis umgesetzt?

28. Wann, mit wem und mit welchem Ergebnis wurden die Möglichkeiten, die-
sen Ansatz umzusetzen, eruiert, und aus welchen Gründen wurde der Plan
ggf. verworfen?

Berlin, den 6. September 2012

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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