BT-Drucksache 17/10576

Zwangsbehandlungen in Deutschland

Vom 28. August 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/10576
17. Wahlperiode 28. 08. 2012

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Dr. Martina Bunge, Dr. Ilja Seifert, Diana Golze,
Matthias W. Birkwald, Heidrun Dittrich, Ulla Jelpke, Katja Kipping,
Yvonne Ploetz, Dr. Petra Sitte, Frank Tempel, Halina Wawzyniak, Harald
Weinberg, Sabine Zimmermann und der Fraktion DIE LINKE.

Zwangsbehandlungen in Deutschland

Freiheit und Selbstbestimmung des Menschen sind ein hohes Gut und nicht
voneinander zu trennen. Bei psychisch erkrankten Menschen können mit der
Begründung zu erwartender Fremd- oder Eigengefährdung elementare Men-
schen- sowie Bürgerinnen- und Bürgerrechte auf Freiheit und Selbstbestim-
mung eingeschränkt oder entzogen werden. Die Frage, ob oder unter welchen
Umständen ein Entzug der Freiheit und Selbstbestimmung stattfinden darf und
wann er rechtmäßig ist, wird aus verschiedenen Perspektiven kontrovers disku-
tiert und unterschiedlich beantwortet. Zum einen gilt es, Menschen mit seeli-
schen Leiden optimale Versorgung und Hilfe zu gewähren. Bürgerinnen und
Bürger haben einen Anspruch auf Schutz vor Gewalt auch durch unzurech-
nungsfähige Gewalttätige. Auf der anderen Seite berührt der Entzug der Freiheit
für Menschen, die keine Straftat begangen haben, sondern nur unter Umständen
sich selbst oder eventuell andere gefährden könnten, die Grenzen der Rechts-
staatlichkeit. Die Behandlung unter Zwang stellt für die Betroffenen einen enor-
men Eingriff in das Recht auf Selbstbestimmung dar und wird zudem als beängs-
tigende Bedrohungssituation wahrgenommen. Vor diesem Hintergrund hat das
Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 23. März 2011 (2 BvR 882/09)
die Regelungen zur Zwangsbehandlung im Maßregelvollzugsgesetz von Baden-
Württemberg für unzureichend erklärt. Inzwischen hat sich in der Rechtspre-
chung der Betreuungsgerichte die Auffassung durchgesetzt, dass diese Entschei-
dung des Bundesverfassungsgerichts auch über Baden-Württemberg sowie über
den Maßregelvollzug hinaus Anwendung finden muss. Insbesondere gilt es, die
Frage zu beantworten, inwieweit bestehende gesetzliche Regelungen über
Zwangsbehandlungen den vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Anfor-
derungen genügen.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie viele Menschen befinden sich nach Kenntnis der Bundesregierung jähr-
lich gegen ihren (oder ohne ihren) Willen in einer psychiatrischen Einrich-

tung (bitte chronologisch ab dem Jahr 2000 angeben, nach Maßregelvollzug
und allein krankheitsbedingter Unterbringung in psychiatrischen Einrichtun-
gen und nach Bundesländern unterscheiden)?

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2. Wie viele medikamentöse Behandlungen fanden nach Kenntnis der Bundes-
regierung bei psychisch erkrankten Menschen in Deutschland jährlich statt,
ohne dass der Behandelte zugestimmt hat (bitte chronologisch ab dem Jahr
2000 angeben, nach Maßregelvollzug und allein krankheitsbedingter Unter-
bringung in psychiatrischen Einrichtungen und nach Bundesländern unter-
scheiden)?

Bei wie vielen dieser Behandlungen hat die Betreuerin bzw. der Betreuer,
und in wie vielen Fällen eine bevollmächtigte Person der Behandlung stell-
vertretend zugestimmt?

3. Wie viele operative Behandlungen fanden nach Kenntnis der Bundesregie-
rung bei psychisch erkrankten Menschen in Deutschland jährlich statt, ohne
dass der Behandelte zugestimmt hat (bitte chronologisch ab dem Jahr 2000
angeben, nach Maßregelvollzug und allein krankheitsbedingter Unter-
bringung in psychiatrischen Einrichtungen und nach Bundesländern unter-
scheiden)?

Bei wie vielen dieser Behandlungen hat die Betreuerin bzw. der Betreuer
und in wie vielen Fällen eine bevollmächtigte Person der Behandlung stell-
vertretend zugestimmt?

4. Falls es bei den Fragen 1 bis 3 zwischen den Bundesländern stark abwei-
chende Zahlen pro Einwohner geben sollte, wodurch können diese Unter-
schiede erklärt werden?

5. In welchen Bundesländern ist nach Kenntnis der Bundesregierung eine
Zwangsbehandlung bei einwilligungsfähigen Patientinnen/Patienten bzw.
Insassinnen/Insassen nach den Landesgesetzen möglich?

Unter welchen Umständen und Voraussetzungen ist dies jeweils möglich?

6. In welchen Bundesländern ist nach Kenntnis der Bundesregierung eine
Zwangsbehandlung bei einwilligungsunfähigen Patientinnen/Patienten
bzw. Insassinnen/Insassen nach den Landesgesetzen möglich?

Unter welchen Umständen und Voraussetzungen ist dies jeweils möglich?

7. Welchen Handlungsbedarf sieht die Bundesregierung zur Veränderung der
jeweiligen Landesgesetze zur unfreiwilligen Unterbringung bzw. unfreiwil-
ligen Behandlung und zum Maßregelvollzug nach dem Urteil des Bundes-
verfassungsgerichts vom 23. März 2011 (2 BvR 882/09)?

8. Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung insbesondere aus
dem Absatz 61 des Urteils vom 23. März 2011, in dem das Gericht erklärt,
dass es bei einer Zwangsbehandlung an einem deutlich feststellbaren Über-
wiegen des Nutzens regelmäßig fehlen dürfte?

9. Welche validen Daten liegen der Bundesregierung über den festgestellten
Nutzen von Zwangsbehandlungen vor, und wie verhält sich die Erfolgsquote
zwangsbehandelter Betroffener gegenüber den nicht zwangsbehandelten
Betroffenen?

10. Wie häufig kann nach Kenntnis der Bundesregierung durch eine Zwangsbe-
handlung eine Eigen- oder eine Fremdgefährdung verhindert werden?

Welche Vergleichsstudien liegen dazu vor?

11. Welche Informationen liegen der Bundesregierung zu möglichen trauma-
tischen Folgen von Zwangsbehandlungen vor?

Wie häufig werden traumatische Folgen dokumentiert?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/10576

12. Welche verfassungsrechtlichen Anforderungen und Möglichkeiten sieht die
Bundesregierung für eine einheitliche Ausgestaltung eines Unterbringungs-
gesetzes auf Bundesebene, ausgehend vom Urteil des Bundesverfassungs-
gerichts im Lichte von Artikel 12 und 14 der UN-Behindertenrechtskonven-
tion (bitte begründen)?

13. Teilt die Bundesregierung die Einschätzung, dass im Lichte des Artikels 12
Absatz 4 der UN-Behindertenrechtskonvention allenfalls eine Behandlung
einer/eines Betroffenen ohne deren/dessen Willen, nicht aber gegen deren/
dessen Willen menschenrechtskonform wäre (bitte begründen)?

14. Wie bewertet die Bundesregierung in diesem Zusammenhang die Gesetz-
gebungskompetenz des Bundes bezüglich Artikel 74 Absatz 1 Nummer 7
der UN-Behindertenrechtskonvention im Bereich der „öffentlichen Für-
sorge“, insbesondere vor dem Hintergrund, dass Artikel 12 in Verbindung
mit Artikel 25 der UN-Behindertenrechtskonvention eine zwangsweise
Fürsorge gegen den Willen der/des Betroffenen untersagt?

15. Welchen Handlungsbedarf sieht die Bundesregierung für die Entwicklung
von der UN-Behindertenrechtskonvention gemäßen Kriterien, um bei Pa-
tientinnen und Patienten eine krankheitsbedingte Unfähigkeit zur Einsicht
in die Notwendigkeit der Behandlung festzustellen und nicht nur vermuten
zu lassen?

16. In welchen Gruppen psychischer Erkrankungen sind nach Kenntnis der
Bundesregierung welche spezifischen Gefährdungen und Straftaten in wel-
chem Umfang statistisch belegt?

Wie verhält sich die Anzahl von Straftaten psychisch erkrankter Menschen
zu den nicht psychisch beeinträchtigten Menschen?

17. Sieht die Bundesregierung nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts
vom 23. März 2011 (2 BvR 882/09) die Notwendigkeit, Änderungen bezüg-
lich der Rechte und Pflichten der Betreuerinnen und Betreuer in Fällen der
psychiatrischen Behandlung vorzunehmen (bitte begründen)?

Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus der Forderung
nach Aufhebung des § 1906 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) des Bun-
desverbandes für Psychiatrieerfahrene?

18. Unter welchen Umständen ist eine zwangsweise Unterbringung zur Unter-
suchung des Gesundheitszustandes einer/eines Betreuten nach § 1906 BGB
statthaft?

Wie groß muss der gemutmaßte Nutzen für die/den Betreuten sein?

Betrifft dies auch Vorsorgeuntersuchungen?

19. Wie viele nicht betreute Menschen verweigern nach Kenntnis der Bundes-
regierung eine ärztliche Untersuchung, die bei einer/einem Betreuten
Grundlage für eine Zwangsunterbringung sein kann?

Ist die Weigerung, an sinnvollen Gesundheitsuntersuchungen teilzuneh-
men, bei Betreuten häufiger als im Durchschnitt der Bevölkerung?

20. Unter welchen Umständen ist eine zwangsweise Unterbringung zur Heil-
behandlung oder für einen ärztlichen Eingriff einer/eines Betreuten nach
§ 1906 BGB statthaft?

Wie groß muss der gemutmaßte Nutzen für die/den Betreuten sein?

Drucksache 17/10576 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
21. Wie viele nicht betreute Menschen verweigern nach Kenntnis der Bundes-
regierung eine ärztliche Untersuchung, die bei einer/einem Betreuten
Grundlage für eine Zwangsunterbringung sein kann?

Ist die Verweigerung sinnvoller Heilbehandlungen oder ärztlicher Eingriffe
bei Betreuten höher als im Durchschnitt der Bevölkerung?

22. Ist eine medikamentöse oder operative Zwangsbehandlung in einer psychia-
trischen Einrichtung rechtmäßig, wenn eine Patientenverfügung dieser aus-
drücklich widersprochen hat (bitte begründen)?

Wie verhält sich dies im Maßregelvollzug?

23. Sieht die Bundesregierung nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts
vom 23. März 2011 (2 BvR 882/09) Klarstellungsbedarf bei der Patienten-
verfügung (bitte begründen)?

Soll die betreuende Person auch zukünftig gegen den aktuellen Willen der/
des Betreuten einer Zwangsbehandlung aufgrund eines gemutmaßten Wil-
lens der/des Betreuten zustimmen können?

Soll auch zukünftig der Patientenwille in einem Gespräch zwischen Ärztin/
Arzt und betreuender Person ermittelt werden können, obwohl die/der Be-
treute einen eigenen Willen bekundet (bitte begründen)?

Berlin, den 28. August 2012

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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